Hamburg. 30 Jahre Politik im Hamburger Rathaus hat unser Autor als Abendblatt-Redakteur hautnah begleitet. Ein Rückblick – der zweite Teil.
Den ersten Teil "30 Jahre Kämpfe und Karrieren hinter alten Mauern" lesen Sie hier.
Am 28. November 2010 zerbrach die schwarz-grüne Rathauskoalition. Auf diesen Moment hatte einer gewartet, dessen Karriere in den folgenden Jahren steil nach oben führen sollte: Olaf Scholz. Der Sozialdemokrat, der als SPD-Generalsekretär und Bundesarbeitsminister bundespolitische Erfahrung im Gepäck hatte, war seit 2009 SPD-Landesvorsitzender. Er hatte die noch verzagte und vom Stimmenklau erschütterte Partei aufgerichtet und zugleich eingenordet.
„Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“, lautete sein für SPD-Verhältnisse unübliches Credo. Scholz analysierte die Schwächen der noch regierenden CDU und bezeichnete zum Beispiel in einem Abendblatt-Interview die schwarz-grüne Landesregierung als den „wirtschaftsfeindlichsten Senat seit 1945“.
Scholz agierte schon als Bürgermeister, bevor er es war
Im Wahlkampf nach dem Bruch des schwarz-grünen Bündnisses präsentierte Scholz den sehr anerkannten und bestens verankerten Handelskammer-Präses Frank Horch als parteilosen Kandidaten für das Amt des Wirtschaftssenators – ein Coup, der die Konkurrenz schockte. Bemerkenswert: Scholz agierte, als ob er seine Regierungszeit bereits konkret vorbereitete, obwohl die Wählerinnen und Wähler doch noch gar nicht gesprochen hatten.
So vereinbarte er mit einer Kita-Initiative ein Bündnis, in dem sich die SPD verpflichtete, im Falle der Regierungsüber-nahme die Beitragsfreiheit für den Kita-Besuch schrittweise einzuführen. Schwarz-Grün hatte die Kita-Gebühren gegen den Protest vieler Eltern erhöht.
Nach Von Beust wollten viele in Hamburg Stabilität
Scholz trat im Wahlkampf so staatstragend und selbstbewusst auf, dass manchmal nicht klar war, wer Amtsinhaber und wer Herausforderer war: Christoph Ahlhaus oder Olaf Scholz. Am 20. Februar 2011 holte die SPD mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit aus der Opposition heraus – bis heute auf Landesebene unerreicht. Die Hamburger sehnten sich nach den letztlich turbulenten Von-Beust-Jahren durchaus nach Verlässlichkeit und Stabilität.
Scholz versprach „ordentliches Regieren“ und traf damit offensichtlich den Nerv vieler Bürgerinnen und Bürger. Charakteristisch für Scholz’ knapp siebenjährige Amtszeit als Erster Bürgermeister war sein geradezu zementierter Führungsanspruch: Er war als Regierungschef zugleich Landesvorsitzender seiner Partei und konnte potenziell Aufmüpfige auf Kurs halten. Eine solche Machtfülle hatte es in der Hamburger SPD seit Jahrzehnten nicht gegeben.
Wohnungsbau durch SPD enorm angekurbelt
Begünstigt von einer langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Hochkonjunktur setzte der Bürgermeister zentrale Punkte seines Wahlprogramms um, das vor allem junge Familien entlastete. Scholz schaffte die Gebühren für den Kita-Besuch ab drei Jahren und die Studiengebühren ab. Er schob ein Ganztagsschulausbauprogramm an – inzwischen ein flächendeckendes Angebot – und fuhr die Ausgaben für Sanierung und Modernisierung der Schulen hoch.
Nach Jahren des Stillstands kurbelte der SPD-Senat den Wohnungsbau mit zunächst 6000 und später 10.000 genehmigten Wohnungen pro Jahr an, deren Bau über das breite „Bündnis für das Wohnen in Hamburg“ u. a. mit der Wohnungswirtschaft sichergestellt werden sollte.
2014: Großer Dämpfer für Scholz
Mit viel Geld und Verhandlungsgeschick gelang es Scholz, das fast gescheiterte Projekt Elbphilharmonie nach Monaten des Baustillstands 2013 wieder flottzumachen. Noch einmal 200 Millionen Euro investierte die Stadt, um einen Kompromiss mit der Baufirma Hochtief und den Architekten Herzog de Meuron zu erzielen. Das neue, spektakuläre Konzerthaus wurde pünktlich zum vereinbarten Termin 2017 eröffnet. Scholz hatte seinen Ruf als Macher gefestigt.
