Hamburg. Bei einer Zwangseinweisung versucht ein Mitarbeiter des Zuführdienstes, den sich wehrenden Mann zu bändigen. Der beißt zu.

Die Vollziehungsbeamten vom zentralen Zuführdienst haben keinen einfachen Job: Sie müssen psychisch kranke, sich nicht selten mit Händen und Füßen wehrende Menschen abholen, die wegen möglicher Eigen- und/oder Fremdgefährdung zwangseingewiesen werden sollen. Immer wieder werden die Zuführer dabei verletzt. Der bisher schlimmste Fall: Im September 2018 starb ein 50 Jahre alter Mitarbeiter, nachdem ihn ein psychisch kranker Mann in Eißendorf mit brennendem Spiritus übergossen hatte. Sein Kollege (59) überlebte mit schwersten Brandverletzungen, ist aber dauerhaft entstellt.

Jetzt ist wieder passiert, was nicht passieren sollte: Ein Mann, der am Freitag vor einer Woche auf Anordnung eines Amtsarztes ins Rissener Westklinikum zwangseingewiesen werden sollte, biss auf der Autofahrt dorthin einem Zuführer einen Teil des Mittelfingers ab.

Polizei Hamburg: Täter gilt als "verhaltensauffällig“

Die Hamburger Polizei und das Bezirksamt Altona, von dem der Zuführdienst verwaltet wird, bestätigten dem Abendblatt den Vorfall. „Der Mann ist polizeibekannt und gilt als verhaltensauffällig“, sagt Polizeisprecher Thilo Marxsen. Als die drei Beamten – zwei Zuführer, ein Fahrer – ihn demnach gegen 14 Uhr am Polizeikommissariat 25 (Notkestraße) abholen wollen, müssen mehrere Polizisten den tobenden Mann bereits in Schach halten. Zunächst gelingt es den Zuführern, ihn durch gezielte Ansprache zu beruhigen. Genau für solche Situationen sind sie schließlich ausgebildet.

Doch wenige Minuten später, auf der Fahrt zum Westklinikum Rissen, bewegt der gefesselte Mann plötzlich heftig und ruckartig den Kopf. Schon da alarmiert der Fahrer per Handy die Polizei, gleichzeitig greifen die Zuführer ein. Einer sitzt in dem Auto, ein Mercedes-Vito-Standardmodell, neben dem Verwirrten, einer hinter ihm.

Während der Autofahrt eskaliert die Situation plötzlich

Der hinter ihm sitzt, wendet zur Fixierung den vielfach eingeübten „Kopfgriff“ an, rutscht dabei aber mit der Hand ab, sodass er mit dem Mittelfinger zu nah an den Mund des Patienten gerät. Da beißt der Mann zu, so fest, dass die Fingerkuppe abreißt, als der zweite Zuführer seinen Partner reflexartig zur Seite drückt. Unfassbar: Auch der stich- und schnittfeste Schutzhandschuh, den das Opfer wie alle Zuführbeamten trägt, kann die Amputation nicht verhindern.

Seine Kollegen und die alarmierten Polizisten bringen den Angreifer schließlich an der Osdorfer Landstraße unter Kontrolle. Der 58 Jahre alte Beamte kommt ins UKE, doch ein Annähen der Fingerkuppe schlägt fehl. Er hat Strafanzeige gestellt, ist seither dienstunfähig. Das Landeskriminalamt ermittelt.

Angreifer wurde aus Klinik entlassen

Der Angreifer wurde nach Abendblatt-Informationen in Rissen aufgenommen, aber bereits am Folgetag wieder entlassen - offenbar weil es keine ärztliche Empfehlung für eine fortdauernde Unterbringung gab. Doch schon in der Nacht zum Montag, gegen 1.40 Uhr, löste er einen Polizeieinsatz aus, leistete beim Eintreffen der Beamten heftig Widerstand. Folge: Erneut ordnete ein Amtsarzt seine sofortige Unterbringung in Rissen an, diesmal entschied ein Hamburger Richter allerdings die Fortdauer der freiheitsentziehenden Maßnahme, wie Gerichtssprecher Kai Wantzen auf Anfrage bestätigte.

Seit Jahren registriert das Personalamt eine steigende Zahl von Übergriffen, die von Mitarbeitern des Bezirksamts Altona angezeigt werden. Wie das Abendblatt im Juni exklusiv berichtete, meldete Altona 295 gewaltsame Übergriffe auf seine Beschäftigten im Jahr 2021 – und damit 67,6 Prozent der Tätlichkeiten auf Beamte in ganz Hamburg. Betroffen waren fast nur Mitarbeiter des beim Bezirksamt Altona angedockten Zuführdienstes mit Sitz in der Bahrenfelder Straße – vier von ihnen wurden 2021 schwer verletzt.

„Zahn durch Fußtritt ausgeschlagen"

Zuständig für das gesamte Stadtgebiet, verantwortet der zentrale Zuführdienst weit mehr als 3000 Einweisungen pro Jahr. Wie es aus Sicherheitskreisen heißt, bleibt es zwar meist bei Pöbeleien und Schubsereien. Doch kommt es immer wieder auch zu Tätlichkeiten: „Zahn durch Fußtritt ausgeschlagen, schlimmste Bisse, Daumen bis zum Handgelenk umgebogen“, sagt ein Beamter. Allein dieses Jahr hätten die 14 Zuführer acht Verletzungen gemeldet. Der Angriff vom 19. August ist aber der seit Langem brutalste.

