Hamburg. Pieter Wasmuth hat eine einzigartige Karriere in der deutschen Energiewirtschaft hingelegt. Wie er die aktuelle Lage bewertet.
Pieter Wasmuth beschäftigt sich Zeit seines Lebens mit Energiefragen. Der 56-Jährige war Manager bei Shell, Vorstand beim Windanlagenbauer Repower Systems, schließlich bis vor drei Jahren Generalbevollmächtigter bei Vattenfall Europe. Als Gründungspartner von Company Partners berät der gebürtige Hamburger zahlreiche Unternehmen.
Herr Wasmuth, kommen wir gut durch den Winter?
Pieter Wasmuth: Das hängt vom Winter ab. Zum jetzigen Zeitpunkt kann es niemand versprechen. Noch im Juli hat uns Wirtschaftsminister Habeck erklärt, wir hätten keine Stromkrise. Das war schon damals falsch: Denn Deutschlands Strategie beruhte darauf, aus Kohle und Atom auszusteigen und im großen Stil Gas zu verstromen. Deshalb wurde Nord Stream 2 gebaut und politisch gegen alle Warnungen durchgesetzt.
Der eine Winter hat gerade erst begonnen, da warnen manche Experten schon vor dem kommenden 2023/2024. Sind wir derzeit im Panikmodus?
Wasmuth: Leider nein. Der nächste Winter wird bestimmt nicht leichter – denn über Nord Stream 1 fließt anders als bis Juni kein Gas mehr. Wir bauen jetzt die LNG-Terminals, die übrigens mit sechs Milliarden Euro doppelt so teuer werden wie geplant. Aber mit den Terminals haben wir noch nicht automatisch Gas. Das bleibt ein Kostenthema. Schon jetzt warten die LNG-Tanker lieber auf dem Meer, weil die Verkäufer auf höhere Gaspreise hoffen. Flüssiggas ist auf dem Weltmarkt ein knappes Gut. Wir sollten nicht darauf setzen, dass das Gas bald günstiger wird. Dementsprechend wird es sicherlich nicht leichter, im Sommer 2023 die Speicher wieder aufzufüllen.
Immerhin bremst die Bundesregierung die Preise.
Wasmuth: Der Doppelwumms in Höhe von 200 Milliarden Euro hilft nur vorübergehend. Wir können keine Volkswirtschaft mit 84 Millionen Menschen dauerhaft subventionieren. Das geht weder ökonomisch noch politisch.
Deutschland kann sich das leisten ...
Wasmuth: Es wird immer wieder betont, dass Deutschland ein reiches Land ist. Das stimmt auch. Aber niemand fragt, warum wir ein reiches Land geworden sind. Wir haben keine Bodenschätze, es aber geschafft, begehrte Produkte herzustellen und international zu verkaufen. Wir sind sehr stark von unserer Industrie abhängig, unser Wirtschaftsmodell funktionierte mit billiger Energie, etwa durch den industriellen Einsatz von Gas. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich die Wirtschaftsleistung vervielfacht, der Verbrauch von Primärenergie der deutschen Industrie ist zugleich um 21 Prozent zurückgegangen. Wir haben immer mehr Wertschöpfung mit immer weniger Energieeinsatz erreicht. Das ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die nun in Gefahr gerät. Wenn wir diese effiziente Industrie aus Deutschland verdrängen, wird anderswo vermutlich mit höherem CO2-Ausstoß produziert werden. Die De-Industrialisierung mag unsere nationale Klimabilanz aufhübschen und manche sogar erfreuen – für das Weltklima aber wäre sie verheerend. Heute sind wir die drittgrößte Wirtschaftsnation, sind aber nicht einmal für zwei Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich.
Sehen Sie das deutsche Erfolgsmodell wirklich in Gefahr?
Wasmuth: Leider ja. Der deutsche Wohlstand gründet auf energie- und industrieintensiven Unternehmen. Die großen Konzerne können die Kostenexplosion vielleicht wegstecken und ihre Produktion verlagern. Aber der deutsche Mittelstand stirbt bereits, die verantwortungsvollen Familienunternehmer können nicht beliebig ausweichen. Sollten sie aufgeben oder scheitern, droht ein schwerer Verlust für unser Land und unsere Gesellschaft. Denn die politische Stabilität hängt von dieser Mitte der Gesellschaft ab, die mäßigend auf radikale Kräfte wirkt. Auch für den Klimaschutz benötigen wir eine funktionierende Industrie – sie kann am ehesten die Produkte und Prozesse entwickeln, die nachhaltig sind.
Zuletzt mehrten sich die Zeichen der Hoffnung – der ifo-Geschäftsklimaindex steigt, die Preise für Gas liegen deutlich unter ihren Höchstständen aus dem Sommer ...