Einen empfindlichen Dämpfer musste der erfolgsgewohnte Bürgermeister im September 2013 hinnehmen: Die Hamburger stimmten per Volksentscheid für den kompletten Rückkauf der Strom-, Fernwärme- und Gasnetze durch die öffentliche Hand. Scholz hatte zuvor die Übernahme eines 25,1-Prozent-Anteils mit den Energieversorgern Vattenfall und E.on vereinbart, um der Volksinitiative den Schwung zu nehmen – vergeblich.
Mit den Grünen war es schwieriger für Scholz
Überhaupt wurde das Regieren für Scholz nun mühsamer: Wenn auch knapp, verlor die SPD 2015 die absolute Mehrheit und war auf ein Bündnis mit den leicht erstarkten Grünen angewiesen. Scholz’ Führungsanspruch war ungebrochen. „Es geht, glaube ich, nicht um einen Umbau, sondern um einen Anbau“, ließ er die Grünen hinsichtlich ihrer künftigen Bedeutung im Senat zu Beginn der Verhandlungen wissen.
Scholz zog in den Verhandlungsrunden mit den Grünen durch: keine Stadtbahn, wie von den Grünen gewünscht, auch kein Referendum über deren Einführung, keine City-Maut, keine Umweltzone. Dafür aber ein Festhalten an der Elbvertiefung, gegen die die Grünen stets waren. Immerhin: Vereinbart wurde der Einstieg in ein ambitioniertes Radverkehrskonzept. Doch die Verantwortung für die Verkehrsbehörde wollten die Sozialdemokraten 2015 (noch) nicht aus der Hand geben.
Scholz: „Wir hatten uns ein anderes Ergebnis gewünscht“
Wie kaum einem seiner Vorgänger ging es Scholz darum, Hamburgs internationale Bedeutung zu steigern. Darauf zahlte schon die Fertigstellung der Elbphilharmonie ein. Doch in noch viel stärkerem Maße sollte das für zwei Projekte gelten, die Scholz maßgeblich angeschoben hatte: Die Bewerbung um Olympia 2024 und die Ausrichtung des G-20-Gipfels 2017 sollten Hamburg auf der Weltkarte präsenter machen. Es wurden seine schwersten politischen Rückschläge.
Im November 2015 stimmten die Hamburger mit 51,6 Prozent in einem Referendum gegen die Ausrichtung der Olympischen Spiele. Viele Menschen waren von dem Konzept der Spiele am Wasser auf dem Kleinen Grasbrook in Citynähe fasziniert. Aber viele fragten sich auch, wie teuer Olympia werde und wer das am Ende bezahlen solle.
Darauf hatte Scholz keine schlüssige Antwort parat. „Wir hatten uns ein anderes Ergebnis gewünscht“, sagte Scholz mit völlig unbewegter Miene nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Gefühle öffentlich zu zeigen passt nicht zu seinem Selbstverständnis als Politiker.
Niederlage für Scholz: Der G20-Gipfel
Es entspricht Scholz’ politischem Charakter, nach politischen Niederlagen schnell zur Tagesordnung überzugehen. Bei dem größten Negativereignis seiner Amtszeit war das nicht möglich: Der G-20-Gipfel im Juli 2017 hätte ihn fast das Amt gekostet. Es war „sein“ Gipfel: Er hatte, ohne den Koalitionspartner von den Grünen vorab zu konsultieren oder einzuweihen, der Bitte von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) entsprochen, das Treffen der mächtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt in Hamburg auszurichten.
Er hatte alle Sicherheitsbedenken hinsichtlich des Gipfels mitten in der Stadt, neben dem Schanzenviertel, in den Wind geschlagen und eine „Sicherheitsgarantie“ für alle Hamburger gegeben.
Scholz: „Das ist meine schwerste Stunde“
Es folgte eine europaweite Mobilisierung gewaltbereiter Autonomer. Der beispiellose Gewaltexzess, die Plünderungen und Brandschatzungen unter anderem im Schanzenviertel und die Überforderung der Polizei schockierten die Stadt zutiefst. Als das Abendblatt Scholz gegen Ende des Gipfels zum Interview traf, standen dem sonst stets Beherrschten während des Gesprächs die Tränen in den Augen. „Das ist meine schwerste Stunde“, bekannte er.
