Hamburg. Hamburger erkranken seltener, zeigt der Gesundheitsatlas der AOK. Cardiologicum-Experte: So lässt sich das Risiko minimieren.

Die Erklärung könnte einfacher nicht sein: Hamburgerinnen und Hamburger sind – im Durchschnitt! – jünger, fitter und wohlhabender als ihre Mitmenschen in den anderen Bundesländern. Zahlreiche Daten sprechen dafür, vom Baby-Boom in den Krankenhäusern über den Ansturm auf die Schulen und Fußballvereine bis zur überdurchschnittlich hohen Zahl der auch älteren Mitglieder in Fitnessstudios, die der Arbeitgeberverband deutscher Fitness- und Gesundheitsanlagen ermittelt hat.

All das hat positive Auswirkungen auf oder verhindert die mit fortschreitendem Lebensalter entstehenden koronaren Herzerkrankungen (KHK). Nach Zahlen der AOK, die dem Abendblatt exklusiv vorliegen, liegt die Krankheitshäufigkeit hier bei 6,3 Prozent, bundesweit sind es 8,3. Betrachtet wurden dabei Erwachsene ab 30 Jahren. Da in den Kohorten ab diesem Alter in Hamburg erheblich mehr Jüngere leben, wirkt sich das positiv auf die Statistik aus.

Herzerkrankungen in Hamburg: Das sind die Risikofaktoren

Die koronaren Herzerkrankungen sind deshalb so aussagekräftig für das Gesundheitsbild, weil sie im Zusammenhang mit den sogenannten Volkskrankheiten Bluthochdruck und Diabetes stehen. Beide erhöhen wie ein Bewegungsmangel oder das Rauchen das Risiko, eine Atherosklerose mit Plaques in den Blutgefäßen zu entwickeln. Daraus können Herzschwächen, Rhythmusstörungen oder sogar Infarkte und der plötzliche Herztod folgen.

Doch ganz so einfach sind die Erklärungen für die vermeintliche Hamburger Ausnahmestellung nicht, wie die Daten aus dem Gesundheitsatlas der AOK zeigen. In Hamburg leiden 78.700 Menschen über 30 an koronaren Herzerkrankungen (Stand 2020). Im Vergleich der Großstädte über 500.000 Einwohner zeigt sich, dass München noch besser dasteht (Krankheitshäufigkeit 5,5 Prozent), Essen allerdings viel schlechter (10,5). Da auf dem Land mehr Ältere als in Städten wohnen, ist dort die Häufigkeit ungünstiger.

Männer erkranken häufiger

Der Hamburger AOK-Regionalleiter Thomas Bott sagte: „Dass Männer häufiger an KHK erkranken, ist neben biologischen Faktoren auch durch den höheren Raucheranteil zu erklären. Tabakkonsum ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung einer KHK, und in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten war der Raucheranteil unter den Männern immer deutlich höher als unter den Frauen.“

Und tatsächlich spielen wie häufig bei Gesundheitsfragen Herkunft, Bildung und sozialer Status eine Rolle: „Die Analysen des Gesundheitsatlas bestätigen, dass Menschen aus materiell und sozial benachteiligten Regionen häufiger von einer KHK betroffen sind als Menschen aus sozioökonomisch privilegierten Regionen“, so Bott. Der Zugang zu strukturierten Behandlungsformen wie einem Disease Management Program (DMP) kann für die Betroffenen ein Vorteil sein. Die AOK glaubt, dass Patientinnen und Patienten bei regelmäßiger ärztlicher Betreuung und individuell vereinbarten Therapiezielen ihr Herzinfarkt-Risiko senken und die Lebensqualität erhöhen können.

Cardiologicum Hamburg: Das sagen die Herz-Experten

Prof. Martin W. Bergmann vom Cardiologicum in Wandsbek (17.000 Herzpatienten pro Quartal) sagte dem Abendblatt: „Die Möglichkeiten der modernen Medizin haben sich erheblich weiterentwickelt. Ein Infarkt kann verhindert werden.“ Bildgebungsverfahren wie die Szintigrafie könnten Risikopatienten identifizieren helfen, ohne dass gleich eine Herzkatheteruntersuchung gemacht werden müsse. Und: „Viele unserer Patienten erreichen mittels moderner Medikamente die heute bekannten Zielwerte, ohne unter Nebenwirkungen zu leiden.“

Das LDL-Cholesterin ist offenbar eines der größten Risiken. Prof. Bergmann sagte: „Wir empfehlen, den Wert auf unter 100 Milligramm pro Deziliter zu halten – unabhängig vom Alter.“ Nach Herzinfarkt oder Schlaganfall strebe man einen Wert von unter 55 an. Bei einer starken Absenkung der LDL-Cholesterinwerte mithilfe von Medikamenten bildeten sich Gefäßablagerungen zurück, sagte Bergmann.

Corona: Risikopatienten mieden die Krankenhäuser

Der Herzspezialist wies aber auch darauf hin, dass trotz aller koordinierten Krankheitsprogramme der Austausch zwischen den Patienten, Hausarzt und Fachärzten einer der wichtigsten Bausteine für die Gesundheit sei. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssten über Fortbildungen in die Praxen getragen werden. Zwischen Ärzten und Krankenhäusern spielten außerdem datenschutzrechtlich abgesicherte Messengerdienste eine immer größere Rolle. Um keine Zeitverzögerung zu haben und Patientendaten schnell allen zur Verfügung zu stellen, brauche es jedoch mehr Digitalisierung.

Patienten mit koronaren Herzerkrankungen haben bei einer Corona-Infektion ein höheres Risiko eines schweren Verlaufs. Begleitfaktoren wie Adipositas können das weiter verschlimmern. Vor allem während der Frühphase der Pandemie war zu beobachten, dass von Herzerkrankungen Betroffene den Weg um Arzt oder ins Krankenhaus aufgrund der (vermuteten) Infektionsgefahr gemieden haben. Diese „Arztvermeidungsstrategie“ hat erst recht zu einer Vielzahl unnötiger Todesfälle geführt, weil akute Erkrankungen nicht behandelt wurden.

Deutschland schlechter als der EU-Durchschnitt

Auch in Hamburg sanken die Zahlen der behandelten Herzinfarkte und Schlaganfälle – was natürlich nur ein erster statistischer Effekt war. Nach Auskunft von Ärzten sind viele Betroffene zu Hause gestorben. Auch der Onkologiereport der AOK hatte gezeigt, dass während der Corona-Pandemie die Bereitschaft gesunken ist, zur Krebsvorsorge zu gehen. Auch das kann im schlimmsten Fall tödliche Folgen haben.

Koronare Herzerkrankungen sind in Deutschland für etwa zwölf Prozent der Todesfälle verantwortlich und damit weit oben im Ursachen-Ranking. Anders als vermutet wegen des guten Zugangs zum ambulanten Versorgungssystem, ist Deutschland im Vergleich der EU-Länder (Eurostat-Daten aus 2017) etwas schlechter als der Durchschnitt, was die Sterblichkeit durch koronare Herzerkrankungen betrifft. Deutlich besser stehen Frankreich, die Niederlande, Portugal und Dänemark da; schlechter die baltischen Staaten, die Slowakei und Ungarn.