Hamburg. Früher gerade gut genug als Viehfutter, wird das Gemüse heute wegen vieler Eigenschaften gefeiert. Wie der Kohl so beliebt wurde.
Grünkohl ist eine spannende Pflanze mit langer Geschichte und mit viel kulinarischem Potenzial. Das ist kein so dahingeschriebener Satz, sondern Fakt. Journalist und Autor Jens Mecklenburg, der für die Edition „Nordische Esskultur“ unter anderem schon „Mythos Labskaus“ schrieb, versammelt in seinem neuen Buch spannendes Hintergrundwissen und die besten Rezepte für jeden Anlass und Geschmack.
Gemeinsam mit Johanna Rädecke beschreibt Mecklenburg in „Mythos Grünkohl“ (22 Euro, erhältlich im Abendblatt-Shop) die Kulturgeschichte des Kohls und geht näher auf die regionalen Unterschiede in den Grünkohlregionen ein.
Grünkohl gilt mittlerweile als Superfood
Wer in dem Buch blättert, lernt, dass schon die Äbtissin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen (1098–1179) Grünkohl empfahl – als vitalisierendes Gemüse, das die Stimmung verbessert. Heute gilt Grünkohl mit seinem hohen Gehalt an Biostoffen sogar als Superfood und wird als Grundlage deftiger Winteressen in der nördlichen Hälfte Deutschlands – vom Niederrhein bis hoch zu den Nordfriesischen Inseln – hoch geschätzt.
Hierzulande ist der krause Kohl eines der wenigen Lebensmittel, das sowohl im Alltag als auch in der Gastronomie und bei Festen eine wichtige Rolle spielt, für die sich Traditionalisten und Zeitgeistige, Ältere und Jüngere, Frauen und Männer, Land- wie Stadtbevölkerung begeistern können.
Grünkohl schmeckt nicht immer gleich
Ist Grünkohl immer grün und schmeckt immer gleich? Nein. Grünkohl ist divers, in Form, Optik und Geschmack. Zum Glück gibt es Biologen, Landwirte und andere Grünkohlexperten, die den Kohl erforschen, alte Sorten mit viel Potenzial erhalten, neue spannende Sorten züchten und regionale Besonderheiten und Biodiversität im Blick haben. Es gibt weltweit 130 bis 160 verschiedene Sorten Grünkohl, die sich zum Teil deutlich unterscheiden. In dem Buch werden die wichtigsten vorgestellt, sie hören auf so zauberhafte Namen wie Lerchenzunge, Lippische Palme und Winnetou.
Der Biologe Christoph Hahn hat nicht nur kulinarisches Interesse an Grünkohl, sondern er erforscht ihn auch. Dabei schaut er sich vor allem die Inhaltsstoffe und die Fraßfeinde des Kohls genauer an. „Ich esse liebend gern Grünkohl. Dabei kannte ich lange Zeit nur das traditionelle Rezept, gut durchgekocht, fettig, mit Pinkel und Kassler. Mittlerweile schätze ich aber auch moderne Varianten und alternative Rezeptideen. Zum Beispiel, dass man Grünkohl als Smoothie trinken kann.“ Der gebürtige Oldenburger arbeitet am Institut für Biologie und Umweltwissenschaften an der Universität Oldenburg und hat sogar seine Doktorarbeit dem Grünkohl gewidmet.
Grünkohl hat es in die Sterneküche geschafft
In Europa wird der Ursprung des Grünkohls vermutet, er wird außer in Deutschland vor allem in Großbritannien, den skandinavischen Ländern und den Niederlanden angebaut. Mit nordeuropäischen Auswanderern kam er nach Russland und in die USA, wo der Anbau besonders boomt: Kale – so heißt Grünkohl auf Englisch – ist dort Trendprodukt und Marketing-Hit. Und selbst in Afrika, wohin ihn einst die Griechen und Römer brachten, finden sich heute noch Grünkohlrezepte.
Und so hat der Grünkohl in der Ernährungsgeschichte vieler Völker Spuren hinterlassen, da er einfach im Anbau, robust und schmackhaft ist. Wirft man den Blick in die Töpfe, findet man dort ganz unterschiedliche Grünkohlsorten. Manchmal kraus, manchmal glatt. Blasige Blätter, rote Blätter, hoher Strunk, gar kein Strunk – mit der Zeit haben sich je nach Anbaugebiet unterschiedliche Sorten bewährt. Egal, ob in Deutschland oder international, lange galt Grünkohl als Arme-Leute-Gericht. Zuerst kam das Vieh auf den Geschmack, dann die armen Leute, später dann auch das Bürgertum.
Winter ohne Grünkohl kaum vorstellbar
Doch nur in wenigen Regionen wurde der Kohl zu einer echten Spezialität wie in Norddeutschland. Hier ist ein Winter ohne Grünkohl kaum vorstellbar. Die Kohlfahrten zwischen Ems und Elbe ab Januar sind ein gesellschaftliches Ereignis. Der Grünkohlexperte Dr. Martin Westphal – er promovierte über Kohl- und Pinkelfahrten – behauptet gar, sie seien der Karneval des Nordens.