Hätte es einen Toten gegeben, sagte er später einmal, wäre er zurückgetreten. Nur mit Mühe gelang es seinem Umfeld, ihn davon zu überzeugen, in seiner Regierungserklärung vor der Bürgerschaft die Hamburger um Entschuldigung zu bitten.
Scholz musste schmerzende Niederlagen einstecken
Wie keiner seiner Vorgänger im Amt war der Sozialdemokrat stets zugleich auch Bundespolitiker. So war es letztlich nicht überraschend, dass sich Scholz erst recht in den Turbulenzen nach dem Rücktritt des gescheiterten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz als Parteichef im Februar 2018 wieder stärker in Richtung Berlin orientierte. Trotz des G-20-Desasters galt der Hamburger als starker Mann der SPD, wurde eine kurze Zeit lang kommissarischer Parteivorsitzender und wenig später Bundesfinanzminister.
Manche Beobachter deuteten Scholz’ Wechsel in die Bundespolitik als Flucht aus Hamburg, weil er wegen des G-20-Gipfels politisch angeschlagen war: Das hieße jedoch, den politischen Ehrgeiz des Sozialdemokraten erheblich zu unterschätzen. Scholz ist jedenfalls der einzige Nachkriegsbürgermeister, der es nach seiner Amtszeit ins Bundeskabinett geschafft hat, und natürlich der einzige Altbürgermeister im Kanzleramt.
Scholz war in seiner langen Karriere nie ein besonders beliebter, bestenfalls ein geachteter Politiker, und er musste schmerzende Niederlagen gerade auch innerparteilich einstecken.
Scholz musste nochmal ins Rathaus zurück: Cum-Ex
So gesehen bilden die sieben Jahre als Präsident des Senats eine Ausnahme, weil er in dieser Zeit auch hohe persönliche Zustimmungswerte hatte. Sein zurückhaltender, gelegentlich etwas dröger Regierungsstil mit dem beinahe langweiligen Leitsatz vom „ordentlichen Regieren“ gefiel vielen Hamburgern in dieser Zeit. „Ich glaube, Sie haben gemerkt, wie gern ich Hamburger Bürgermeister bin. Sie sehen also, dass das etwas ist, was mich emotional sehr bewegt“, sagte Scholz bei seiner letzten Pressekonferenz als Bürgermeister im Rathaus.
Er ist als Kanzler inzwischen einige Male an seinen alten Arbeitsplatz – das Rathaus – zurückgekehrt. In zwei Fällen war der Anlass allerdings wenig erfreulich: Scholz musste als Zeuge vor dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft aussagen.
Bei den Grünen kam Tschentscher gut an
Und dann war plötzlich Peter Tschentscher Bürgermeister. Zwar war der Sozialdemokrat als langjähriger Finanzsenator ein wichtiger Akteur im Rathaus seit 2011, aber dass der Mediziner Nachfolger von Olaf Scholz werden würde, hatte wohl kaum ein politischer Beobachter erwartet, ich auch nicht. Trotz seiner langen politischen Tätigkeit war Tschentscher vielen Hamburgern nicht bekannt. Das lag auch an seiner zurückhaltenden Art.
Bei den Grünen kam der Typus des sachlich-analytischen, intellektuellen Politikers durchaus an. Viel Zeit zur Profilierung bis zur Bürgerschaftswahl Anfang 2020 blieb dem Neuen an der Spitze des Senats dann allerdings nicht. Hinzu kam, dass sich die politischen Koordinaten zu verschieben begannen.
Premiere: Machtkampf innerhalb des Senats
Die Grünen spürten gerade auch in Hamburg ihren bundesweiten Aufwind sehr stark und nutzten das zu einer selbstbewussten Kampagne. Erstmals trat die Ökopartei mit einer Bürgermeisterkandidatin an: Katharina Fegebank forderte Peter Tschentscher heraus. Anders ausgedrückt: Die Zweite Bürgermeisterin trat gegen den Ersten an. Ein Kampf um die Macht innerhalb des Senats – auch das war eine Premiere.