Welchen Gefahren die Zuführer im Ex­tremfall ausgesetzt sind, veranschaulicht der 24. September 2018 auf drastische Weise. An diesem Tag soll der psychisch kranke Tim B. von der väterlichen Wohnung an der Weusthoffstraße (Eißendorf) in eine psychiatrische Einrichtung gebracht werden. Sein Betreuer hatte eine Verschlechterung seines Zustandes regis­triert – als gewalttätig gilt der 28-Jährige bis dahin aber nicht.

Beamter stirbt bei Angriff

Kurz vor seiner Abholung schließt sich Tim B. in einem Zimmer ein. Als die Beamten daraufhin die Tür eintreten, überschüttet der Verwirrte sich und die beiden Männer mit bereits brennendem Spiritus. Der junge Mann springt aus dem Fenster, fällt drei Stockwerke tief, während die zwei Behördenmitarbeiter in Flammen stehen. Der 50-Jährige reißt sich die brennende Jacke vom Leib, rennt durch das Treppenhaus nach draußen.

Doch für ihn kommt jede Hilfe zu spät, er erliegt noch vor Ort seinen Verletzungen. Seinem Kollegen (59) gelingt es zwar, sich im Badezimmer selbst zu löschen. Doch auch er ist lebensgefährlich verletzt – und bleibt dauerhaft entstellt. Im Juni 2019 verurteilte das Landgericht Tim B. wegen Mordes sowie versuchten Mordes zu elf Jahren Freiheitsstrafe. Zudem ordnete es seine unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Zuführbeamten tragen spezielle Sicherheitskleidung

Altonas Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne) sagt mit Blick auf die Beißattacke, sie wisse nicht, was man vorab noch hätte tun können, um vor so einem Angriff und diesen Folgen gefeit zu sein. In diesem Fall sei der Mitarbeiter beim Ansetzen des dutzendfach einstudierten Kopfgriffs unglücklich abgerutscht. Und er habe seine stichfesten Handschuhe getragen. „Was soll man noch mehr tun, um die Hände zu schützen?“, so von Berg. Klar sei aber auch: „Das ist ein tragischer Fall. Und jede Verletzung ist eine zu viel.“

Die Sicherheit der Mitarbeiter habe höchste Priorität, so von Berg. Nach der Tragödie von 2018 habe das Bezirksamt in enger Absprache mit der Polizei viel in die Schutzkleidung investiert: Alle Zuführbeamten seien verpflichtet, ballistische Sicherheitswesten, Sicherheitsschuhe sowie stich- und brandhemmende Dienstkleidung zu tragen. Dazu gibt es alle zwei Monate ein je vierstündiges Einsatztraining, wo eben auch der Kopfgriff und der Umgang mit renitenten Menschen eingeübt wird; außerdem regelmäßig Fortbildungen und Deeskalationstrainings.

Zuführer wollen Pfefferspray und Schlagstöcke

Auch eine Gefährdungsbeurteilung für den Zuführdienst sei bereits in der Vergangenheit erstellt und zuletzt aktualisiert worden. Vor zwei Wochen sei bei einer Überprüfung durch das Amt festgestellt worden, dass die Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeitenden auch eingehalten werden. Weitere Bedarfe, etwa nach mehr Personal oder weiterer Ausrüstung, habe der Zuführdienst bislang nicht an sie herangetragen, sagt von Berg.

Dabei gibt es nach Abendblatt-Informationen bei den Zuführern durchaus eine Art Wunschliste, dazu gehört etwa eine Ausstattung mit Pfefferspray und Schlagstöcken. Als Zwangsmittel dürfen sie bisher nur Handschellen und Spuckhauben einsetzen. Eine künftige Ausrüstung mit Schlagstöcken kommt nach einer Analyse des Bezirksamtes aber schon aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht.

Polizei Hamburg: Funkgeräte würden Arbeit erleichtern

Ganz oben auf der Liste stehen indes Funkgeräte, die als äußerst nützlich gelten, wenn die Beamten vor der Zuführung die Vorder- und Rückseite eines Hauses absichern müssen. So ist es leichter, sich schnell abzusprechen. Auch seien 14 Zuführer zu wenig, um bis zu 4000 Einweisungen im Jahr zu bewältigen, heißt es. Mindestens zwei mehr müssten es schon sein. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) unterstütze die Forderungen vollumfänglich, sagt GdP-Landeschef Horst Niens. „Außerdem müssen die Fahrzeuge so ausgerüstet werden, dass die Patienten sicher verwahrt werden können.“

Die bisherige Flotte von Mercedes Vito werde schrittweise ohnehin gegen elektrische Fahrzeuge ausgetauscht, sagt von Berg. „In diesem Zug spielen natürlich auch Sicherheitsaspekte eine Rolle“. Und überhaupt: Sie sei offen für weitere Bedarfe des Zuführdienstes – nur müssten die auch benannt werden, würden dann aber eng mit der Polizei Hamburg abgestimmt.