Hamburg. Wodka, Marihuana, Kokain – Lukas S. will bei Angriff auf einen Passanten völlig berauscht gewesen sein. Stimmt diese Version?

Er hat so gut wie nichts mitbekommen von dem Abend, da sind nur bruchstückhafte Erinnerungen; schemenhafte Szenen, die aus dem dichten Nebel des Vollrausches auftauchen. Zumindest sollen das alle glauben. Auch als das Gericht, die Staatsanwältin und der Sachverständige teils energisch nachhaken, auf der Suche nach einem weiteren Krümel der Erinnerung, kommt nichts mehr. Und vielleicht ist da einfach auch nicht mehr.

So stockbetrunken und berauscht war Lukas S. nach eigenen Angaben in der Nacht zum 31. Dezember 2020, dass er sich nicht mehr daran erinnern könne, wie er am Striepenweg (Neuwiedenthal) einen jungen Mann ohne jeden Anlass fast mit seinem Cuttermesser umgebracht hätte. „Wenn ich etwas getan haben sollte“, sagt der wegen heimtückischen Mordversuchs angeklagte, schmächtige 38-Jährige vor dem Landgericht, „tut es mir leid.“

Prozess Hamburg: Opfer dem Angeklagten körperlich überlegen

Das Opfer, ein großer, durchtrainierter Mann mit muskulösen Oberarmen, ist dem Angeklagten körperlich ohne jede Zweifel überlegen. Christopher H. lebt seit der Attacke mit einer zuweilen zwar etwas schmerzhaften, aber aus seiner Sicht wohl verschmerzbaren Einschränkung: Er hat eine vier Zentimeter lange Narbe am Kinn zurückbehalten, die er mit einem Bart kaschiert. Ansonsten, sagt der 27 Jahre alte Zeuge am Mittwoch, würde er sicherlich keinen Bart tragen.

In jener Nacht, es war gegen 0.15 Uhr, habe er mit zwei Freunden Bier kaufen wollen, sagt Christopher H. Auf dem Weg zum Kiosk fing es plötzlich an zu regnen, unter dem Dach eines Hochhauses am Striepenweg fanden alle Schutz. Da näherte sich ein Bekannter mit einem Fremden im Schlepptau. Er habe den Mann, den er nie zuvor gesehen habe, nicht weiter beachtet, während er sich mit seinen Freunden unterhalten habe, sagt der Zeuge.

Opfer musste ins Krankenhaus

„Etwa drei Minuten später hat er sich zwischen uns gestellt. Er hat nichts gesagt, mich einfach nur angeschaut. Dann zog er das Cuttermesser, das er mir ohne Zögern in den Hals stechen wollte.“ Er sei mit dem Kopf zurückgewichen und habe den Angeklagten wegstoßen können, mit seinem Schirm oder den Händen. Dennoch habe der ihn mit dem Messer am Kinn erwischt.

Schließlich sei es ihnen gelungen, Lukas S. bis zum Eintreffen der Polizei am Boden zu fixieren. Christopher H. kam ins Krankenhaus; die Wunde wurde genäht, kurz darauf holten ihn Beamte zur Vernehmung ab. Ob er unter den Folgen der Tat leide und beispielsweise Angst verspüre?, fragt die Vorsitzende Richterin. „Nein, wenn man dauernd an Angst denkt, dann ist sie da und blockiert einen nur“, sagt Christopher H.

Angeklagter kam nicht in Untersuchungshaft

Fast zwei Jahre dauerte es vom Beginn der Ermittlungen bis zum Beginn der Hauptverhandlung am Mittwoch. Warum so lange? Die Polizei sei zunächst nicht von einem Tötungsdelikt ausgegangen, auch sei Lukas S. nicht in Untersuchungshaft gewesen. Daher habe das Verfahren gegenüber laufenden Haftsachen zurückstehen müssen, sagte Gerichtssprecher Kai Wantzen auf Abendblatt-Anfrage.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Christopher H. das Vorspiel des Angriffs gar nicht wahrgenommen hat: Der Angeklagte soll kurz zuvor im Gespräch mit einem der Freunde des Zeugen sein Cuttermesser hervorgeholt und es dann auf Aufforderung wieder weggesteckt haben. Plötzlich habe sich Lukas S. dem 27-Jährigen zugewandt und ihn attackiert – ohne dass sich der junge Mann eines Angriffs versah, so die Anklage.

Angeklagter kann sich angeblich nicht erinnern

Als Christopher H. die Hand von Lukas S. packte, sei das Cuttermesser abgebrochen. Die Staatsanwaltschaft gehe zwar von einer Alkoholisierung des Angeklagten aus, so Wantzen. „Sie sieht aber keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine erheblich verminderte oder gar aufgehobene Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.“

Den Tathergang über die Aussage des Angeklagten zu rekonstruieren ist ein aussichtsloses Unterfangen – die entscheidenden Szenen sind wie gelöscht. Seltsamerweise findet sich unter den Beweismitteln, die am Richterpult liegen, ausgerechnet die Tatwaffe nicht: das Cuttermesser. So wie Lukas S. es schildert, hat er so viel Alkohol und Drogen konsumiert, dass die Tatnacht – von einigen lichten Momenten abgesehen – anmutet wie ein einziger großer Blackout. Allerdings vermag sich der Handwerker recht genau daran erinnern, welche Rauschmittel und wie viel davon er zu sich genommen hat – und das ist wiederum für seinen Verteidiger evident.

Mann verließ mit Arbeitsjacke seine Wohnung

Er habe Urlaub gehabt und sich zunächst zu Hause mit Wodka-Mischgetränken betrunken, sagt der Vater von zwei Töchtern. Dann habe er die Wohnung in Neuwiedenthal verlassen, um seinen Bekannten Michael W. in Harburg zu besuchen. Getragen habe er seine mit Werkzeugen, darunter Cuttermessern, bestückte Arbeitsjacke. Diese Jacke trage er häufig privat – für den Fall, dass ihn Freunde mal spontan um Reparaturen bitten sollten.

Auf dem Weg zur S-Bahn habe er mit ein paar Kiffern, die er nicht kannte, Marihuana und später mit seinem Bekannten Kokain geraucht. Bei Michael W. habe er auch noch mehr Wodka getrunken. Normalerweise nehme er Alkohol nur maßvoll zu sich, Marihuana so gut wie nie und Kokain „vielleicht einmal im Jahr“, sagt der Angeklagte.

Prozess Hamburg: Angeklagter wurde ohnmächtig

An die Fahrt vom Bahnhof Harburg-Rathaus zurück nach Neuwiedenthal erinnere er sich nicht mehr. Er erinnere sich nur, wie jemand ihn von hinten würgte und wie zwei Männer ihn traten, als er bereits am Boden lag. Dann sei er ohnmächtig geworden. Schnitt. Nächste Szene: Lukas S. sitzt, mit Polizei-Handschellen gefesselt, in einem Hauseingang. Schnitt. Er habe 24 Stunden durchgeschlafen, „wie im Koma“ und nach dem Aufwachen habe „alles geschmerzt“, sagt Lukas S. Der Prozess wird fortgesetzt.