Wasmuth: Aber ist das nachhaltig? Gas bleibt ein knappes Gut, die Preise sind ja auch deshalb gefallen, weil wir durch das Einspeichern die Preise zuvor selbst in die Höhe getrieben hatten. Die Speicher reichen nicht für den ganzen Winter, deshalb könnten die Preise bald wieder steigen. Das sind einfache Marktprozesse. Eine grundsätzliche Entspannung gibt es erst, wenn das Angebot wächst. Davon ist hierzulande nichts zu spüren. Norwegen wird nur neue Gasfelder erschließen, wenn wir langfristige Lieferverträge eingehen – die aber will die deutsche Politik nicht, weil sie aus fossilen Quellen aussteigen möchte. Auch der Nutzung eigener Gasreserven verweigern wir uns, aber kaufen stattdessen Frackinggas aus der ganzen Welt. Dabei wurde das Fracking 1961 in Deutschland erfunden. Das kategorische Verbot mag Teil einer Strategie gewesen sein, Gas in Russland zu kaufen. Diese Strategie ist krachend gescheitert. Jetzt setzen wir auf Flüssiggas. Aber ist Fracking in den USA für das Klima besser? Ganz im Gegenteil. Der Energiebedarf beim Verflüssigen ist sehr hoch, der CO2-Abdruck viel größer. Wir verfolgen keine nachhaltige Strategie. Und für den Wirtschaftsstandort ist Flüssiggas eigentlich zu teuer.
Niemand erwartet, dass die Preise beim Strom wieder auf die alten Stände von 20 Euro pro Megawattstunde fallen ...
Wasmuth: Nein, diese Zeiten sind vorbei – und die Kosten müssen wir tragen. Deshalb müssen wir ernsthaft prüfen, wie wir das Angebot ausbauen. So viel ist klar: Aus Nächstenliebe werden die Franzosen für uns keine neuen Atomkraftwerke bauen, das werden sie sich teuer bezahlen lassen.
Sollte Russland zur Vernunft kommen – sind die sabotierten Nordstream-Gasröhren überhaupt zu reparieren?
Wasmuth: Eine der Röhren scheint noch intakt zu sein. Ich bin kein Technikexperte für Unterseepipelines, aber in die Leitungen dürfte Salzwasser eingedrungen sein. Man müsste sie schnell reparieren, um sie weiter nutzen zu können. Wenn das nun Jahre dauert, müsste man vermutlich die Pipeline neu bauen. Und dann stellt sich ohnehin die Frage, ob wir noch jemals Gas aus Russland beziehen können.
Ein Argument, noch konsequenter in erneuerbare Energien und den Ausbau der Netze zu investieren.
Wasmuth: Der Zubau der Erneuerbaren Energien geht aber nicht über Nacht. Wir müssen ihn beschleunigen, aber da gilt es, viele Widerstände zu überwinden. Zudem gibt es Grenzen des Ausbaus – wir haben nicht einmal genug Handwerker, um die Windanlagen, Solaranlagen oder Wärmepumpen zu installieren. Und die Gesetze der Physik gelten trotz aller Anstrengungen: Der Wind weht nicht immer, die Sonne scheint nicht immer. Das kann jeder jeden Tag im Internet auf Stromkarten genau nachverfolgen. Dann müssen konventionelle Kraftwerke oder das Ausland einspringen. Das ist auch der Grund, warum der Anteil an konventionellem Strom nicht wesentlich abgenommen hat.
Meine Fotovoltaikanlage produziert im Winter gerade noch zwei Kilowattstunden täglich – lohnt sich Solarstrom in Norddeutschland überhaupt?
Wasmuth: Wenn wir unser Ziel national erreichen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig. Global betrachtet ist Solarenergie hierzulande weniger klug, wir liegen geografisch auf der Höhe von Alaska. Viele Monate lässt sich hier wenig erzeugen, weil die Sonne zu tief steht und die Tage kurz sind. Im Sommer ist es umgekehrt, aber leider benötigen wir den Strom gerade im Winter. Fotovoltaik nahe dem Äquator liefert viel verlässlicher Strom.
Wenn wir Versorgungssicherheit wollen, brauchen wir dann Atomkraft?
Wasmuth: In den kommenden Jahren auf jeden Fall. Es wird immer betont, die drei Atomkraftwerke lieferten nur zwei Prozent der Energie – bezogen auf den gesamten Energieverbrauch ist das richtig. Bezogen auf den Stromverbrauch liegt der Anteil hingegen bei fast zehn Prozent. Nun laufen die Meiler zumindest bis zum 15. April weiter. Aber das Problem ist Mitte April nicht gelöst; diese Debatte wird sicherlich wieder aufkommen. Derzeit kaufen wir ständig Atomstrom im Ausland hinzu. Ich verstehe, dass der Ausstieg in Deutschland eine besondere Geschichte hat, aber können wir 84 Millionen Menschen Rücksicht auf die Befindlichkeiten von 130.000 Grünen-Mitgliedern nehmen lassen? Das ist im Übrigen auch eine Frage des Klimaschutzes: Wir haben nun wieder viele Kohlekraftwerke ans Netz gebracht und aktuell eine der schlechtesten Klimabilanzen in Europa. Mit unserem derzeitigen Energiemix ist Elektromobilität schmutziger als ein Diesel, weil die CO2-Last größer ist. Das mag sich eines Tages ändern, jetzt aber ist es so.
