Hamburg. Fast jeder vierte Hamburger lebt in Wandsbek – ein Stück Hamburg mit Widersprüchen und Gegensätzen, vielseitig und mit herbem Charme.

Früher wollte ein jedes Dorf schöner werden – heute geht es nur um persönliche Selbstoptimierung. Wer an der U-Bahn-Station Wartenau die Bezirksgrenze nach Wandsbek überschreitet, dort, wo Eilbek und die Wandsbeker Chaussee ihren Anfang nehmen, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Auf mehreren Hundert Metern präsentieren sich auf Eilbeks einstiger Einkaufsmeile bloß noch Beauty-Buden. Sie haben hübschere Haare, längere Wimpern oder gleich Zweithaar im Angebot, alternativ lassen sich ein paar Meter weiter bei Waxcat sämtliche Haare entfernen.

Nagelpflege reiht sich an Nagelstudio und New York Nailshopping, die Thai Tempel Massage an Shaolims TCM Massage. Früher, in besseren Zeiten, stand hier ein Schlecker. Es gibt nicht viele Gegenden, in denen man der Billigdrogeriekette Tränen nachweint. Hier, unter den falschen Wimpern, heult man wahrscheinlich bitterlich.

Bezirk in Hamburg: Fahrrad Löwe existiert weiter

Eilbeks alte Einkaufsmeile, die Wandsbeker Chaussee, hat die besten Zeiten hinter sich.
Eilbeks alte Einkaufsmeile, die Wandsbeker Chaussee, hat die besten Zeiten hinter sich. © Matthias Iken (FMG)

Immerhin: Es gibt einige Gallier, die dem Niedergang und Beauty-Boom Widerstand leisten: Einer heißt Fahrrad Löwe, ist seit über einem Jahrhundert am Platze und unverdrossen. Valeri Petkan fing vor acht Jahren als Praktikant an, lernte anschließend im Betrieb und blieb dabei. „Der Fahrradladen ist von Generation zu Generation weitergegeben worden“, erzählt er.

Als der Chef im Dezember überraschend starb, übernahm ein Beschäftigter den Betrieb. Trotz der schwierigen Lage der Straße profitiert Fahrrad Löwe vom Trend zum Zweirad: „Der Fahrradboom ging schon vor Corona los und hat sich durch die Pandemie noch einmal beschleunigt. Früher konnte man im Winter mal in Ruhe zwei Stunden die Werkstatt aufräumen – das ist heute fast unvorstellbar.“

Dringend Gesucht: Neue Ideen für alte Ausfallstraßen

Dafür weiß Petkan von einem anderen Problem zu berichten: „Bei Rädern ab 1000 Euro muss man mit Wartezeiten von einem bis eineinhalb Jahren rechnen. Ich selbst warte seit Sommer 2021.“ Wichtige Teile, die aus Asien geliefert werden, kommen nicht oder nur verspätet an. „Das können nicht alle Kunden verstehen.“Schon am Morgen herrscht reger Betrieb in der Werkstatt. „Klassische Laufkundschaft gibt es kaum“, sagt Petkan. „Warum sollte man hier auch bummeln?“ Der junge Mann kennt es nicht anders. „Aber meine älteren Kollegen erzählen, dass es hier früher Schlachter, Bäcker und Optiker gab.“

Längst vergangene Zeiten. 2019 kümmerte sich das Internationale Bauforum in Hamburg um die Zukunft der Magistralen. Dabei ging es nicht um eine intellektuelle Fingerübung, sondern um die Überlebensfrage an den großen Trassen. Neue Einfälle für alte Ausfallstraßen sind bitter nötig. Denn so kann, soll, darf es nicht weitergehen: Die sechsspurige Wandsbeker Chaussee ist mit ihren mehr als 35 Metern Breite völlig überdimensioniert. An diesem heißen Sommertag sind sechs Spuren mindestens zwei zu viel.

Wandsbek will Magistrale zurückbauen

Der Bezirk will die Magistrale zurückbauen, breitere Fahrradwege anlegen, mehr Bäume pflanzen, versiegelte Flächen aufbrechen. Diskutiert werden diese Pläne seit vielen Jahren, sie kommen aber nur schleppend voran. Der Teufel steckt im Detail: Eine schmalere Straße schafft nicht automatisch Leben – kein Nagelstudio stellt Tische und Stühle vor die Tür. Selbst der Zweirad-Händler sieht den Rückbau mit gemischten Gefühlen: „Wenn eine Spur wegfällt, fürchte ich, kommen sich alle noch mehr ins Quere – Paketwagen, Kunden, Fahrradfahrer. Für uns sind Parkflächen wichtig.“

Wichtig für die Straße ist Leben – aber wo tummelt es sich, wenn der Verkehr braust? Städtebaulich ist die Wandsbeker Chaussee eine kilometerlange Wunde – geschlagen in den Bombennächten der Operation Gomorrha und nie recht verheilt. Der Wiederaufbau hatte weder Zeit noch Geist für Ästhetik. Für die Breite der Straße sind die Gebäude viel zu klein, fast durchweg ist nach vier Geschossen Schluss. Hier wäre die viel diskutierte Aufstockung kein Problem, sondern Lösung.

