Hamburg. Vor 125 Jahren zogen Bürgerschaft und Senat in das neue Rathaus ein – 55 Jahre nach der Zerstörung des alten durch den Großen Brand.
Anfang Mai 1842. Nach drei Tagen konnte der Große Brand endlich gelöscht werden. Die Bilanz des Schreckens: 57 Tote, 1100 Wohnhäuser und mehr als 100 Speicher sind ausgebrannt, 20.000 Menschen obdachlos.
Auch das alte Rathaus, dessen Kern noch aus dem 13. Jahrhundert stammte, stand nicht mehr an der Trostbrücke. Noch am 6. Mai war es gesprengt worden, ein verzweifelter (und vergeblicher) Versuch, den „Roten Hahn“ doch irgendwie aufzuhalten. Der Rat (Senat) zog sich ratlos zunächst in das alte (im Zweiten Weltkrieg zerstörte) Waisenhaus an der Admiralitätstraße zurück, von 1859 an tagte er dann im Haus der Patriotischen Gesellschaft, das auch heute noch an der Stelle des alten Rathauses steht.
Hamburger Rathaus: Wiederaufbau der Stadt hatte Vorrang
Von Anfang an war klar, dass es sich dabei nur um Übergangslösungen handeln konnte, und so begann noch im Brandjahr mit Vorschlägen der Architekten Gottfried Semper und Alexis de Chateauneuf die Planungsphase für einen Rathausneubau. Sie sollte sage und schreibe 46 Jahre dauern!
Zunächst hatte der aufwendige Wiederaufbau der Stadt nach dem Brand Vorrang, dann verzögerten die politischen Unruhen 1848/49 das Projekt. Ein 1854 ausgeschriebener Architektur-Wettbewerb, bei dem immerhin 43 Entwürfe eingingen, verebbte wegen der Handelskrise von 1857 ergebnislos, danach beschäftigten die politisch-militärischen Auseinandersetzungen vor der Reichsgründung 1870/71 Hamburgs Stadtväter zu stark. 1876 schrieb die Rathausbau-Kommission das Projekt erneut aus und kürte auch einen Siegerentwurf.
„Rathausarchitekten“ reichten prachtvollen Entwurf ein
Doch die Ausführung wurde noch im selben Jahr per Bürgerschaftsbeschluss verhindert. Als die 1872 gebildete Rathausbau-Kommission den Wettbewerb 1876 erneut ausschrieb und 131 Entwürfe „rechtzeitig“ (18 verspätet) eingingen, schien der Baubeginn nur eine Frage der Zeit zu sein. Zwar gab es einen Sieger – den kolossalen Entwurf der Gruppe Mylius Bluntschli aus Frankfurt am Main –, doch die Bauausführung wurde noch im selben Jahr per Bürgerschaftsbeschluss verhindert.
In dieser Phase der erneuten Stagnation und Ratlosigkeit scharte der Hamburger Architekt Martin Haller eine Gruppe namhafter Hamburger Baumeister um sich. Die späteren „Rathausarchitekten“ überreichten dem Senat im Dezember 1880 einen prachtvollen Entwurf, der dem heutigen Rathaus schon sehr stark ähnelte.
Martin Haller verzichtete auf Festsäle
Das Gebäude im Stil der deutschen Renaissance, das da zunächst auf den Arbeitstischen der Architektengruppe entstanden war, wirkte wesentlich schlanker als die anderen Entwürfe. Grund: Haller verzichtete mutig auf die zunächst geforderten Festsäle, „denn das mag“ – so begründete er seine Planung – „bei fürstlichen Palästen (...) am Platze sein“. Für ein Rathaus dagegen scheine es nicht nur entbehrlich, sondern es widerspreche gewissermaßen der ernsten und würdevollen Hauptbestimmung des Gebäudes und nicht minder den Überlieferungen eines republikanischen Gemeinwesens.
