Hamburg/Berlin. Fünf Bürgermeister waren vor ihm Präsidenten der Länderkammer – in den Antrittsreden ging es auch mal heftig zur Sache.
Grundsätzliche, aufrüttelnde und wegweisende Reden können Hamburger Bürgermeister vor der Bürgerschaft halten. Dafür gibt es die Einrichtung der Regierungserklärung. Kaum ein Senatspräsident lässt auch die Gelegenheit aus, vor dem Übersee-Club seine politischen Ziele und Ideen abzustecken und in einem größeren Zusammenhang darzustellen.
Doch diese Foren bleiben zumindest zunächst einmal, was Sichtbarkeit und Wirkung angeht, auf den Stadtstaat beschränkt. Die Möglichkeiten zum rhetorischen Fanfarenstoß, der bundesweit Aufmerksamkeit erringt, sind für Hamburger Bürgermeister sehr begrenzt.
Tschentscher gibt seine politische Visitenkarte vor dem Bundesrat ab
Eine Ausnahme bildet die Antrittsrede des Regierungschefs vor dem Bundesrat, wenn er turnusgemäß für ein Jahr zu dessen Präsidenten gewählt ist. Es gilt als ungeschriebenes Gesetz, dass die Gewählten bei dieser Gelegenheit ihre politische Agenda vorstellen. Bei früher elf und seit der Wiedervereinigung 1990 dann 16 Ländern erfährt allerdings nur eine Minderheit der Bürgermeister diese Ehre und Chance.
Peter Tschentscher (SPD) – seit dem 1. November Präsident der Länderkammer – hat am Freitagmorgen seine politische Visitenkarte vor dem Bundesrat abgegeben, was seinem Amtsvorgänger, dem heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), übrigens verwehrt blieb.
Bisher war Tschentscher nicht als großer Mutmacher aufgefallen
Tschentscher kam in seiner zwölfminütigen Rede nicht umhin, die großen aktuellen Krisen und Herausforderungen in den Mittelpunkt zu stellen: den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit seinen gravierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, die nicht völlig überwundene Corona-Pandemie, den Klimaschutz oder die Digitalisierung.
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Aber der Hamburger Bürgermeister beließ es nicht bei der Schilderung der Probleme und Belastungen, er zog rhetorisch geschickt einen anderen Schluss, wenn es auch nicht gerade ein Fanfarenstoß war.
„Darauf kommt es gerade in Zeiten von Krisen und Umbrüchen an: Neue Wege zu gehen, neue Chancen zu erkennen und zu ergreifen. Fortschritt und Veränderung brauchen Kraft und Motivation, und das hat auch etwas mit Psychologie und einem positiven ,Mindset‘ zu tun“, sagte Tschentscher, der bislang nicht als großer Mutmacher aufgefallen ist.
Der Bürgermeister empfiehlt Hamburg als gutes Beispiel
Nicht ganz zufällig empfahl der Bürgermeister Hamburg als gutes Beispiel – „die alte Stadtrepublik, deren Hauptanliegen in ihrer über Jahrhunderte langen Geschichte vor allem darin bestand, sich möglichst herauszuhalten aus den Konflikten und der wechselvollen Geschichte Deutschlands und Europas“, wie Tschentscher anmerkte.
„Die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung, für Wachstum und Wohlstand, für ein gutes Leben der Bürgerinnen und Bürger war stets die Bereitschaft, mit der Zeit zu gehen, immer wieder neue Wege einzuschlagen und Bündnisse zu schließen mit guten Partnern nah und fern, zum Beispiel der Bund der Hanse, die gleichsam ein historisches Vorbild für heutige Freihandelsabkommen ist“, sagte der Bürgermeister.
Zum vierten Mal in Folge sei Hamburg als „smarteste Stadt Deutschlands“ ausgezeichnet worden. „Ja, die Digitalisierung ist auch etwas Positives. Sie schafft völlig neue Möglichkeiten für Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie macht das Leben einfacher und setzt Ressourcen frei, die wir in anderen Bereichen dringend brauchen“, sagte der Bundesratspräsident und setzte sein beinahe frohgemutes Fazit hinzu: „Kluge Digitalisierung ist keine Last, sondern eine Befreiung.“
Tschentscher: „Ich möchte nicht als Kopie von Frau Merkel dastehen“
Hamburg wolle mit seinem Motto für die Präsidentschaft – „Horizonte öffnen“ – genau diese positive Grundhaltung den Problemen gegenüber vermitteln. In einem Gespräch mit Journalisten am Rande der Bundesratssitzung wurde Tschentscher noch deutlicher. „Optimistische Stimmung ist nicht unrealistisch. Wer, wenn nicht wir Hamburgerinnen und Hamburger, soll diese Botschaft überbringen? Diesen bescheidenen Anspruch haben wir, und wir haben nicht viel zu verlieren. Schlechte Stimmung kommt von allein“, sagte Tschentscher.
