Hamburg. Die Anwohner in Nähe der Binderstraße sind genervt: Die Lautstärke übersteigt nach ihrer Messung zulässige Höchstwerte deutlich.
Massive Bohrhammer und Kreiselköpfe fräsen sich lautstark in die Betonmauern des Bunkers an der Binderstraße in Rotherbaum. Ein Baggerarm greift immer wieder in die Schutt- und Betonhaufen. Ab und an steigen dicke Staubwolken auf, die das Atmen schwierig machen. Seit sechs Monaten dauern die Abrissarbeiten des Bunkers mitten im Univiertel nun schon an – ohne Vorankündigung und Lärmschutz, beklagen die Anwohnerinnen und Anwohner.
So wie er jetzt ist, sei der Bunker zu klein, erklärt Silvie Wemper, Sprecherin der Wissenschaftsbehörde. Auf acht Stockwerken und mit etwa 4500 Quadratmetern soll daher ein Neubau für die universitäre Nutzung entstehen. Unter anderem sollen Büros, Seminarräume und Labore aus den Geistes- und Sozialwissenschaften einziehen.
Rotherbaum: Anwohner von Abrissarbeiten überrascht
Der Bunker selbst hätte wegen seiner Bauweise nur unter sehr hohem Umbau- und Kostenaufwand genutzt werden können. „Die dicken Wände, Decken und Bodenplatte hätten nur eine geringe Nutzfläche auf lediglich drei Etagen ermöglicht“, sagt Wemper. Deshalb trägt ein privater Investor, die Marienburg Real Estate GmbH, den Bunker ab und baut das neue Gebäude auf.
„Im Februar sind wir über Nacht von den Abrissarbeiten überrascht worden“, sagt Dieter Stypmann. Seitdem gehöre ohrenbetäubender Lärm zu seinem Alltag, erzählt der 65-Jährige, der gemeinsam mit seiner Frau Susanne Hanke im Grindelhof wohnt. Vom Balkon aus können sie die Arbeiten beobachten, wenn nicht gerade eine riesige Staubwolke die Sicht versperrt. Die Fenster, die das Paar am liebsten gar nicht mehr öffnen würde, sind von einem braunen Staubfilm überzogen. „Ich habe aufgegeben, sie täglich zu putzen“, sagt Hanke.
Lautstärke übertrifft zulässige Werte
Sogar über die Bücher im Wohnzimmerschrank müsse sie seit den Abrissarbeiten alle zwei Tage wischen. „Wenn es einmal anfängt zu stauben, dann sieht es so aus, als würde es hier in der Nachbarschaft brennen.“ In der Nachbarschaftsgruppe des sozialen Netzwerks nebenan.de tauscht sich das Paar regelmäßig mit anderen Betroffenen aus. Viele fühlen sich im Stich gelassen, dem Lärm und Staub schutzlos ausgeliefert. Alle Nachbarschaftsgespräche, ob auf der Straße oder in den sozialen Netzwerken, führen immer wieder zur Frage: Warum werden hier keine Lärm- und Staubschutzmaßnahmen getroffen?
Wie für alles, gibt es auch hier eine Vorschrift: Laut der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Schutz gegen Baulärm (AVV Baulärm) darf in allgemeinen Wohngebieten wie dem Univiertel, in dem der Bunker steht, die Lautstärke von 55 Dezibel nicht überschritten werden (von sieben bis 20 Uhr). Auf dem Balkon von Dieter Stypmann und Susanne Hanke misst eine Handyapp derzeit 72 Dezibel, an der Baustelle auf der Binderstraße sogar über 80. Vor ein paar Monaten habe die App an diesem Ort sogar 90 Dezibel angezeigt, erinnert sich Stypmann. Zum Vergleich: Ein startendes Flugzeug hat in der Regel eine Lautstärke zwischen 110 und 140 Dezibel.
Im Kuhnsweg wird Rücksicht genommen
Dass ein solcher Abriss auch anders verlaufen kann, hat man am Kuhnsweg in Winterhude gesehen. Dort hat im Sommer der Abbruch eines Bunkers begonnen. Durch den Einsatz einer Diamantseilsäge statt mächtiger Stemmeisen und dank einer doppelten Schutzwand aus Luftkammer-Kunststoff- und Holzplatten soll der Rückbau, der wohl bis Jahresende dauern wird, so schonend und lärmarm wie möglich durchgeführt werden. Um den Kuhnsweg nicht zu belasten, sind Lastwagen und Baumaschinen deutlich kleiner als üblich, die Abbrucharbeiten werden sich wegen dieser Rücksichtnahme zeitlich jedoch verdoppeln.
