Hamburg. Die Lebenserwartung ist viel niedriger, die Zahl kranker Menschen höher als in wohlhabenden Stadtteilen. Pilotprojekt will das ändern.
Der imposante Backsteinbau zu Füßen des Deichs, die ehemalige Polizeikaserne auf der Veddel, ist verhüllt. Die Saga saniert das denkmalgeschützte Gebäude, das zu einem Wohnhaus umgebaut wurde, und in dessen Hinterhof, in den früheren Pferdeställen, vor fünf Jahren die Poliklinik Veddel eröffnet hat. Einen auffälligen Namenszug wie vor anderen Kliniken sucht man hier vergeblich. Stattdessen verweisen nur kleine orangefarbene Schilder mit weißer Schrift auf die Institution.
Im Innenhof stehen Menschen vor zwei Fenstern Schlange: Frauen mit Kopftuch und Kinderwagen, Männer in Arbeitskleidung und tief ins Gesicht gezogenen Mützen, manche der Wartenden rauchen, andere gucken aufs Handy. Wer mit einem der beiden Mitarbeiter hinter den Fenstern gesprochen hat, setzt sich entweder draußen vor die Tür zum Infekt-Sprechzimmer oder betritt das Wartezimmer der Stadtteilpraxis, dem man sofort ansieht, dass hier vieles ganz anders ist als in anderen Kliniken.
Arzt Hamburg: Stadtteilpraxis mit neuem Ansatz
Zwei bunte Sofas, Bistrotische, an der Wand gerahmte Bilder und eine große Stadtteilkarte. Hinter dem Tresen, auf dem Flyer für Deutschkurse, Rechtsberatung und den Fußballverein liegen, sieht man die Mitarbeiter, die durch die Fenster Krankenkassenkarten entgegen nehmen, Rezepte hinausreichen oder Anrufe entgegen nehmen. Heute wartet hier kein Patient. Einer der beiden Ärzte der Poliklinik ist selber krank, daher ist heute nur Infektsprechstunde. Die anderen Patienten werden vertröstet.
Milli Schroeder vom Verein Gruppe für Stadtgesundheit und Verhältnisprävention e.V. und eine der Gründerinnen der Poliklinik Veddel, geht die Stahltreppe hinauf in den großen Gemeinschaftsraum unter dem Dach. Hier schlägt das Herz des Stadtteilgesundheitszentrums, das 2017 als Pilotprojekt eröffnetet wurde. Hier finden die vielen interdisziplinären Gespräche statt, zu denen sich alle Beteiligten regelmäßig treffen. Denn die ärztliche Versorgung der Menschen auf der Veddel ist nur ein Baustein der demokratisch organisierten Institution.
Innovatives Forschungsobjekt und Pilotprojekt
Neben der Stadtteilpraxis gehören dazu unter anderem eine Hebamme, eine psychologische Beratungsstelle mit einem dreiköpfigen Team, zwei Gesundheits- und Sozialberaterinnen, sowie seit 2022 ein Forschungsteam, das aus den Mitarbeitenden der Poliklinik sowie Veddelern und Veddelerinnen besteht. Der Mediziner Jonas Fiedler beschreibt das Forschungsanliegen so: „Wir wollen im Rahmen einer Vollerhebung den Zusammenhang zwischen den Lebensverhältnissen im Stadtteil und der Gesundheit seiner Bewohner und Bewohnerinnen untersuchen. Aus den gewonnen Erkenntnissen entwickeln wir im nächsten Schritt passgenaue sozialraumorientierte Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung für die Veddel.“
Ebenso innovativ ist auch das im Oktober 2020 gestartete Projekt „CoSta“ der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, das in Kooperation mit der Poliklinik Veddel durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für drei Jahre gefördert wird. CoSta ist die Abkürzung für „Community Health Nursing in der Stadt: Schließung einer Versorgungslücke in der Primärversorgung“. Community Health Nurses sind hochschulisch qualifizierte Pflegefachkräfte, die in der primären Gesundheitsversorgung tätig sind und Menschen bei der Bewältigung des Alltags unterstützen.
