Hamburg. Leitende Mediziner am UKE sowie SPD und Grüne sprechen sich für Widerspruchslösung aus. Was das bewirken könnte.

Ob infolge einer Krankheit oder nach einem schweren Unfall – prinzipiell kann jeder Einzelne in die Lage geraten, auf ein Spenderorgan angewiesen zu sein, damit das Leben weitergeht. Aktuell warten mindestens 8500 Frauen, Männer und Kinder in Deutschland auf Herzen, Lebern, Lungen und Nieren. Zuletzt ging die Zahl der Spenderorgane allerdings erheblich zurück. Deshalb könnte das Thema nun auf der politischen Agenda wieder nach oben rücken. Bundesgesundheits­minister Karl Lauterbach (SPD) will einen neuen Anlauf für die Einführung der sogenannten Widerspruchslösung bei Organspenden unternehmen.

Zuspruch dafür kommt aus Hamburg von leitenden Medizinern und von Ab­geordneten der rot-grünen Regierungsfraktionen. Die Auswirkungen des Organmangels seien am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) ständig zu sehen, sagt Prof. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin.

UKE-Chefarzt: Warten auf Organ ist "ungeheure Belastung"

„Wir haben vor Kurzem einen jungen Mann verloren, weil er nicht rechtzeitig eine neue Leber bekommen hat“, berichtet der Chefarzt. Es gebe Patienten mit schwersten Herzerkrankungen, die bis zu sieben Monate lang im Universitätsklinikum auf ein neues Organ warteten. „Das ist eine ungeheure Belastung für diese Patienten und für ihre Angehörigen“, sagt Kluge.

„Viele Menschen beschäftigen sich gar nicht mit der Möglichkeit der Organspende nach dem Tod“, sagt Prof. Hermann Reichenspurner, Direktor der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie. „Auf Nachfrage sind die Angehörigen oft überfordert.“ Eine Organspende komme dann nicht zustande. „Ich hoffe sehr, dass sich die Widerspruchslösung in Deutschland durchsetzt, insbesondere nachdem sich seit der letzten Diskussion im Bundestag leider nichts zum Positiven verändert hat“, sagt Reichenspurner.

Widerspruchslösung: Alle Menschen sind automatisch Organspender

Organentnahmen kommen in Betracht, wenn bei Patienten etwa nach einem schweren Schlaganfall, Hirnblutungen oder Unfall auf der Intensivstation der Hirntod festgestellt wurde, die Funktionen des Gehirns also unwiederbringlich ausgefallen sind. Die Widerspruchslösung sieht vor, dass alle Menschen automatisch Organspender werden, die das zu Lebzeiten nicht ausdrücklich abgelehnt haben, etwa in einem Organspendeausweis.

Vor der Pandemie hatte der Bundestag über verschiedene Gesetzentwürfe zur „Stärkung der Entscheidungs­bereitschaft bei der Organ­spende“ debattiert. Ein Antrag, den Karl Lauterbach mit eingebracht hatte, sah eine Widerspruchslösung vor – doch dafür gab es im Januar 2020 bei der Abstimmung ohne Fraktionszwang keine Mehrheit. Stattdessen gilt weiterhin, dass eine Organentnahme nur möglich ist, wenn der mögliche Spender zu Lebzeiten eingewilligt oder im Todesfall sein nächster Angehöriger zugestimmt hat.

Im Juni dieses Jahres sagte Lauterbach der ARD: „Ich glaube, wir haben eine Menge versucht, aber es hat nicht wirklich geklappt. Es hat sich keine Verbesserung für die Menschen ergeben, die ein Organ benötigen.“ Ohne Widerspruchslösung bekomme Deutschland das Problem „nicht gelöst“, so der Minister.

Weniger als die Hälfte der Bürger hat Organspendeausweis

Laut einer repräsentativen Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) von Januar bis Februar 2022 stehen 84 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dem Thema Organ- und Gewebespende „positiv gegenüber“. Nach wie vor haben nur 44 Prozent der Befragten ihre Entscheidung zur Organspende schriftlich festgehalten – in einem Organspendeausweis, in einer Patientenver­fügung oder in Form beider Dokumente.

