Hamburg. Erziehen ohne Bestrafungen, eine liebevolle Sprache im Alltag mit Kindern kann man trainieren. Expertin erklärt, wie das gelingt.

Manchmal, da dauert es Jahrzehnte, bis sich Bewegungen im Kleinen zu wahren Trends durchsetzen. Bei der sogenannten Gewaltfreien Kommunikation ist das aktuell zu beobachten. Momfluencer – Mütter, die ihren Alltag auf Instagram teilen – beschäftigen sich damit, junge Eltern suchen nach Möglichkeiten, ihre Kinder zu begleiten, die nicht auf dem zumeist selbst erlernten Erziehungskonzept mit Bestrafungen, lauter Stimme bei Missfallen oder Konsequenzen fußen.

In Rellingen gehört die Gewaltfreie Kommunikation zum Schulalltag

Die „Sprache des Herzens“, wie die Gewaltfreie Kommunikation, kurz GfK, auch genannt wird, scheint einen Zeitgeist des Umbruchs zu treffen. Sie basiert auf dem Konzept des amerikanischen Psychologen Marshall Rosenberg. Er verbreitete seine Ansichten zu wertschätzender Sprache, die Empathie als Grundvoraussetzung gelingender Kommunikation als Basis hat, bis zu seinem Tod im Jahr 2015 weltweit in Trainings, Gesprächen mit Politikern, vermittelte in Kriegs- und Krisengebieten.

Martina Wohlers übt sich seit gut zwanzig Jahren in der GfK, ist im Team des Hamburger Instituts für Gewaltfreie Kommunikation. Die Sozialpädagogin erzog ihre beiden Kinder dadurch ganz anders als selbst erlernt und gibt ihr Wissen nun an die Kleinsten weiter: an Kita- und Grundschulkinder. In Rellingen hat sie eine Stelle an einer Grundschule und vermittelt dort jeden Tag nach den Regeln der GfK.

Erziehung: So gelingt gewaltfreie Kommunikation

„Bei uns gibt es einen Satz: ,Wer schlägt, der geht – und zwar ins Gespräch!“, sagt Wohlers. Sie ist überzeugt, dass sich alle Konflikte friedlich auflösen oder im Nachgang gemeinschaftlich besprechen lassen. Ihre Erfahrung zeigte, dass nach dem Aufdröseln der Streitpunkte und durch die immerwährende Suche nach dem jeweiligen Bedürfnis der Beteiligten, Verständnis aufkommt. Bei allen Streitparteien.

Martina Wohlers ist Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation.
Martina Wohlers ist Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation. © Privat | Privat

Zu Schuljahresbeginn kracht es oft zwischen den Grundschülern

Gerade jetzt, wenige Wochen nach dem Start des neuen Schuljahres, sind Konflikte zwischen Kindern durch neue Klassenkonstellationen, Bildung von Grüppchen und Freundschaften an der Tagesordnung. Auch die Ablösung von den Eltern bei den Erstklässlern ist ein Thema. „Da gibt es morgens viele Tränen von Kindern, die es noch nicht so gewohnt sind“, sagt Martina Wohlers. Wo früher eher rüde mit „Jetzt stellt euch nicht so an“ oder „Da mussten wir alle durch“ reagiert wurde, herrscht nun vermehrt Empathie unter den Pädagogen. „In solchen Situationen kann man die Kinder ganz wunderbar nach den Grundlagen der gewaltfreien Kommunikation empathisch aufnehmen.