Hier arbeitet Deutschlands erste Community Health Nurse
Linda Iversen, die seit dem Start des CoSta-Projekts zum Team der Poliklinik Veddel gehört, war mit ihrem Kollegen Lukas Waidhas Deutschlands erste Community Health Nurse. „Wir wollen mit unserer Pilotstudie zeigen, dass das Versorgungskonzept Community Health Nursing die Lebensqualität chronisch Erkrankter verbessern kann“, sagt sie.
Das gelte umso mehr in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen, denn Armut macht krank – davon sind sie in der Poliklinik überzeugt. „Wenn sie nicht arbeitslos sind, schuften die Menschen hier vorwiegend auf dem Bau, in der Reinigungsbranche, in der Logistik oder der Pflege“, sagt Milli Schröder. „Die meisten haben wenig Geld, dafür aber viel Stress, und leben in zu kleinen Wohnungen, die nicht selten ein Schimmelproblem haben.“
Veddeler leben kürzer als Menschen in anderen Stadtteilen
Die Folge seien deutlich höhere gesundheitliche Belastungen wie psychische Probleme und chronische Erkrankungen wie Asthma oder Herzinsuffizienz. Ein Ergebnis, das der Morbiditätsatlas Hamburg von 2013 bestätigt: Die Menschen auf der Veddel sind kränker als in wohlhabenden Stadtteilen. Die Poliklinik Veddel verweist auf die unterschiedlichen Lebenserwartungen in Hamburg: Auf der Veddel beträgt sie im Schnitt nur 72 Jahre – in Blankenese dagegen sind es 82, in Ohlsdorf und Othmarschen 84, in Poppenbüttel sogar 87 Jahre.
„Eine rein medizinische Versorgung reicht nicht aus, wenn Menschen mit komplexen Problemlagen zu kämpfen haben“, betont Milli Schroeder. Daher brauche man ein multiprofessionelles Team – müsse aber neben dem Angebot unmittelbarer Hilfe vor Ort auch etwas an den Verhältnissen ändern, die dazu führen, dass die Veddeler überhaupt krank würden. Und so gehören zu Linda Iversens Aufgaben nicht nur klassisch pflegerische Leistungen wie Blutdruck messen und chronisch Kranke im Umgang mit ihrem Leiden zu beraten, sondern auch, zu erkennen, wo sich Problemfälle im Stadtteil häufen, und sich dann, etwa bei Schimmelbildung, an die Vermieter zu wenden.
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Finanzierung durch Spenden, Mitgliedschaften und Fördergelder
Bei der Stadt stößt der Ansatz des Stadtteilgesundheitszentrums offenbar auf Zustimmung: Einige Angebote werden seit 2019 durch den Quartiersfonds des Bezirks finanziert, seit 2020 wird ein Teil der Poliklinik Veddel darüber hinaus als Hamburgs erstes Lokales Gesundheitszentrum durch die Sozialbehörde gefördert.
„Es ist ermutigend, dass Hamburg die Notwendig erkennt, insbesondere in besonders benachteiligten Stadtteilen neue Wege in der ambulanten Gesundheitsversorgung zu gehen“, sagt Jonas Fiedler. Doch die Finanzierung sei „sehr prekär“, ergänzt Milli Schroeder und verweist auf den hohen Aufwand von Spendenakquise, Fördermitgliedschaften und Projektanträgen.
Arzt Hamburg: Mitarbeiter erwarten sich viel von Studien
Die Mitarbeitenden erwarten sich viel von Studien wie dem CoSta-Projekt und hoffen, dass das Community Health Nursing verstetigt wird. „Pflege und Kompetenz sind wichtige Maßnahmen, um die Versorgung der multimorbiden, chronisch kranken und immer älter werdenden Patienten zu gewährleisten.“
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- Gruppe für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e.V.
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