Wir stellen unsere Energieversorgung gleich doppelt um – einerseits hin zu regenerativen Quellen, andererseits auch dadurch, dass Verkehr und Wärmeversorgung elektrifiziert werden sollen.
Wasmuth: Darin liegt ein Problem – die Politik gibt die Technik vor, statt ein Ziel zu definieren. Vielleicht gibt es ökonomischere und klimafreundlichere Lösungen als Wärmepumpe und E-Motor? Nur ein Beispiel: Beim Lithium begeben wir uns in die nächste Abhängigkeit: Eine Tonne Lithium kostet auf dem Weltmarkt aktuell 82.000 Dollar, das Angebot ist begrenzt, und Lithium lässt sich auch nicht synthetisch herstellen. Dummerweise stecken in jedem E-Auto schon in der Batterie bis zu 30 Kilo Lithium. Das ist unökologisch und unökonomisch. Wir binden das seltene Lithium in Fahrzeugen, die wir vielleicht einmal pro Woche laden, statt in permanent genutzten Speichern. Das ist Ressourcenverschwendung.
Der knappe Strom wird noch knapper, weil nicht nur das Angebot fehlt, sondern auch die Nachfrage steigt.
Wasmuth: Derzeit verbrauchen wir rund 520 Terawattstunden. Wenn wir zunehmend auf Verstromung setzen, benötigen wir 2030 Prognosen zufolge 658 Terawattstunden. Derzeit haben wir schon Probleme zu ersetzen, was wir abschalten wollen. Wenn wir dann noch unsere Stahlindustrie mit einer Jahresproduktion von 25 Millionen Tonnen mit grünem Wasserstoff dekarbonisieren wollen, benötigen wir davon zwei Millionen Tonnen. Für die Erzeugung dieser Menge Wasserstoff benötigen wir nahezu exakt die Energie, die heute alle Windanlagen in Deutschland produzieren. Unsere Zubau-Szenarien funktionieren nicht, weil sie die Umwandlung der Industrie nicht berücksichtigen.
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Woher kommt dann in Zukunft der Strom in Deutschland? Die Brücke Gas, die wir ins nachfossile Zeitalter gebaut haben, ist eingestürzt.
Wasmuth: Eine Brücke, nämlich unsere eigenen Gasvorkommen, steht ja noch. Und wir müssen die Energieversorgung europäisch denken – oder sogar darüber hinaus. Da spielt Fotovoltaik eine zentrale Rolle, weil sie am wenigsten Ressourcen verbraucht. Japan etwa will große Flächen in Nordaustralien pachten, dort Fotovoltaikanlagen installieren und per Elektrolyse Wasserstoff erzeugen. Das wäre auch ein Modell für Südeuropa und Nordafrika, um dort die Lebenssituation zu verbessern. Vor Ort könnte man mit dem Strom Meerwasser entsalzen, mit dem Süßwasser Wasserstoff produzieren und Landwirtschaft ermöglichen: Man könnte zugleich in Europa CO2 abscheiden und nach Afrika exportieren – damit ließe sich synthetisches Erdgas oder synthetisches Benzin herstellen. Das ist einfache Chemie. Solarzellen im Süden bringen mehr als Windräder in Bayern. Das ist Physik. Wahrscheinlich wären die Milliarden, die wir jetzt in den Doppelwumms stecken, dort nachhaltiger angelegt. Das ist Mathematik.
Stichwort Chemie, Stichwort Physik: Hat Deutschland am Ende ausgerechnet hier ein Verständnisproblem?
Wasmuth: Das kann man so sehen. Wir haben nicht nur eine Chemie- und Physikschwäche, sondern diskutieren lieber Meinungen als Fakten. In der Energiedebatte spielen physikalische Gesetze gar keine Rolle mehr. Wir betrachten den Strom inzwischen bilanziell. Jedes Unternehmen, jeder Verbraucher kann „individuell“ ergrünen wie die Deutsche Bahn. Ich kann zwar meinen ganzen Strombedarf grün einkaufen, wann und wo dieser aber produziert wird und ob der Strom im richtigen Moment verfügbar ist, wird nicht hinterfragt. Versorgungssicherheit ist zwingend an die Physik gebunden. Wenn wir uns nicht an diese Naturgesetze halten, werden wir scheitern.