Die AVV Baulärm sieht vor: Jeder Staub und Baulärm, der technisch vermeidbar ist, soll auch vermieden werden. Demnach müsse bei Abbrucharbeiten zum Beispiel Wasser eingesetzt werden, um das Staubaufkommen zu mindern, sagt Christian Carstensen, Leiter der Präsidialabteilung der Stadtentwicklungsbehörde.
Wasserstrahler sollen Staub binden
„In Abstimmung mit der Hamburger Baubehörde haben wir uns darauf verständigt, die lärmintensiven Abbrucharbeiten auf wenige Zeitfenster und kurze Intervalle zu reduzieren“, sagt Patricia Rohde, Sprecherin der Marienburg Real Estate GmbH auf Anfrage. Zudem würden alle notwendigen Vorkehrungen zur Verminderung von Schmutz, Lärm und Staub getroffen.
Sie versichert, dass in den aktiven Bauphasen durchgehend Wasserstrahler eingesetzt würden, um den entstehenden Staub bestmöglich zu binden. Ebenso hätte der Bauherr bei einer Informationsveranstaltung die Nachbarschaft über den geplanten Bunkerabriss informiert – allerdings vor über zwei Jahren.
„Montags bis sonnabends ist es durchgängig laut"
Von kurzen Intervallen kann keine Rede sein; erst ein einziges Mal hätten sie in diesem Jahr auf ihrem Balkon sitzen können, schildern Dieter Stypmann und Susanne Hanke. Denn der Lärm mache auch vor dem Wochenende keinen Halt. „Montags bis sonnabends ist es durchgängig laut, meist schon ab sieben Uhr morgens“, sagt Stypmann. An ein paar Sonntagen sei an Stahl und Beton gekratzt worden, einmal habe seine Frau deshalb schon die Polizei gerufen – die Arbeiten seien daraufhin eingestellt worden.
Denn ohne eine entsprechende Sondergenehmigung sind lärmintensive Bauarbeiten sonntags verboten. Eine solche Erlaubnis sei für den Bunkerabriss allerdings nichts erteilt worden, „da derzeit weder ein technologisch bedingtes noch ein öffentliches Interesse dafür vorliegt“, sagt Christian Carstensen.
„Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr“
Anwohnerin Annette Graff hat seit den Abrissarbeiten schon häufiger überlegt, mit ihrem Partner umzuziehen. „Mir graut es davor, wieder im Homeoffice zu arbeiten“, sagt die 38-Jährige. „Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr.“ Sie wohnt an der Binderstraße in unmittelbarer Nähe der Baustelle. Der Lärm im Viertel habe schon im März 2021 begonnen, als ein Teil der Veloroute an der Schlüterstraße erneuert wurde. Hinzu komme, dass im Viertel noch bis 2023 Stromleitungen verlegt werden. Die Alte Post an der Schlüterstraße wird derzeit ebenfalls umgebaut. „Die Krönung ist nun der Bunkerabriss – wir haben das Gefühl, mittlerweile in einem Industriegebiet zu wohnen“, sagt Graff. Deshalb will sie ihre Miete mindern.
Fragen zur Mietverminderung sind jedoch alles andere als einfach zu beantworten: Fälle wie diese sind mehrfach bis zum Bundesgerichtshofs (BGH) durchgeklagt worden. Im Grundsatz gilt: Mieter müssen beweisen, dass eine Belastungsgrenze überschritten wird und die Lebensqualität in den eigenen vier Wänden beeinträchtigt ist. „Erforderlich ist daher grundsätzlich eine Beschreibung, aus der sich ergibt, um welche Art von Beeinträchtigungen es geht und zu welchen Tageszeiten, über welche Zeitdauer und in welcher Frequenz diese ungefähr auftreten“, sagt Michael Kehren, Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht.
Rotherbaum: Bauarbeiten gehen bis September
Wird eine gesetzliche Grenze überschritten, ist der Vermieter in der Lage die Miete zu mindern und sich das Geld vom Verursacher, beispielsweise dem Bauherrn, wieder zurückzuholen. Hat der Vermieter jedoch keine Chance das Geld zurückzubekommen, dann hat auch der Mieter keinen Anspruch auf eine Mietminderung. Sollte eine Mietminderung in Betracht kommen, empfiehlt der Fachanwalt Mietern, ab diesem Zeitpunkt die Miete „unter Vorbehalt der Rückforderung“ zu zahlen, und zwar auch, wenn diese bereits eine geminderte Miete zahlten. Denn auch die Höhe der Mietminderung lasse sich nicht pauschal festlegen, so Kehren.
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Dieter Stypmann, Susanne Hanke und ihre Nachbarinnen und Nachbarn haben einen langen Atem bewiesen. Bis September müssen sich die Anwohner wohl noch weiter gedulden, denn laut offizieller Planung sollen die Abrissarbeiten bis dahin andauern.