Auch der einfache Mittelturm mit der schlanken Spitze (als Zeichen der unabhängigen Stadtverwaltung) ließ den Entwurf geschmeidiger erscheinen – „in der That dürfte sich schwerlich für den Mittelpunkt einer communalen Regierung ein wirksamerer architectonischer Ausdruck finden lassen“, schrieb Martin Haller.
Grundsteinlegung erfolgte am 6. Mai 1886
Auch an diesem Entwurf musste dann noch fünf Jahre gefeilt werden, bevor die Bürgerschaft im Juni 1885 endlich grünes Licht gab. Damit waren die bürokratischen Hindernisse zwar beseitigt, aber die Bauarbeiten gestalteten sich auch nicht viel weniger kompliziert. Denn um den sumpfigen Untergrund zu befestigen, mussten zunächst 4000 Eichenpfähle in den Boden gerammt werden – eine Tatsache, aus der sich später allerlei Witze über die „wackelige“ Hamburger Politik ableiteten.
Am 6. Mai 1886 erfolgte die feierliche Grundsteinlegung. Es war ein sonniger, windstiller Tag – wie geschaffen für den festlichen Anlass. Auf zeitgenössischen Fotografien ist zu erkennen, dass zahlreiche Damen aus der Hamburger Gesellschaft ihre Schirme aufgespannt hatten. Aber endlich mal nicht, um sich gegen Regen zu schützen, sondern um Sonnenbrand zu vermeiden. Das Datum war mit Bedacht gewählt: Der Große Brand hatte auf den Tag genau 44 Jahre zuvor zur Sprengung des alten Rathauses geführt.
Hamburger rückten enger zusammen
Nun also folgte endlich das festliche Startsignal für den neuen Bau. Dieses demonstrative „weiter so und jetzt erst recht“ nach entbehrungsreichen Jahren verlieh nicht nur dem Festakt selbst Glanz. Es führte an diesem Tag auch die Hamburger ein Stück enger zusammen, die mit viel Optimismus und Heimatverbundenheit in die Zukunft blickten. 1600 Ehrengäste fanden sich vor der Börse an der Südseite des noch unbebauten Rathausmarkts ein. Umringt von den Honoratioren der Stadt, stand dort auf einem roten Läufer der Grundstein samt Kassette. Das Ganze sah aus wie ein kleiner Altar.
Tausende drängten zum Platz. Jeder wollte dabei sein. Die Menschen saßen auf den Dächern der benachbarten Häuser, kletterten sogar auf Mauersimse und Laternenmasten. Heute würden vielen vermutlich Livebilder aus Fernsehen oder Internet ausreichen, damals war man auf die Berichte aus Tageszeitungen angewiesen, in denen die Atmosphäre vor Ort oft mehr schlecht als recht wiedergegeben werden konnte.
Richard Keßler lieferte Augenzeugenbericht
Unter einem Foto findet sich folgende Beschreibung: „Die officiell berufenen und geladenen Festgenossen sind um den Grundsteinplatz versammelt, zunächst demselben die Senatoren im Ornat, dahinter auf den Tribünen hervorragende Vertreter des Civil- und Militärstandes, ringsherum, auch auf dem Balcon und dem Dache der Börse, eine festlich angethane Menge. Decorationen mit Fahnen, Flaggen, Bändern und Wappen thun das Ihrige, um dem grossen Platze des Rathauses ein imposantes Ansehen zu geben.“
Einen Augenzeugenbericht vom Festtag vor 130 Jahren lieferte – dokumentiert von der Historikerin Renate Hauschild-Thiessen – der damalige Hamburger Oberstaatsanwalt Richard Keßler. Er gehörte an diesem Tag bei „herrlichstem, warmen, wolkenlosen Maiwetter“ zu den Gästen des „Festacts“. Keßler schrieb an seine Verlobte: „Sehr repräsentabel macht sich bei solchen Aufzügen die altspanische Tracht des Senats. (...) Aber es macht schon an sich immer einen feierlichen Eindruck, solche nach Tausenden zählende Versammlung andächtig zu einem gemeinsamen Zwecke vereinigt zu sehen; dazu noch die gut aufgeführte Musik und all‘ das andere Gepräge.“
