Hamburg. Die Inflation ist auf dem höchsten Stand seit 70 Jahren. Und viele Preiserhöhungen werden noch weitergegeben an die Kunden.
Es ist früher kaum vorgekommen, dass sich Industriebosse, Wohnungsvermieter und Politiker mit langfristigen Wetterprognosen befassten und inständig hofften, dass es milde bleibt. In diesem Jahr ist das anders – nun könnte die Witterung über Wohl und Wehe der Wirtschaft entscheiden. Sollten die Temperaturen in den kommenden Monaten in den Keller rauschen, wird der Gasbedarf gewaltig steigen. Und schlimmer noch: Der Winter entscheidet darüber, wie hoch der Gaspreis in den kommenden Monaten schnellen wird.
Immerhin: Die Langfristmodelle geben bislang vorsichtige Entwarnung: Die US-amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration steuert seit Monaten auf Mildwinterkurs. Der Winter 2022/23 soll demnach um rund ein bis zwei Grad wärmer ausfallen als das Klimamittel der Jahre 1991 bis 2020. Damit käme der Winter sogar in den Bereich der wärmsten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881.
Krisen in Deutschland: Stimmung im Herbst gekippt
Etwas weniger euphorisch für eine verunsicherte Gesellschaft fällt die Langfristprognose des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersage aus. Es erwartet einen durchschnittlich kalten Winter mit kürzeren Kälteeinbrüchen. Das bedeutet: Es wird deutlich kühler, als es in den vergangenen Jahren war. Und damit würden die Gasspeicher deutlicher strapaziert als in der Prognose der Amerikaner. Immerhin spricht die Wahrscheinlichkeit für eine milde Jahreszeit: In den vergangenen 20 Jahren waren 65 Prozent der Winter gegenüber dem vieljährigen Mittelwert von 1961 und 1990 zu warm.
Das Wetter dürfte nicht das einzige Problem in der kalten Jahreszeit werden. Denn nach dem Sommer des Wohlgefallens, in dem die Bundesregierung mit Milliardenprogrammen wie dem Neun-Euro-Ticket und der Benzinpreisbremse nicht nur nötige Anpassungen verzögerte, sondern auch die Menschen in falscher Sicherheit wiegte, ist die Stimmung mit dem Herbst kräftig gekippt: In der vergangenen Woche liefen in Gera rund 10.000 Demonstranten dem AfD-Rechtsaußen Björn Höcke hinterher, um gegen die aktuelle Politik der Bundesregierung, die Inflation und den Krieg in der Ukraine zu protestieren.
Der Winter in Deutschland wird teuer
In anderen europäischen Ländern droht sich die Wut über steigende Preise und die Angst vor einer Eskalation des Konfliktes in eine Massenbewegung zu verwandeln – mit ungewissem Ausgang. Wie heißt es schon bei Bert Brecht in der Dreigroschenoper: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“
Egal, ob der Winter kalt oder warm wird, teuer wird er zweifellos: Zumindest bei der Inflation ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht, bei der persönlichen Betroffenheit noch nicht einmal in Sicht. Viele Abrechnungen oder Abschlagszahlungen über die neuen Strom-, Gas- oder Fernwärmekosten haben die Bürger noch gar nicht erreicht, auch die Öltanks sind vielerorts noch halb gefüllt. Wie teuer das Leben am Ende wird, kann keiner sagen.
Inflation erreicht höchsten Stand seit 70 Jahren
Gefühlt sind die Preise schon viel weiter gestiegen als gemessen: Laut einer Umfrage der Internationalen Hochschule (IU) mit Sitz in Erfurt liegt die „gefühlte Inflation“ bei 34,2 Prozent. „Wenn wir jedes Mal beim Einkaufen merken, dass der Warenkorb teurer wird, neigen wir dazu, die reale Steigerung im Gesamten zu überzeichnen“, sagt Johannes Treu, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Erfurter Hochschule.
Im September sprang die Inflation der Statistiker auf zehn Prozent und damit auf den höchsten Stand seit rund 70 Jahren. Damit war die Rate zum ersten Mal seit dem Korea-Krieg Anfang der 1950er-Jahre wieder zweistellig. Und das ist noch nicht das Ende: Ökonomen rechnen in den kommenden Monaten mit weiter steigenden Teuerungsraten. Viele Preiserhöhungen werden noch weitergegeben – etwa gestiegene Energiepreise in der Fertigung oder Nahrungsmittelpreise in der Gastronomie. Im September verteuerte sich Energie innerhalb eines Jahres um 43,9 Prozent und Nahrungsmittel um 18,7 Prozent.