Und es hätte ein absolut historisches Ereignis werden können, wenn sich die Grünen durchgesetzt hätten: Fegebank wäre die erste Frau an der Spitze des Senats gewesen – nach 199 Männern. Letztlich lag die SPD am 23. Februar 2020 aber klar mit 39,2 Prozent vor den Grünen, die „nur“ auf 24,2 Prozent kamen, allerdings das mit Abstand beste Ergebnis aller Zeiten in Hamburg einfuhren. Und das zweitbeste Resultat, das die Partei je bundesweit erzielte.
Werbekampagne Tschentscher: „Die ganze Stadt im Blick“
Mitentscheidend für den Wahlerfolg der Sozialdemokraten war eine geschickte Werbekampagne, die Tschentscher mit dem Slogan „Die ganze Stadt im Blick“ in den Mittelpunkt stellte. Aber: Viele eher konservative Wählerinnen und Wähler dürften bei der SPD ihr Kreuz gemacht haben, um eine grüne Erste Bürgermeisterin zu verhindern.
Die CDU hatte das Nachsehen bei dem rot-grünen Zweikampf, stürzte auf 10,2 Prozent ab und wurde mit weitem Abstand nur dritte Kraft – und das 16 Jahre, nachdem die Partei die absolute Mehrheit mit Ole von Beust geholt hatte. Die politischen Koordinaten haben sich also tatsächlich verschoben: Die Grünen sind in vielen Stadtteilen und keineswegs nur in den studentisch geprägten stark und stellen mittlerweile auch zwei der sieben Bezirksamtsleiter. SPD und Grünen verfügen über eine Zweidrittelmehrheit in der Bürgerschaft – das hatte es im Rathaus zuletzt in den 1960er-Jahren gegeben.
Tschentscher punktete während der Corona-Krise
Die Frage ist nur, was Rot-Grün mit dieser Hegemonie anfängt. Der durch das Wahlergebnis gestärkte Bürgermeister zeigte dem Juniorpartner in den Koalitionsverhandlungen seine Grenzen auf. Der Forderung der Grünen nach fünf Senatsposten erteilte Tschentscher eine Absage. Es wurden immerhin vier statt vorher drei. Als neuer Verkehrssenator will Anjes Tjarks (Grüne) die der SPD abgerungene weitreichende Mobilitätswende in der Stadt vorantreiben. Aber schon bald nach der Wahl versetzte die rasant wachsende Corona-Pandemie die Koalition in den Krisenmodus und verschob die politischen Prioritäten.
Tschentscher konnte in der Corona-Krise mit seiner analytischen Herangehensweise, der unaufgeregten Art der Rede punkten und wirkte vertrauensbildend bei verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern. Es kommt entscheidend hinzu, dass der habilitierte Labormediziner gewissermaßen vom Fach ist und daher besondere Glaubwürdigkeit genießt. Die Pandemie machte den Hamburger Bürgermeister auch bundesweit bekannter.
Bündnis aus SPD und Grüne: Hält es bis 2025?
SPD und Grüne belauern sich in dieser Koalition. Die Grünen sind kein „kleiner“ Koalitionspartner mehr und verfügen über eine Fraktion mit vielen jungen, ungeduldigen Abgeordneten. Immer wieder kommt es zu Nickeligkeiten und Revanchefouls zwischen den Partnern, ohne dass es bislang ernsthafte Bruchlinien gäbe. Nach der Pandemie (oder neben der Pandemie) drückt nun die Energiekrise dem Regierungsalltag ihren Stempel auf und verstärkt dessen Krisenmodus.
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Angesichts der enormen Preissteigerungen für Heizung und Strom und der Finanzierung der erforderlichen staatlichen Entlastungsprogramme und Notfallfonds droht der Kampf gegen den Klimawandel – das (rot-)grüne Topthema – in den Hintergrund zu geraten. Es ist keine einfache Zeit zu regieren.
Hält das Bündnis bis zur nächsten regulären Bürgerschaftswahl 2025? Ist die rot-grüne Hegemonie von Dauer? Oder gelingt der CDU ein Comeback in dieser Stadt, die für sie kein leichtes Pflaster ist? Und: Wann wird die erste Erste Bürgermeisterin ihre erste Senatssitzung eröffnen?
So einfach haben es Politiker nicht
Ole von Beust sagte mir vor vielen Jahren einmal mit ironischem Unterton sinngemäß: „Ihr Journalisten habt es leicht: In euren Analysen schreibt ihr immer im Nachhinein, warum alles so gekommen ist, wie es gekommen ist.“ Was er meinte: So einfach haben es Politiker nicht.