Kirchenglocken läuteten eine halbe Stunde lang
Bevor die Kassette mit einer Urkunde und diversen Tageszeitungen im Boden verschwand, läuteten eine halbe Stunde lang alle Kirchenglocken. Richard Keßler notierte: „Ganz eigen stimmt es, wenn man die Urkunde und die anderen Sachen in die Capsel einlöthen und in den Grundstein verschließen sieht. Keiner von der ganzen großen Gesellschaft wird diese Sachen wieder ans Tageslicht kommen sehen, und wie mag der jetzige Festplatz aussehen, wenn es nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden einmal geschieht.“
Eingemauert unter dem Rathaus schlummert auch das ziemlich holprige Gedicht, das an diesem Tag in der „Reform“ erschienen war. Ein Auszug: „Von hohen Thürmen kündet der Glocken froh Geläut /dass zu einem neuen Rathaus den Grundstein ihr legt heut.“
Bauarbeiterstreik sorgte für Verzögerungen
Bei der Grundsteinlegung konnte noch niemand ahnen, dass der Bauarbeiterstreik im Jahr 1889 und die schwere Cholera-Epidemie in Hamburg drei Jahre später für weitere Verzögerungen sorgen würden. 1894 – wiederum am 6. Mai – wurde das Richtfest gefeiert, aber noch feierlicher gestaltete sich natürlich die Einweihung am 26. Oktober 1897. Dazwischen, im Sommer 1895, sorgte allerdings noch ein Ereignis für viel Aufregung, das bei aller Feierlichkeit auch von einigen kuriosen Momenten nicht frei blieb.
Die Endphase der Bauarbeiten fiel in eine Zeit, in der althamburgischer Bürgerstolz immer stärker durch flammende Kaisertreue abgelöst worden war. Nachdem Reichsgründung und Zollanschluss der Stadt einen wahren Geldsegen beschert hatten, bekannten sich Hamburgs tonangebende Großbürger, vor allem die Kaufleute, energisch zu Kaiser und Reich.
Tausende Meter Plüsch und Damast wurden für den Kaiser drapiert
Die Stadt war innerhalb kurzer Zeit zur leistungsstärksten Metropole Deutschlands geworden – die Wirtschaft brummte nur so. Kein Wunder, dass es die ehrwürdigen Bürgermeister und Senatoren gar nicht abwarten konnten, dem markigen Kaiser Wilhelm II. ihr neues Rathaus zu präsentieren, es von ihm gleichsam weihen zu lassen. Die Gelegenheit war gut, als Wilhelm II. im Juni 1895 zur Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals (der seit 1948 Nord-Ostsee-Kanal heißt) mit einigen verbündeten Fürsten gen Norden reiste. Da störte es auch nicht weiter, dass das Rathaus ja noch gar nicht vollendet war ...
Um den Bau ins rechte Licht zu rücken, musste etwas nachgeholfen werden, und wieder einmal scheute Hamburg dafür weder Kosten noch Mühen. Zunächst wurden kolossale Ölgemälde und Plastiken aus der Kunsthalle entliehen und in den Räumen verteilt. Für die Gemütlichkeit sorgten Tausende Meter Plüsch und Damast, mit denen Helfer die Wände drapierten.
80 Senatorenfamilien spendeten Silberbesteck
Damit Majestät auch gebührend speisen können würde, spendeten 80 Senatorenfamilien wertvolles Silberbesteck als Ersatz für das in der Franzosenzeit eingeschmolzene Senatssilber. Auch kostbare Leuchter, Schalen, Schüsseln, Aufsätze und Pokale trafen ein. Der „Hamburgische Correspondent“ frohlockte später: „An dem Tage, an dem Seine Majestät der Kaiser dem neuen Rathaus durch seine Gegenwart die Weihe gab, wurde der neue Silberschatz des Senats zum ersten Male von seinen hohen Gästen in Gebrauch genommen.“ Dieser Silberschatz wurde weiter vergrößert, und er überdauerte die Jahrzehnte unbeschadet. Noch heute kommt er bei Feierlichkeiten zum Einsatz.