„Das ist kein vorübergehendes Phänomen"
Diese Preissteigerungen werden auf die Konsumenten durchschlagen, die seit Jahren keine Inflation mehr kennen. Zwar haben viele Haushalte in den vergangenen Monaten der Pandemie viel Geld auf die hohe Kante gelegt, die Sparquote hatte sich während der Corona-Lockdowns gewaltig erhöht. Doch mittelfristig bleibt weniger Geld in der Tasche: Nach einer Umfrage des Handelsverbandes Deutschland (HDE) schränken sich bereits 60 Prozent der Verbraucher beim Einkaufen ein. Für die kommenden Monate wollen sogar 76 Prozent der Befragten sparsamer einkaufen.
„Die Hauptbelastung findet derzeit bei den privaten Haushalten statt, die einen massiven Kaufkraftverlust hinnehmen müssen. Und der wird sich im Laufe des nächsten Jahres noch verstärken“, sagte Torsten Schmidt vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Je länger die Raten hoch bleiben, umso stärker wird der Vermögensverzehr: Bei acht Prozent Inflation halbiert sich der Wert des Geldes in nur acht Jahren. Wir alle werden ärmer. „Das ist kein vorübergehendes Phänomen, das wird uns länger beschäftigen“, sagte Ökonom Schmidt.
ArcelorMittal hat zwei Anlagen stillgelegt
Zwar ist der Anteil des privaten Konsums in der Bundesrepublik am Bruttoinlandsprodukt mit rund 50 Prozent niedriger als in Staaten wie den USA oder Griechenland, wo er bei mehr als zwei Dritteln liegt; aber er ist noch immer hoch genug, um das Wachstum auszubremsen.
Das schürt die Unsicherheit in der Wirtschaft, die hierzulande schon unter der Versorgungsunsicherheit ächzt. Die energieintensiven Unternehmen – von denen es gerade in der Hansestadt einige gibt – fahren ihre Produktion immer weiter zurück. Europas größter Stahlkonzern ArcelorMittal hat im Norden zwei Anlagen bis auf Weiteres stillgelegt. In normalen Zeiten benötigt das Unternehmen eine Terawattstunde Strom und zwei Terawattstunden Gas – bei den aktuellen Preisen ist jede Produktion mit Verlusten verbunden.
Aurubis warnt vor Gefahren durch Energiepreisexplosion
Das Aluminiumwerk von Trimet hatte die Produktion schon im Oktober 2021 gedrosselt. „Das derzeitige Strompreisniveau sorgt dafür, dass die Kosten für die Herstellung von Aluminium in einem Maße gestiegen sind, dass sich keine kostendeckende, geschweige denn gewinnbringende Produktion bewerkstelligen lässt“, ließ das Unternehmen wissen. Der Kupfer-Hersteller Aurubis produziert noch weiter, warnt aber ebenfalls vor den Gefahren durch die Energiepreisexplosion.
Die Deindustrialisierung wird real. Nach einer Analyse der Deutschen Bank wird die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe im laufenden Jahr um 2,5 Prozent und im kommenden Jahr um weitere fünf Prozent schrumpfen; in der Chemie könnte das Minus sogar bei zehn (2022) beziehungsweise neun Prozent liegen: „Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten“, heißt es in der Analyse der Bank. Gerade für den deutschen Mittelstand, insbesondere in den energieintensiven Branchen, werde die Anpassung an eine neue Energiewelt eine größere Herausforderung, an der manche Unternehmen scheitern werden.
Druck auf die Politik dürfte weiter zunehmen
Mitte der Woche bekam es die Bundesregierung auch noch einmal schriftlich: Der IWF erwartet im kommenden Jahr für Deutschland eine Rezession – die Wirtschaft soll um 0,3 Prozent schrumpfen und damit stärker als in allen anderen großen Industriestaaten.
Bislang sind Pleiten, Produktionskürzungen und Stilllegungen noch die Ausnahmen – aber was passiert, wenn immer mehr Beschäftigte von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen sind? Dann dürfte der Druck der Gewerkschaften auf die Politik zunehmen, die bislang sehr verständnisvoll die ideologiegetriebene Energiepolitik der Bundesregierung begleitet hat.
Politik muss Entfremdung in Europa verhindern
Ein weiterer Aspekt, auf den der Kriegsherr im Kreml setzt und den die hiesige Politik verhindern muss, ist eine Entfremdung in Europa. In den ersten Krisentagen der Pandemie erlebte der Kontinent einen Rückfall in die Zeiten des Nationalismus: Im Corona-Frühjahr 2020 blickten die Regierungen egoistisch auf die eigenen Vorräte an Schutzausrüstungen und Masken und verhängten Exportverbote. Zu sicher sollten wir nicht sein, dass es im Winter anders wird. Zwar hält die EU ihre Mitgliedsstaaten an, in Extremfällen Gas an Nachbarländer abzugeben.
