Kiel. Es kommen so viele Geflüchtete wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg an – die Städte und Bundesländer sind „maximal herausgefordert“.

Egal wohin man hört, egal wo man sich umschaut – es sind immer dieselben Antworten und Beobachtungen: „Wir sind am Ende der Möglichkeiten angelangt.“ Oder: „Unsere Kapazitäten sind erschöpft.“ Alternativ: „Es gibt keine größeren Unterkünfte mehr.“ Egal ob Elke Christina Roeder in Norderstedt, Rainer Rempe im Landkreis Harburg oder Norbert Lütjens in Schwarzenbek – wer in den Kommunen Verantwortung trägt, weiß kaum noch weiter.

„Wir stehen vor einer Riesenherausforderung, weil wir so viele Geflüchtete haben wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Das sagt Aminata Touré (Grüne). Sie ist seit Sommer Sozialministerin von Schleswig-Holstein.

Schleswig-Holstein plant Krisengipfel

Der Flüchtlingszustrom in diesem Spätsommer und Herbst bringt nicht nur eine Großstadt wie Hamburg an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit – sondern auch die kleineren Kommunen im Norden. Deshalb plant Schleswig-Holstein einen Krisengipfel. „Der Ministerpräsident und ich werden in Kürze die Kommunen zu einem Spitzengespräch zur Fluchtsituation einladen“, sagt Touré: „Die Situation fordert die Kommunen und uns als Land maximal heraus.“

Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) warnte bereits, die Kommunen seien „vollgelaufen“. Das Abendblatt hat mit Bürgermeistern, Landräten und politisch Verantwortlichen wie Aminata Touré gesprochen.

Geflüchtete aus der Ukraine: Die Zahlen

Schleswig-Holstein hat aktuell 5589 Asylsuchende erfasst. Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber den vergangenen Jahren, in denen die Zahlen coronabedingt zurückgegangen waren. „Hinzukommen aber noch die mehr als 40.000 Geflüchteten aus der Ukraine“, sagt Sozialministerin Aminata Touré. So beantragten 1095 Menschen im September im nördlichsten Bundesland Asyl. Das ist nicht nur der mit Abstand höchste Wert seit knapp drei Jahren – sondern auch genauso viel wie in den beiden September-Monaten 2020 und 2021 zusammen.

Die Kommunen können einen Großteil der Geflüchteten noch in Wohnungen unterbringen, ungefähr 58 Prozent. In Gemeinschafts- bzw. Sammelunterkünften leben 39 Prozent der Flüchtlinge. Mit Stichtag 30. September haben alle Kommunen zusammen dem Land rund 3000 freie Unterbringungsplätze in Hotels, Wohnungen oder Pensionen gemeldet. Diese Momentaufnahme gebe aber lediglich einen groben Überblick, warnt das Ministerium.

Erstaufnahme in Neumünster fast voll

Flüchtlinge, die das Bundesland über den Königsteiner Schlüssel vom Bund zugewiesen bekommt, kommen zunächst für einige Wochen in einer der fünf Landesunterkünfte unter. „Ich hatte als Erstes veranlasst, dass die rund 4000 Plätze auf 6000 erhöht wurden“, sagt Ministerin Touré. Und: „Wir sind die ganze Zeit dabei, sukzessive mehr Landeskapazitäten zu schaffen.“ Eine der Erstaufnahmen ist in Neumünster. Dort waren zuletzt 581 der 632 Betten belegt – umgerechnet meldete die Erstaufnahmeeinrichtung dem Land gerade mal acht Prozent freie Plätze.

Für die danach folgende Betreuung sind in Schleswig-Holstein die Kommunen zuständig. Die haben allein im August und September jeweils deutlich mehr als 2000 Geflüchtete aufgenommen. Zum Vergleich: In den Augustmonaten 2020 und 2021 waren es rund zehn Prozent davon.

Flüchtlinge aus der Ukraine


In diesen Zahlen sind die vor Putins Krieg geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer noch gar nicht erfasst. Rund 43.000 sind seit Ende Februar nach Schleswig-Holstein gekommen. Wie viele von ihnen aktuell noch im Land zwischen den Meeren leben und vielleicht privat untergekommen sind – das weiß niemand so genau. „Ukrainische Geflüchtete sind nicht verpflichtet, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu leben. Das liegt daran, dass sie unter anderen rechtlichen Bedingungen hier Schutz suchen können als andere Asylsuchende“, sagt Ministerin Touré.

Rechtlich sei es so, dass die ukrainischen Geflüchteten Bewegungsfreiheit hätten. „Und so dürfen sie sich auch direkt in den Kommunen melden, daran können wir sie nicht hindern. Und ich will sie auch gar nicht daran hindern. Das macht die Situation in der Organisation schwieriger als 2015/16, als alle Neuankommenden erst einmal in Landesunterkünften waren, bevor sie weiterverteilt worden sind“, sagt Touré.