Der Saal, in dem die Vertreter der Freien und Hansestadt einträchtig mit dem Monarchen zu Tisch sitzen würden, war besonders festlich geschmückt. Eingerahmt von gigantischen Seebildern kennzeichnete dort ein riesiger Baldachin die Sitzplätze der „Allerhöchsten Gäste“. Zur Erinnerung an das denkwürdige Ereignis erhielt der Raum den Namen „Kaisersaal“. Er heißt noch immer so, und eine Bronzetafel über der Mitteltür erinnert auch noch 127 Jahre später daran, dass „Kaiser Wilhelm und seine Verbündeten in diesem Hause am 19. Juni 1895 weilten“.
Kaiser von Neubau „sehr beeindruckt“
Nur wenige Hamburger störte es, dass der Sitz einer republikanischen Regierung für den Besuch quasi wie ein Fürstenschloss herausgeputzt wurde. Der linksgerichtete „Vorwärts“ höhnte zwar, das Rathaus werde „mit dem geringen Kostenaufwand von einem Viertelmilliönchen Reichsmark für ganze drei Stunden in einen Potemkinschen Speisesaal verwandelt“, aber den meisten gefiel dieser Pomp. Mehr noch: Die kaisertreuen Hamburger stürmten den Rohbau geradezu, um sich die prächtige Ausstattung anzusehen, und schließlich mussten sogar „Einlaßkarten“ verteilt werden.
Der Kaiser jedenfalls, der schließlich unter ohrenbetäubendem Jubel in das Rathaus Einzug hielt, soll – so eine Zeitung später – von dem Neubau „sehr beeindruckt“ gewesen sein. Die Hamburger selbst waren an diesem Tag zufrieden – mit sich, ihrem Kaiser und ihrem Rathaus.
Otto von Bismarck sagte ab, er habe eine Halsaffection
Übrigens: Zur Rathaus-Einweihung vor 125 Jahren wurde der Monarch nach einigem Hin und Her dann doch nicht eingeladen. „Es ist vielmehr ein hamburgisches Fest“, betonte Bürgermeister Johannes Versmann in seiner Rede, „gewissermaßen ein häusliches Fest des hamburgischen Gemeinwesens“.
Überall in der Stadt hatte man Flaggen gehisst, der Rathausmarkt war schon morgens schwarz vor Menschen. Selbst auf den Dächern der Droschken saßen Zuschauer. Nur einer fehlte an diesem Tag: Altreichskanzler Otto von Bismarck, damals einziger lebender Ehrenbürger Hamburgs, hatte abgesagt. „Eine Halsaffection“, so bedauerte er in seinem Entschuldigungsschreiben, halte ihn in Friedrichsruh fest.
Hamburger Rathaus: Stadt musste lange darauf warten
Schließlich war es so weit: Als von den Türmen der vier Hauptkirchen Choralmusik erklang und die Kapelle des Hanseatischen Infanterieregiments Nr. 76 „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ schmetterte, zog der Senat in das neue Rathaus ein.
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Das Bild der Senatsmitglieder – in altspanischer Amtstracht, weißem Mühlradkragen und Persianerumhang – ist bis heute bewahrt: Das berühmte Gemälde, das Hugo Vogel 1900 bis 1904 ausführte, hängt unübersehbar im Bürgermeistersaal. Bürgermeister Johannes Lehmann, Vorsitzender der Rathausbau-Kommission, übergab den Schlüssel an Johannes Versmann, der als Erster Bürgermeister den Zug anführte.Die Stadt hatte nun, worauf sie so lange warten musste: ihr neues, schönes Rathaus.
Lesen Sie morgen: Ein Interview mit Carola Veit (SPD), der Präsidentin der Bürgerschaft.