Aber bei den bilateralen Verträgen, die technische, rechtliche und finanzielle Fragen klären, hapert es noch. Was ist, wenn es hart auf hart kommt? Werden dann deutsche Großverbraucher heruntergefahren, um österreichische Krankenhäuser zu versorgen? Werden die Holländer frieren wollen, damit die deutsche Industrie weiterläuft? Deutschland hat die größten Erdgasspeicher in Europa mit einer Kapazität von rund 230 TWh – dummerweise mit 1000 TWh (davon 780 TWh zwischen Oktober und März) aber auch den größten Verbrauch – und einen, der eben nicht allein durch Gasspeicher zu stillen ist.
Russland liefert über andere Pipelines nach Europa
Was ist, wenn auch die Nachbarn das gespeicherte Gas benötigen? Wie in Zeiten der Pandemie könnte ein Dominoeffekt von Exportverboten einsetzen, wenn der Winter hart und die Zulieferungen karg sind. Die Ungarn haben den Verkauf von Erdgas ins Ausland bereits verboten. Was in der Aufregung um Nord Stream 1 und 2 übersehen wird: Über andere Pipelines liefert Russland noch nach Europa.
Die Analysten der Berenberg Bank hatten Ende August drei Szenarien für Europas Winter kalkuliert. Das Best-Case-Szenario mit einer gedrosselten Lieferung von 20 Prozent über Nord Stream 1 ist schon Geschichte. Das zweite Szenario ist nun gültig: Es geht von einem normalen Winter, Gaseinsparungen, die bis zum Ende des Winters allmählich von fünf auf zehn Prozent des Durchschnitts vor 2022 steigen, und Importen von nichtrussischem Gas in der Nähe ihres derzeitigen erhöhten Niveaus aus.
„Ohne Nord Stream 1 wird es eng"
Damals hieß es: „Ohne Nord Stream 1 wird es eng. Wenn es überhaupt kein russisches Gas gibt, könnte die Situation äußerst herausfordernd werden.“ Dann würden zusätzliche freiwillige Einsparungen oder schließlich erzwungene Kürzungen der Gaslieferungen an Teile der Industrie (Rationierung) wahrscheinlich.
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Zweifellos wird dieser Winter ein besonderer Test, wie weit die europäische Solidarität reicht, wie weit aber auch die innerdeutsche Solidarität trägt. Blickt man auf den wachsenden Ost-West-Konflikt in der aktuellen Debatte, aber auch auf die Tonalität der Diskussion und die Verbitterung auf vielen Seiten, wachsen die Zweifel. Wir haben in den vergangenen Jahren eine Entsolidarisierung der Gesellschaft gesehen.
"Viele Leute wollen aus Deutschland weg"
Auf der einen Seite haben laute wie radikale Minderheiten über Ab- und Ausgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft die Debatten beherrscht und Andersdenkende als Sexisten, Rassisten, Kartoffeln, Egoisten, Kapitalisten verunglimpft. Diese schrillen Töne haben zu viel Raum in Medien und Politik bekommen und die Gesellschaft gespalten.
„Mittlerweile kenne ich erschreckend viele Leute, die aus Deutschland wegwollen – quer durch alle Branchen und Altersschichten“, sagte unlängst der Hamburger Schriftsteller Matthias Politycki der „Welt“. Er hatte seine Heimat im vergangenen Jahr aus Protest gegen das Gendern und den allgegenwärtigen illiberalen Aktivismus verlassen.
Krisen in Deutschland: "Wer Geld hat, wandert aus"
Es gibt längst einen Exodus an Verantwortung – in das Private, ins Desinteressierte oder eben gleich ins Ausland. „Leistungsträger gehen selten auf die Straße, sie gehen eher weg“, schrieb mir kürzlich eine Unternehmerin. Und ein Unternehmer, der aus Hamburg nach Österreich zog: „Deutschland aktuell kurz erklärt: Wer Geld hat, wandert aus. Wer kein Geld hat, wandert ein.“ Diese Slogans kommen nicht mehr vom Narrensaum der Gesellschaft, sondern aus ihrer Mitte.
Ausgerechnet jetzt, wo Zusammenhalt wichtiger denn je ist, zerfällt die Gesellschaft weiter. Viele hatten sich gefreut, dass wir das nationale Denken überwunden haben. Nur blöd, wenn es in diesem Winter noch gebraucht wird.