Seine persönliche „Ruck“-Rede wollte der SPD-Politiker aber nicht mit dem berühmten „Wir schaffen das“ der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts der Flüchtlingskrise 2015 verglichen wissen. „Ich möchte nicht als Kopie von Frau Merkel dastehen“, sagte Tschentscher.
Lieber bezog sich der Bürgermeister in seiner Rede auf einen anderen ehemaligen Kanzler, einen Sozialdemokraten. „Die aktuellen Probleme erscheinen uns immer als die größten. Doch krisenhafte Zeiten mit großen Bedrohungen und Risiken gibt es in der Geschichte der Bundesrepublik nicht zum ersten Mal“, sagte Tschentscher und erinnerte an die Zeit des Kalten Krieges und der atomaren Hochrüstung in Ost und West, die Ölkrisen und den Terror der RAF in den 70er- und 80er-Jahren.
Tschentscher zitiert Helmut Schmidt
Tschentscher zitierte den Hamburger Helmut Schmidt, der in einer Regierungserklärung damals sagte: „Wir sind nicht Objekte der Geschichte. Wir sind handlungsfähig – und wir sind handlungswillig.“ Bezogen auf die heutige Lage fügte Tschentscher hinzu: „Wir haben alles, um unseren Kurs selbst zu bestimmen: Stärke und Ideen aus der Vielfalt unseres Landes, die Potenziale des technischen und sozialen Fortschritts und gute Partner in der Welt.“
Vor Tschentscher waren nur fünf Hamburger Erste Bürgermeister während ihrer Amtszeit Präsidenten des Bundesrates: Kurt Sieveking (CDU) 1956/57, Herbert Weichmann (SPD) 1968/69, Hans-Ulrich Klose (SPD) 1979/80, Henning Voscherau (SPD) 1990/91 und Ole von Beust (CDU) 2007/08. Letzterer nutzte den Spielraum dieses offenen Formats und hielt die unkonventionellste Antrittsrede von allen.
„An dieser Stelle müsste jetzt eigentlich meine politische Agenda als Bundesratspräsident kommen: Das ist so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz in diesem Haus“, sagte der CDU-Politiker zum Beginn seiner Rede am 9. November 2007. „Themen gibt es genug: Klimaschutz, Kinderbetreuung, Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Stellenwert des Föderalismus und, und, und. Ich möchte aber über etwas anderes reden, und zwar über uns: die Politiker.“
Ole von Beust hielt die unkonventionellste Antrittsrede von allen
Was folgte, war eine überaus selbstkritische Einschätzung des Ansehens der Politikerinnen und Politiker in der Bevölkerung. Am Beispiel der Inflation – auch damals ein Thema – und der Einführung des Euro, den viele Menschen als „Teuro“ erlebten, wie von Beust sagte, versuchte er zu ergründen, wie das „Missverhältnis von Vertrauen und Misstrauen“, die „eingetretene Entfremdung“ zwischen den Bürgern und den Politikern entstanden sei.
Ein durchaus auch aktueller Befund. Die gewählten Volksvertreter neigten zum Beispiel dazu, so von Beust, mit Statistiken gegen die angeblich nur „gefühlte Inflation“ zu argumentieren. Nach dem Motto: In der Gesamtbetrachtung und im Durchschnitt aller Güter und Leistungen ist die Teuerungsrate nach dem Verbraucherpreisindex eigentlich moderat ...
Von Beust redete Klartext in dem Hohen Hause
Von Beust zog eine andere Schlussfolgerung und redete Klartext in dem Hohen Hause. „Die politische Wahrheit liegt nicht in Kennzahlen und PowerPoint-Präsentationen des Statistischen Bundesamtes oder der Bewertung der Chefvolkswirte großer Institute. Die politische Wahrheit liegt einzig und allein in der Wahrnehmung der Menschen“, stellte der Bundesratspräsident ziemlich radikal fest. Beifall verzeichnet das Plenarprotokoll an dieser Stelle nicht.
Von Beusts Ratschlag, wie der Misere zu begegnen sei, blieb dann allerdings doch sehr allgemein: „Gute Politik erkennt man an ihrer Alltagstauglichkeit, an der Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, an dem Eingeständnis, in Zeiten der Globalisierung nicht alles regeln zu können, sondern manches auch enttäuscht hinnehmen zu müssen.“ Immerhin: Den Ministerpräsidenten, Senatorinnen und Ministern, die die Interessen ihrer Länder in den Bundesrat und damit in die Hauptstadt Berlin bringen, traute er zu, auch die Interessen der Menschen vor Ort zu artikulieren und für alltagstaugliche Politik zu sorgen.
„Die Länder sind es ja schließlich auch, die mit der Ausführung der Bundesgesetze die Verantwortung vor der Öffentlichkeit tragen und deshalb selbst das größte Interesse daran haben, dass diese Gesetze und Verordnungen zweckmäßig und sachdienlich sind“, zitierte von Beust aus der Antrittsrede seines Parteifreundes Sieveking vom 5. Oktober 1956.