Woher die anderen Flüchtlinge kommen


Die darüber hinaus meisten nach Schleswig-Holstein Geflüchteten kommen dieses Jahr aus drei Ländern: Syrien (27,1 Prozent), Afghanistan (23,2) und Irak (16,4). Wo es Zuwanderung gibt, gibt es auch Abschiebung und freiwillige Ausreise. Am häufigsten waren Armenier (28) und Georgier (21) von Abschiebungen betroffen.

Aber auch nach Afghanistan (2), Iran (1) oder in die Russische Föderation (10) wurde abgeschoben. Die meisten freiwilligen Ausreisen aus Schleswig-Holstein gab es nach Albanien (75) und Nordmazedonien (76). So steht es im „Zuwanderungsbericht“ für September.

Die Kommunen

Die viertgrößte Stadt in Schleswig-Holstein ist „voll“. Das sagt Elke Christina Roeder, die Oberbürgermeisterin von Norderstedt. Fast 2200 Geflüchtete oder Asylbewerber halten sich derzeit in der Stadt auf, wöchentlich kommen bis zu 50 neue hinzu. Längst steht fest: Die Kapazitäten sind fast erschöpft. Die städtischen Unterkünfte sind weitestgehend belegt, ebenso das angemietete Hotel Norderstedter Hof – ein zweites soll folgen. Wo es möglich ist, wird unter Hochdruck Wohnraum geschaffen mittels sogenannter „Mobilbauten“.

Im Lauf des nächsten Jahres sollen so rund 200 Plätze entstanden sein. Aus Sicht der Stadt wird das nicht reichen. „Wir verspüren den Druck deutlich“, sagt die Oberbürgermeisterin. In den nächsten Monaten könnte es nicht mehr zu vermeiden sein, dass auch Sporthallen genutzt werden müssen. Roeder: „Die größten Flüchtlingsströme kommen erfahrungsgemäß im Winter.“ Norderstedt fordert vom Land mehr Geld und bittet zugleich die Bevölkerung, private Immobilien zur Verfügung zu stellen. „Jeder Raum zählt“, heißt es aus dem Rathaus.

Einige Kommunen sind der Kapizitätsgrenze

„Es gibt Kommunen, die sagen, sie seien an der Kapazitätsgrenze“, so Touré, die die Zahl der freien Plätze in Städten und Kreisen abgefragt hat. Demnach sind 78 Prozent belegt und zehn Prozent erst im Aufbau. Nur rund zwölf Prozent der Plätze sind also nutzbar. „Deshalb stehen wir in sehr konstruktivem Austausch, wie wir weitere Plätze schaffen können und wie die Kommunen untereinander einen Mechanismus finden, sich solidarisch zu unterstützen. Vielleicht kann eine Kommune vorübergehend mehr Flüchtlinge aufnehmen und damit eine andere entlasten, die keine Kapazitäten mehr hat. Und beim nächsten Mal läuft es umgekehrt.“

In Reinbek leben etwa 500 Flüchtlinge, 120 von ihnen kommen aus der Ukraine. Deren Unterbringung sei momentan kein Problem, berichtet Torsten Christ, Leiter des Bürgeramtes. „In unserer Unterkunft in der ehemaligen Campusschule, die allein Geflüchteten aus der Ukraine vorbehalten ist, haben wir noch 60 freie Plätze.“ Die anderen Flüchtlinge unterzubringen sei in Reinbek schwierig. Die Politik diskutiert den Aufbau einer weiteren Unterkunft, einen Standort gibt es aber noch nicht. Dabei hat Reinbek sein Soll an der Unterbringung Geflüchteter noch nicht erfüllt: 30 weiteren Menschen müsste die Stadt noch ein Obdach bieten.

Aufenthalt in der Erstaufnahme wurde verlängert

Schwarzenbek stößt mit rund 400 aufgenommenen Flüchtlingen an die Grenzen. In der Massenunterkunft aus dem Jahr 2015 ist inzwischen das einzige Impfzentrum des Kreises untergekommen. Die Folge: Es gibt hier nur noch Platz für maximal 50 Schutzsuchende – und das auch nur, wenn Durchgangszimmer mitgenutzt werden. Das möchte Bürgermeister Norbert Lütjens zur Wahrung der Privatsphäre so lang wie möglich vermeiden. Aber: „Die Menschen kommen jetzt und müssen untergebracht werden.“

„Wenn Kommunen melden, keine Kapazitäten zu haben, haben wir als Land die Möglichkeit, die Aufenthaltsdauer in der Erstaufnahme zu verlängern. Das habe ich veranlasst“, sagt Ministerin Touré. Damit könne die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Erstaufnahme von zwei auf drei Wochen steigen. Das Problem: CDU und Grüne haben im Koalitionsvertrag festgehalten, die Verweildauer von Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen verkürzen zu wollen.

Pinneberg: Mehr Geflüchtete als im Jahr 2015

Geesthacht bringt Geflüchtete in Containern unter. Die Stadt hatte vorgesorgt – und den Containerstandort an der Mercatorstraße nie komplett abgebaut, sagt Sprecher Torben Heuer. Um zusätzliche Kapazitäten zu schaffen, stockt die Stadt die Zahl der Container in zwei Schritten wieder auf. Viel Zeit bleibt der Stadt nicht: Anfang Oktober war sie 84 Personen unter ihrem Unterbringungssoll.

