Hamburg. Deutsche Bahn und Hochbahn verzeichnen Anstieg von Hilfesuchenden. Landespastor fordert Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit.

„Ich freue mich, wenn jemand eine kleine Spende übrig hat.“ „Egal ob Essen oder Pfand, alles hilft.“ „Ich bin auch ein Mensch, in einer Scheißsituation, der Hilfe braucht“ – wer in den vergangenen Wochen in Hamburgs Bahnen unterwegs war, hat diese Sätze wahrscheinlich öfter gehört. Beispielsweise in der Linie S 1 bitten derzeit merklich mehr Menschen um Hilfe als noch in den Monaten zuvor.

„Diesen Anstieg nehmen wir auch wahr“, bestätigte ein Bahn-Sprecher auf Abendblatt-Anfrage. „Klar ist: Wir bewerten nicht, warum Menschen um Hilfe bitten. Das Thema kann letztendlich nur gesellschaftlich gelöst werden. Gleichzeitig gilt: Betteln ist laut den Beförderungsbedingungen im gesamten HVV nicht erlaubt.“ Die S-Bahn setze in den vergangenen Wochen deshalb wieder vermehrt auf Schwerpunkteinsätze, zusätzlich zum regulären Einsatz der S-Bahn-Wache. 300 Sicherheitskräfte sind nach Angaben der Bahn insgesamt für die S-Bahn-Wache im Einsatz, gleichzeitig seien bis zu 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Netz und an den Bahnhöfen unterwegs.

HVV: Wohnungslose betteln in S- und U-Bahnen

„Die Kräfte sind bei den Schwerpunkteinsätzen über mehrere Stunden konzen­triert im Citybereich und auf der S 1 im Einsatz. Dabei wird Betteln nicht nur unterbunden, die S-Bahn-Wache gibt den betroffenen Menschen auch Informationen zu Anlaufstellen und Hilfsangeboten“, so der DB-Sprecher. Dazu gehöre etwa die Bahnhofsmission. „Wenn sich Fahrgäste für Menschen in Not einsetzen möchten, empfehlen wir, dies über eine Spende an solche Organisationen zu tun.“

Auch die Hochbahn verzeichnet einen Anstieg in den U-Bahnen. „Wir können sagen, dass die Zahl bettelender Menschen in den Fahrzeugen im August höher als im Juli war“, sagte Sprecher Christoph Kreienbaum gegenüber dem Abendblatt. Ob das eine Entwicklung abbilde oder nicht, könne man derzeit aber noch nicht sagen.

„Einige dieser Kandidaten trifft man auch immer wieder"

Obdachlosenhelferin Christina Pillat-Prieß, die das Projekt Kältebus bei der Einrichtung CaFée mit Herz an der Seewartenstraße koordiniert, beobachtet: „Das sind Personen in sehr schlechtem gesundheitlichem Zustand: schlechte Haut, schlechte Zähne, offene Wunden und körperliche Beeinträchtigungen. Einige sind offenbar neu in unserer Stadt und kennen sich noch nicht aus, andere sind drogenabhängig und schlicht verzweifelt.“

In den Bahnen sei es für diese Personen einfacher, andere Menschen gezielt anzusprechen. „Einige dieser Kandidaten trifft man auch immer wieder, wenn man viel mit der Bahn unterwegs ist“, sagte Pillat-Prieß. „Ich glaube, dass die Situation in Hamburg für obdachlose Menschen zunehmend schlimmer wird. Bei 19 neuen, genehmigten Sozialwohnungen im Verhältnis zu 19.000 hilfesuchenden Menschen wundert mich das aber auch nicht – so kommen wir aus den Problemen nicht heraus.“

„Fast 19.000 Menschen sind in Hamburg wohnungslos"

Pillat-Prieß bezieht sich damit auf eine Zahl aus einer Bundeserhebung, auf die kürzlich auch die Diakonie aufmerksam machte. Dabei geht es um wohnungslose Menschen, die beispielsweise in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind. Landespastor Dirk Ahrens, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes Hamburg, sagte zum Tag der Wohnungslosen am 11. September: „Fast 19.000 Menschen sind in Hamburg wohnungslos. Das ist ein trauriger Rekord.“

Hamburg brauche „einen Aktionsplan und einen Neubeginn zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit“, so Ahrens weiter. Insbesondere müsse die Wohnungspolitik in Hamburg neu aufgestellt werden, damit in Zukunft jedes Jahr mehr wohnungslose Haushalte mit Wohnraum versorgt werden könnten als in den vergangenen Jahren.

Senat rechtfertigt niedrige Zahl neuer Sozialwohnungen

Wie das Abendblatt Anfang des Monats berichtete, wurden im ersten Halbjahr 2022 nur 19 Sozialwohnungen genehmigt. Zielsetzung des Senats ist es, jährlich 3000 geförderte Neubauwohnungen zu realisieren. Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) sagte damals dem Abendblatt: „Die Tatsache, dass in den ersten zwei Quartalen erst 19 geförderte Wohnungen bewilligt wurden, hat für das tatsächliche Jahresendergebnis keinerlei Signifikanz.“ Die weit überwiegende Zahl aller Bewilligungen finde immer erst im vierten Quartal eines Kalenderjahres statt, also zum Jahresende, so Stapelfeldt.

Die Zahl der obdachlosen Personen, die sich also primär auf der Straße aufhalten, ist indes geringer: Sprecher Martin ­Helfrich teilte auf Abendblatt-Anfrage mit, die Sozialbehörde gehe von rund 2000 obdachlosen Personen in Hamburg aus. Der aktuelle Stand bezieht sich auf eine Erhebung aus dem Jahr 2019. „Diese Zahl dürfte einer erheblichen Fluktuation unterliegen“, sagte Helfrich. „Sicherlich gibt es zeitweise einen Anstieg, zeitweise ist es aber auch deutlich geringer.“

Wohnungslose kehren teilweise in Heimatländer zurück

Einen Hinweis darauf biete die Auslastung des Winternotprogramms. „Wir wissen beispielsweise, dass Menschen aus dem osteuropäischen Raum teilweise in ihre Heimatländer zurückkehren und dann wieder in die Stadt kommen.“ Man habe allerdings keinen Anlass, davon auszugehen, dass Geflüchtete aus der Ukraine in Hamburg auf der Straße leben.