Weitere 17 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten eine Entscheidung getroffen, dies aber bisher nicht schriftlich dokumentiert. Oftmals sei ein fehlender dokumentierter Wille der Grund, warum viele Spenden nicht zustande kommen, sagt Prof. Martin Dietrich, Kommissarischer Direktor der BZgA.

Eine Widerspruchslösung würde nach Ansicht von UKE-Intensivmediziner Stefan Kluge „garantiert zu einer Erhöhung der Organspenden führen“. Der Chefarzt spricht von einer „Gemeinschaftsaufgabe“. Er habe Patientenverfügungen gesehen, in denen es hieß, ein Spenderorgan sei gewünscht, eine Organspende hingegen ausgeschlossen. „Das finde ich in höchstem Maße unsozial“, sagt Kluge.

Hamburg: Nur neun Organspender im ersten Halbjahr 2022

Herzchirurg Hermann Reichenspurner verweist darauf, dass in anderen europä­ischen Ländern die Widerspruchslösung seit Jahren „mit großem Erfolg“ praktiziert werde. Laut BZgA gab es 2021 in Deutschland 933 postmortale Organspender – das entspreche 11,2 Organspendern je eine Million Einwohner. Auf Platz eins liegt Spanien: 2020 seien dort 37,97 Organspender auf eine Million Einwohner gekommen, also mehr als dreimal so viele wie in Deutschland.

Im ersten Quartal 2022 sank hierzulande nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) die Zahl der Spender um 29 Prozent auf 176 gegenüber dem Vorjahreszeitraum; die Zahl der postmortal entnommenen Organe sank um 28 Prozent auf 562 Organe. In Hamburg gab es laut DSO in den ersten vier Monaten dieses Jahres neun Organspender – im Vergleichszeitraum 2021 waren es zwölf.

Rückgang bei Organspenden führt zu "lebensbedrohlichen Situationen"

Der jüngste Rückgang bedeute für viele Betroffene „eine unzumutbare und lebensbedrohliche Situation, die aus unserer Sicht dringend geändert werden muss“, sagt die Hamburger Grünen-Abgeordnete Gudrun Schittek. Sie teilt mit einigen Mitgliedern ihrer Fraktion die Forderung nach einer Widerspruchslösung, wirbt dafür innerparteilich und öffentlich. „Generell bleibt auch in unserer Fraktion die Frage, ob eine Widerspruchs- oder Zustimmungsregel auf Bundesebene eingeführt werden sollte, der freien Gewissensentscheidung unterworfen“, sagt Schittek. „Aus Respekt vor dieser Entscheidung gibt es diesbezüglich keinen übergreifenden Beschluss in unserer Fraktion.“

Für die Einführung einer Widerspruchslösung sind auch einige Hamburger SPD-Abgeordnete, unter ihnen die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion, Claudia Loss. „Klar ist, dass wir in Deutschland viel zu wenig Spenderorgane haben und die Bereitschaft zur Spende weiter erhöht werden muss“, sagt Loss. Die Widerspruchslösung könne hierfür ein Mechanismus sein, der auf Bundesebene etabliert werden müsse, werde allerdings „kein Allheilmittel“ sein, sagt Loss.

Organspende: Hamburger SPD-Abgeordnete für Widerspruchslösung

„Wir müssen zusätzlich dafür arbeiten, dass die Rahmenbedingungen in den Krankenhäusern weiter verbessert werden – das gilt beispielsweise für die Einführung von Transplantationsbeauftragten und transparente Prozesse.“ In anderen Ländern sei das Organspendeverfahren im Zusammenspiel mit den Krankenkassen geregelt. „Das würde ich mir auch für Deutschland wünschen“, sagt Loss.

Laut BzGA wurden 2021 etwa 4600 Menschen neu auf die Warteliste aufgenommen – 826 Menschen auf der Liste seien 2021 verstorben.