Auch im Kreis Pinneberg ist der Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge jetzt schon höher als 2015. „Unterbringungskapazitäten, die damals frei waren, werden heute schon genutzt“, sagt Kreissprecherin Katja Wohlers. Im Gespräch ist, das ausgediente Krankenhaus in Wedel als Notunterkunft zu nutzen. In Elmshorn wurden bisher 530 Ukrainer registriert, insgesamt 600 Asylanträge gestellt – mehr als 2015. Ralf Behn, Amtsleiter für Soziales in Elmshorn: „Im Unterschied zu 2015 sind es vor allem Mütter mit Kindern, die fliehen.“

In der großen Sammelunterkunft in der alten Post leben ausschließlich Ukrainer. Zudem mietet die Stadt Wohnungen an. „Wir haben einen gewissen Puffer und sind in der Lage, nicht auf Wuchermieten eingehen zu müssen. Im Vergleich zu anderen Städten sind wir gut aufgestellt“, sagt Behn. Das sieht bei Plätzen in Kitas und Schulen anders aus. „Wir können nicht alle Kinder unterbringen.“

Der Blick nach Niedersachsen

Die Flüchtlingssituation spitzt sich auch im Landkreis Harburg weiter zu. Dort sind 3420 Ukraineflüchtlinge registriert. Landrat Rainer Rempe geht davon aus, dass die Zahl bald rasant steigen wird. „Das Land Niedersachsen erwartet, dass in den nächsten sechs Monaten 70.000 Menschen unterzubringen sein werden.“ Für den Landkreis Harburg wären das etwa 2400 Personen. Oder 92 Personen pro Woche, rechnet Rempe vor.

Nur: „Unsere Wohnraumkapazitäten sind erschöpft. Und es gibt auch keine größeren Unterkünfte mehr, die wir zur Verfügung stellen können. Wir sind am Ende der Möglichkeiten einer vernünftigen Unterbringung angelangt.“ Aktuell bereitet man im Landkreis Harburg die erste Turnhalle für die Unterbringung von Geflüchteten vor. In Winsen soll Platz für 180 Personen entstehen. „Das ist keine gute Lösung und schon gar keine Dauerlösung“, sagte Rainer Rempe. „Aber wir werden anders nicht klarkommen.“

Die Ministerin Aminata Tourés

Aminata Tourés Eltern sind 1991 aus Mali nach Deutschland geflohen. Ein Jahr später kam die heutige Ministerin zur Welt. Sie wuchs in einer Flüchtlingsunterkunft in Neumünster auf. Viele Jahre lang lebte die Familie unter dem Druck drohender Abschiebung. „Das ist eine Erfahrung, die man niemals vergisst. Auch deshalb versuche ich, mich empathisch in die Lage der Geflüchteten hineinzuversetzen“, sagt die Grünen-Politikerin.

Allerdings sei die Situation heute für die ukrainischen Geflüchteten, irakische, iranische oder syrische eine ganz andere. „Ich kann nicht zurückblicken und das Erlebte von vor 30 Jahren eins zu eins auf heute übertragen“, so Touré. Die Herausforderungen und Bedingungen seien andere.

"Ich habe die Sorge, dass die gesellschaftliche Stimmung, kippen könnte, wenn wir als Politik keine vernünftigen Antworten geben", Aminata Touré, Sozialministerin von Schleswig-Holstein (Archivbild). © picture alliance/dpa/ Frank Molter

Neben einer vernünftigen Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten treibt Touré die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt um. Eine ihrer ersten Aufgaben als neue Sozialministerin war, ein Hilfsprogramm für die kriselnden Tafeln aufzulegen. „Hier merkt man, wie viele Menschen im Land akut unter Armut leiden. Deshalb habe ich die Sorge, dass die gesellschaftliche Stimmung, kippen könnte, wenn wir als Politik keine vernünftigen Antworten geben“, sagt die Ministerin. „Aber ich glaube, an dem Punkt sind wir noch nicht.“

Der Ausblick

Schleswig-Holstein hat die Bundesregierung mehrfach aufgefordert, Prognosen zur Zahl der erwarteten Geflüchteten vorzulegen. Doch die winkt bislang ab, das sei vor dem Hintergrund des Kriegs und seiner Folgen nicht zu machen. Und so bleibt es im Winter bei schwer planbaren Wochen und Monaten. Bislang hat es Schleswig-Holstein geschafft, ohne Notunterkünfte in Zelten auszukommen oder Turnhallen sperren zu müssen.

Aber das Problem der „vollgelaufenen Kommunen“ verschärft sich weiter, weil die Menschen keine eigene Wohnung finden. „Ich will noch stärker mit Vermieterinnen und Vermietern ins Gespräch kommen und sie motivieren, auch Asylsuchende oder Geflüchtete aufzunehmen“, sagt Aminata Touré.

Mitarbeit: Anne Dewitz (Kreis Pinneberg),André Herbst (Kreise Stormarn und Herzogtum Lauenburg), Christopher Mey (Kreis Segeberg), Jan-Eric Lindner (Landkreis Harburg)