Man kann fragen: „Bist du gerade traurig? Ist die Situation noch neu für dich? Wärst du jetzt lieber noch bei Mama? Würde es dir vielleicht helfen, wenn ich dich begleite? Dann knüpft man an die Bedürfnisse an, man hat einen Kontakt mit den Kindern, und der Weg ist schon nur halb so schwer.“ Ihr Credo bei der Arbeit mit den Jüngsten, aber auch in der Familie oder in den Seminaren, die sie für Pädagogen oder in Kitas gibt, ist: „Es gibt immer einen guten Grund für schlechtes Verhalten.“

Ein Satz für die Kühlschranktür, birgt er doch den Kern: Es geht um die Bedürfnisse – wie Nahrung, Zuneigung, Kontakt, Austausch, Ruhe, Bewegung –, alles das, was Menschen für ein entspanntes Leben brauchen. Die Nichterfüllung dieser sind die wahren Gründe für Konflikte. Für Kinder übersetzt wird das mit Fragen wie „Was würde dich gerade unterstützen? Gibt es etwas, was dich jetzt trösten könnte?“

Erziehung: „Nicht das Kind ist schlecht, sondern das Verhalten"

Veranschaulicht wird das Konzept durch zwei Tiere: Wolf und Giraffe. Das pflanzenfressende Tier steht in der GfK für die empathische Art der Sprache. Die Giraffe ist das Landsäugetier mit dem größten Herzen, hat mit ihrem langen Hals einen sehr weiten Blick. Sie praktiziert die Sprache der Verbindung, sie fragt: „Was fühlst du? Was brauchst du?“

Im Gegensatz dazu der Wolf, der den Kopf schnüffelnd dicht am Boden hält, das wissen schon die Kleinsten. Er steht für die „dominanzbasierte Sprache mit Beschuldigung, Unterdrückung und Bewertung“, weiß Wohlers. Wie ein Wolf, der seine spitzen Fangzähne in seine Beute bohrt, können auch aggressive Worte unseren Gesprächspartner schwer verletzen. Um jemandem wirklich weh zu tun, müssen nämlich nicht immer Fäuste zum Einsatz kommen.

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Deshalb steht das zugewandte Miteinander im Zentrum, die Annahme, dass jeder die besten Absichten hatte. Wohlers wiederholt gern: „Nicht das Kind ist schlecht, sondern das Verhalten ist nicht akzeptabel.“ Die dahinter liegende Frage lautet daher: „Was war für das Kind so schlimm, dass es sich nicht anders zu helfen wusste? Es bekommt erst einmal Empathie, dann gibt es auch keine Täter und Opfer mehr.“ Sondern nur noch Kinder mit Bedürfnissen.

Veränderungen in erlernten Mustern brauchen viel Arbeit und Zeit

Wohlers fragt im ruhigen Gespräch nach den Beweggründen, erfährt über Kummer, persönliche Erfahrungen und Vorgeschichten. „Wichtig ist dann, die anderen Kinder ins Boot zu holen, und ich habe noch nie mitbekommen, dass die Kinder dann ihr Herz verschließen. Ganz von selbst folgt dann ein Bedauern, eine Entschuldigung.“ Immer wieder sei sie von der „Magie“ begeistert, ohne Schimpfen, Manipulation und Strafen Konflikte zu lösen.

Weniger magisch, vielmehr richtiges Training sei es gewesen, ihre Art des Sprechens umzustellen, erinnert sich Wohlers an ihre eigenen Anfänge mit der GfK. „Es geht um einen authentischen Selbstausdruck, es geht nicht darum, alles glatt zu machen. Erst geht es um den Kopf, die Haltung.“ Wichtig dabei: „Ohne Arbeit ist das nicht zu haben. Die gute Nachricht: Jede klitzekleine Änderung, Wahrnehmung, bevor man den Wutanfall hat, ist wertvoll.“

Denn: Ein lang eingefahrenes Verhalten zu ändern, das braucht Zeit und den Zugang dazu. „Ich möchte Mut machen: Wenn sich eine Person ändert, dann ändert sich das ganze System“, sagt Martina Wohlers und bestärkt Eltern, auch in stressigen Situationen durchzuhalten. Wenn Eltern merken, dass sie getriggert werden von einer Situation – beispielsweise einem unaufgeräumtem Zimmer –, sollten sie durchatmen.

Tief durchatmen. Sich des eigenen Bedürfnisses nach beispielsweise Ordnung bewusst werden. Und dann erst beginnen, die Lage zu schildern. Zuhören. Fragen. Bitten formulieren. Immer wieder so. Die Magie, die komme mit der Zeit.