Sich auf die Spuren des Grünkohls zu begeben bedeutet, einer aufregenden Mischung aus botanischer Vielfalt, gelebter Esskultur, Heimatküche und internationalen Trends zu begegnen. Im norwegischen Wikipedia-Eintrag zum Thema findet sich die Information: „Grünkohl eignet sich hervorragend als Viehfutter, zudem kommt er in traditionellen Weihnachtsrezepten vor, als Verzierung und auch als Grünkohlsuppe.“ Immerhin.
Grünkohl war besonders im Krieg beliebt
England dagegen baut reichlich Grünkohl an. Besonders populär wurde er im Zweiten Weltkrieg, als das Ministerium für Landwirtschaft die Bürgerinnen und Bürger dazu anhielt, eigenständig Obst und Gemüse anzubauen. Selbst die Rasenfläche vor dem Tower of London wurde zum Nutzgarten umfunktioniert.
Von der Insel stammt auch die sogenannte Sirtfood-Diät, die vor allem durch die britische Sängerin Adele populär wurde. Dabei spielt der Grünkohl eine zentrale Rolle. Unter anderem auch in Schweden, Schottland und Wales haben Jens Mecklenburg und Johanna Rädecke recherchiert und herausgefunden, dass Grünkohl dort zwar seit Langem bekannt ist, aber sich erst in jüngster Zeit wachsender Beliebtheit erfreut.
Grünkohl wird in den Niederlanden gefeiert
Sterneköche in Irland brillieren dagegen aktuell mit Kalettes, einer neuen Züchtung, einer Mischung aus Grün- und Rosenkohl. Auf Fotos sieht sie aus wie kleine Grünkohlherzen, die an einem Strunk wachsen. In der Normandie hört Grünkohl auf den schönen Namen choux à lapins, Kaninchenkohl, was zeigt, wer damit gefüttert wurde. Auch heute wird er vor allem indirekt verzehrt, also mit den langohrigen Tierchen.
Ganz anders unsere niederländischen Nachbarn: Jedes Jahr Anfang Oktober wird in Leiden ein Fest begangen, das an die Belagerung der Stadt durch die Spanier im Jahr 1574 erinnert. Die Spanier wollten die Stadtbevölkerung damals aushungern, aber ein findiger Knabe erfand einen neuen Eintopf, und der machte alle satt und stark. Die Spanier mussten unverrichteter Dinge abziehen. In diesem Eintopf war natürlich Grünkohl enthalten. Was sonst drinnen war, darüber streiten sich die Gelehrten bis heute, aber dass Grünkohl eine wichtige Zutat war, ist belegt und unbestritten. Auch in Griechenland, Italien und Osteuropa ist der Winterkohl bekannt und weithin geschätzt.
Grünkohl wurde Lieblingsgemüse von Hollywood-Stars
Wie es dazu kam, dass Grünkohl zum Lieblingsgemüse von Hollywood-Stars wie Jennifer Aniston oder Gwyneth Paltrow avancierte, haben Jens Mecklenburg und Johanna Rädecke ebenfalls recherchiert. Oberon Sinclair, eine Geschäftsfrau, die PR-Agenturen in London und New York unterhält, soll schuld daran sein. Im Zuge eines sogenannten Guerilla-Marketings schrieb sie den Kohl kurzentschlossen mit Kreide auf die Aushänge und Speisekarten der Restaurants in den Szenevierteln New Yorks und gründete zur Vermarktung die fiktive American Kale Association.
Und schon war ein Trend geboren. Bevor Sinclair den Grünkohl von seinem verstaubten Image befreite, war in den USA übrigens eine große Pizzakette Hauptabnehmer von Grünkohl. Allerdings hat das Unternehmen die krausen Blätter einzig und allein zur Dekoration von Glasvitrinen eingekauft.
Grünkohl kann sehr unterschiedlich zubereitet werden
Grünkohl ist ein Tausendsassa, überzeugt in den unterschiedlichsten Zubereitungsarten und Aggregatzuständen: vom krossen Snack über Salat, Auflauf und Eintopf, als eleganter Begleiter für Meeresfrüchte und schmackhafter Füllung für Geflügel und Wild bis hin zu Eis und Smoothies. Selbst in der Pasta oder als Falafel macht er Bella Figura – auch als veganes Gericht. Das Autoren-Duo rät: Einfach mal ausprobieren!
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Die in diesem Buch vorgestellten Köchinnen und Köche – vom Sternekoch bis zur Foodbloggerin – haben das gesamte kulinarische Potenzial des Kohls in Rezepte gefasst: von traditionellen bis zu modernen Gerichten, von Salat über Chips bis Pasta und Eis-Dessert. Gekocht mit Fisch und Meeresfrüchten, mit Wurst und Fleisch, aber auch vegetarisch und vegan.
Grünkohl braucht keinen Frost
Auch eine häufig gestellte Frage beantwortet das Buch von Jens Mecklenburg und Johanna Rädecke: Braucht Grünkohl Frost? Nein, braucht er nicht. Allerdings spielt der Faktor Temperatur in der Tat eine entscheidende Rolle beim Geschmack. Mit kälter werdenden Tagen produziert die Pflanze mehr Zucker, als sie für ihren Stoffwechsel verbraucht, und speichert ihn in ihren Blättern. Dies passiert, sobald die Temperaturen unter 10 Grad Celsius fallen. Der verlangsamte Stoffwechsel und die weiterhin aktive Zuckerproduktion durch die Fotosynthese führen zu einer Anreicherung.