Hans-Ulrich Klose schlug schon 28 Jahre zuvor in die gleiche Kerbe wie von Beust
Es spricht nicht für die Problemlösungskompetenz der Politik allgemein und des Bundesrates im Besonderen, dass Hans-Ulrich Klose schon 28 Jahre zuvor in die gleiche Kerbe wie von Beust schlug. „Politiker und Parteien agieren, als wüssten sie allein, was richtig und notwendig ist. Sie haben auf alles eine Antwort parat“, sagte Klose in seiner Antrittsrede am 9. November 1979.
„Neue Probleme zu erkennen, Sorgen und Ängste der Bürger aufzunehmen, dazu sind wir oft nicht mehr geneigt. Wir reagieren routiniert wie ein Apparat und hinterlassen – leider viel zu oft – den Eindruck, dass Macht zu einem besonderen Machtbewusstsein verführt, das nicht mehr lernfähig ist“, so Klose. Auch das war harter Tobak für die politische Zunft.
Der Bürgermeister forderte seine Kolleginnen und Kollegen auf, sich infrage stellen zu lassen. Für viele Politiker sei „Nachgeben in Einzelfragen ein Beweis von demokratischer Schwäche“. Dabei sei die selbstkritische Betrachtung der eigenen Arbeit notwendig, um nicht in Routine zu verfallen.
Und Klose führte ein eigenes Beispiel an: Er habe sich vom Befürworter der Atomkraft zu deren Kritiker gewandelt. Deutlich spürbar ist in den Worten des Bundesratspräsidenten die Herausforderung für die etablierten Parteien durch die aufkommende Umweltbewegung und das Entstehen der Grünen.
Klose setzte sich auch mit der Rolle des Bundesrates auseinander
Aber Klose setzte sich auch sehr grundsätzlich mit der Rolle des Bundesrates auseinander und beklagte die parteipolitische Polarisierung der Länderkammer und die Entwicklung des Vermittlungsausschusses des Bundes und der Länder zu einem „Übergremium“. Er lehnte die bis heute gültige Trennung in Gruppen der „A-Länder“ (SPD-geführt) und „B-Länder“ (CDU-geführt) strikt ab.
„Die Bürger finden sich mit ihren Problemen nicht wieder; sie registrieren, dass es A- und B-Länder gibt, die sich häufig und heftig streiten. Sie erleben, dass wir uns um Formulierungen streiten und über Formeln verständigen, die in ihren Konsequenzen für den Außenstehenden überhaupt nicht zu begreifen sind“, sagte der Bürgermeister.
Die Verfassung sehe den Bundesrat gerade nicht als „zweite Kammer ..., die gleichwertig mit der ersten Kammer entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wäre“. Föderalismus bedeute in der Praxis vielmehr die Ausbalancierung der Macht zwischen Bund und Ländern. „Diese Balance darf nicht durch parteipolitische, d. h. in der Regel zentralistisch geprägte Interessen gefährdet werden“, sagte Klose. Da liegt der Gedanke an den erbitterten Streit um das Bürgergeld in dieser Woche durchaus nahe.
Keiner hat so energisch wie Henning Voscherau die Länderinteressen verteidigt
Um eine selbstbewusste Position der Länder und mithin des Bundesrates gegenüber den scheinbar übermächtigen Verfassungsorganen Bundestag und Bundesregierung, die deutlich mehr im Blickpunkt des öffentlichen Interesses stehen, ging es gerade in der Frühphase der Bundesrepublik immer wieder, wie die Antrittsreden von Sieveking und Herbert Weichmann zeigen.
Doch keiner hat so energisch wie Henning Voscherau die Länderinteressen verteidigt und deren Stärkung angemahnt – in der Phase euphorischer Stimmung unmittelbar nach der Wiedervereinigung und dem Beitritt der fünf ostdeutschen Länder.
Voscherau war – bei aller Begeisterung – der Einigungsprozess viel zu zentralistisch verlaufen. „Ich mache mir Sorgen, ob die Ausgewogenheit der Machtverhältnisse zwischen Bund und Ländern noch stimmt. Es ist Zeit für eine Revision der verfassungsmäßigen Machtbalance, der Funktionsverhältnisse und der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern - besonders jetzt, da sich die Zahl der Länder auf 16 erhöht hat“, sagte Voscherau in seiner Antrittsrede am 9. November 1990.
„Es ist Zeit, der Gefahr schleichender Aushebelung des Föderalismus im Zuge der europäischen Einigung entgegenzuwirken – wir gemeinsam, alle 16.“ Das war fast revolutionär. Seit Voscheraus Aufruf zum Widerstand sind die Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Ländern mehrfach neu geordnet worden – in der Regel mit dem Ergebnis, dass die Länder mehr Geld in ihren Kassen hatten, weil sie zusätzliche Aufgaben übernommen hatten. Das Stigma der „zweiten“, also nachrangigen Kammer ist der Bundesrat gleichwohl nicht ganz losgeworden.