Kreis Pinneberg. Suchtexperten im Kreis Pinneberg sind alarmiert. Schon wenig Alkohol kann ein Kind lebenslang schädigen. Was Experten raten.
„Er hat sich immer separiert, war viel alleine. Die Eingewöhnungsphase im Kindergarten hat sehr lange gedauert“, erinnert sich Tobias Wolff an die erste Zeit mit seinem damals dreijährigen Pflegesohn. Und dann konnte er nachts schwer einschlafen. Die Wulffs waren ratlos. In der Pflegegruppe erhielten sie dann den Tipp, den Jungen im Hamburger Institut für Kinderneurologie untersuchen zu lassen. Dort stellte Dr. Jan Oliver Schönfeldt die Diagnose: Der Pflegesohn hat Fetale Alkoholspektrum-Störungen (Fetal Alcohol Spectrum Discorders, FASD), verursacht durch Alkoholmissbrauch seiner Mutter während der Schwangerschaft.
Kreis Pinneberg: Alkohol während der Schwangerschaft verursacht große Schäden
Alkohol und Schwangerschaft – das gehört nicht zusammen. Daran erinnert auch der jährliche „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ im September. Auch während des diesjährigen Erinnerungstages hatte Silvia Stolze vom Team Prävention und Jugendarbeit des Kreises Pinneberg zu einer Vortragsreihe über dieses Tabu-Thema gebeten. 45 Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter hörten im Elmshorner Kreishaus Experten wie Dr. Jan Oliver Schönfeldt oder Tobias Wolff.
Alkohol ist ein Zellgift. Es gelingt über die Nabelschnur zum Kind und schädigt besonders Gehirn und Nervensystem. Schon kleine Mengen können ein Kind im Mutterleib schädigen, schon ein einziger Rausch kann seine Gesundheit dauerhaft schwer gefährden – bis hin zu schlimmsten Behinderungen. Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sei die häufigste Ursache für nicht genetisch bedingte Behinderungen, so die Experten.
Zahl der Schwangeren, die Alkohol trinken „viel zu hoch“
Schönfeldt erläuterte, dass die Zahl von Schwangeren, die Alkohol trinken, noch immer viel zu hoch sei. Das Wissen um die Gefahren von Alkohol in der Schwangerschaft habe zwar zugenommen. Dennoch glauben immer noch viele, dass ein Glas ab und an nicht schade. Es gebe auch keine bekannte Schwellendosis, also eine Menge, die gerade noch in Ordnung sei.
Wolff nennt Zahlen: „1,6 Millionen Menschen sind davon betroffen“. Zwei bis drei Prozent aller Geburten seien in diesem Spektrum anzusiedeln, allein in Hamburg etwa 500 Kinder jährlich, die zu 90 Prozent ein Leben lang auf Hilfe angewiesen seien. Die Dunkelziffer bei FASD sei aber vermutlich viel größer. Denn beim Thema Diagnose gebe es großen Nachholbedarf.
Das liege auch an fehlendem Wissen unter Medizinern. Was die Aufklärung angeht „gibt es viel Luft hach oben“, so Schönfeldt. Man lerne zu wenig darüber an der Uni und auch in Lehrbüchern über Kinderneurologie sei kaum etwas zu finden, erklärt der Arzt. Zudem erkennen viele Ämter die Diagnose FASD nicht an.
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Welche Auswirkungen Alkoholkonsum bei Schwangeren hat
Die betroffenen Kinder sind kleiner als ihre Altersgenossen, haben einen kleineren Kopf, eine kürzere Nase, manche schielen leicht. Sie zeigen Entwicklungsstörungen, haben Merk- und Lernschwierigkeiten, eine eingeschränkte Impulskontrolle, neigen zu sozial unangemessenem Verhalten und Hyperaktivität. Ihre Fähigkeit, Handlungen zu planen, ist eingeschränkt, und vielfach können sie aus Fehlern nicht lernen. Die Symptome von FASD seien vielfältig, der Lebenslauf vieler Kinder ist ähnlich. Der Großteil von ihnen zeige Verhaltensauffälligkeiten, vor denen das pädagogische Umfeld oft kapituliere.
Nicht alle Kinder mit FASD weisen Lernschwierigkeiten auf, jedoch bestätigt die Literatur, dass die Mehrheit der an FASD erkrankten Kinder vor besonderen Herausforderungen gerade im schulischen Alltag steht. Da FASD eine irreversible Gehirnschädigung zugrunde liegt, sei das Ziel nicht die Heilung, sondern eine Verbesserung im ganz normalen Alltag.
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen brauchen weniger Leistungsdruck, aber klare Grenzen und Sicherheit, einen strukturierten Tagesablauf, ist im Flyer des Vereins FASD Deutschland zu lesen. „Mit den üblichen Bordmitteln bei der Erziehung kommt man auf keinen grünen Zweig“, sagt Schönfeldt.
Alkohol in der Schwangerschaft: Wozu Experten raten
Durch eine frühzeitige und geeignete Förderung und Begleitung und die richtige Wahl der Schulform könne aber viel Stress und Frustration bei den Betroffenen vermieden werden. „Es geht darum, Überforderungen zu vermeiden“, ergänzt Wolff. Es gilt, einfühlsam mit betroffenen Kindern und ihren Familien umzugehen. Wenn die Kinder gerne zur Schule gehen, sei schon ein wichtiges Ziel erreicht.
Verhaltensauffälligkeiten können sich erst nach einigen Jahren zeigen. So werde jedes zweite bis fünfte betroffene Kind später selbst alkoholabhängig oder sogar straffällig. Menschen mit FASD verstoßen dabei gegen Gesetzte, ohne es zu wollen, erläutert Schönfeldt. Als Beispiel berichtet er von einem jungen Mann, der verurteilt wurde, weil er mehr als zehn Mal vergessen hatte, eine Fahrkarte zu lösen. „Auch die Juristerei hat noch viel zu lernen.“
Das Tragische: „FASD ist eine zu 100 Prozent vermeidbare Schädigung“, sagt Stolze und fordert mehr Prävention gerade in Schulen. Kinder leiden auch auf andere Weise unter dem Alkoholkonsum ihrer Eltern. „Schätzungen gehen davon aus, dass deutschlandweit 2,7 Millionen Kinder mit einem Elternteil leben, der oder die alkoholabhängig ist oder einen kritischen Umgang mit Alkohol pflegt“, so Stolze.