Häuser wirken wie hässliche Zähne

Die Krise der Straße lässt sich an den Gebäuden ablesen. Wo wenig Geld verdient wird, wird wenig investiert. Die Häuser wirken wie hässliche Zähne in einem ungepflegten Gebiss. Der öffentliche Raum verödet. Kurz vor der Richardstraße stehen gelb verklinkerte Bänke, die aussehen wie Entlüftungsschächte, zwischen denen der Müll steckt. Manche Fenster sind von Staub und Dreck fast erblindet und mit alten Zeitungen abgeklebt. Wer sich auf den vergilbten Seiten festliest, weiß, wie lange sie dort hängen müssen. Seit 2018. Daneben hat ein Großhandel die perfekte Heimat gefunden – er vertreibt Nagelpflegeprodukte.

Nach mehr als 800 Metern fällt mir auf, was mir bislang nicht gefehlt hat – ein E-Roller. Einsam steht er an der Kreuzung, für luxuriösen Lifestyle als Laufersatz haben die Wandsbeker offenbar wenig über. Ein Opfer des Klimawandels lockt mit Schnäppchenpreisen – die August-Aktion des Sonnenstudios Megasun verspricht 15 Minute Sonne für fünf Euro. Draußen scheint sie umsonst. Im Eilbeker Bürgerpark kurz dahinter kommt das Idyll hinzu, eine grüne Oase, die mit jedem Meter Abstand zur Wandsbeker Chaussee ruhiger und schöner wird. Ich atme auf, ich atme durch. Ein grünes Band der Sympathie.

Wandsbeker Chaussee ist vielseitiger

Jeder Straßenbaum lindert das Leid. Hinter der Ritterstraße wird die Wandsbeker Chaussee vielseitiger – endlich ein Blumenladen, ein untrügliches Zeichen für eine gesündere Struktur, ein Teehändler, ein Schuhgeschäft. Hinter der Hausnummer 159 findet sich das Antiquariat Bernhardt. Im Schaufenster liegen Bildbände aus über die „Passat“, das Luftschiff „Hindenburg“, das alte Schlesien. Im Laden stapeln sich die Bücher bis unter die Decke, sortiert nach Sujet, es riecht nach altem Papier, auf vielleicht 70 Quadratmetern türmt sich das Wissen der Welt.

Torsten Bernhardt führt ein kleines Antiquariat an der Chaussee.
Torsten Bernhardt führt ein kleines Antiquariat an der Chaussee. © Matthias Iken (FMG)

Seit drei Jahren ist er am Standort, aber er hadert mit der Lage. „2018 musste ich mein Geschäft im City-Hof verlassen“, erzählt Torsten Bernhardt, Antiquar in zweiter Generation. „Bekannte hatten das Ladenlokal entdeckt – es liegt günstig, Parkplätze vor der Tür, die U-Bahn dicht dabei. Aber leider ist die Straße gruselig – sie lädt nicht zum Bummeln ein, es fehlt die Laufkundschaft.“ 2020 kam die Pandemie hinzu. „Die Zeit der Antiquariate ist vorbei. Wir leben von der Hand in den Mund, Online sichert unser Auskommen“, sagt er. Etwas wehmütig zeigt er die Prestel-Kulturreiseführer von Eckart Peterich, die einst zur Grundausstattung jedes Bildungsbürger-Bücherschranks gehörten. „Früher waren diese Werke gesucht, heute kaufen die Leute lieber Reiseführer, die ihnen sagen, wo der Cappuccino am günstigsten ist.“

Viele Bestatter an der Wandsbeker Chaussee

Seit 20 Jahren ist Torsten Bernhardt im Business – ohne Herzblut geht es nicht. „Man freut sich über jeden Menschen, der ein gutes Buch zu schätzen weiß. Aber schauen Sie sich einmal um – wie viele Ihrer Freunde haben überhaupt noch ein Bücherregal?“ Eine gute Frage, die gut 200 Meter weiter beantwortet wird. „Bücher zu verschenken“, steht dort auf einem Karton.

Täuscht der Eindruck, oder gibt es an der Wandsbeker Chaussee besonders viele Bestatter? Passen würde es, die Straße taugt als Bilderbogen für viele Abgesänge. Hausnummer 189 lockt als „Gebrauchtwarenparadies“ – mit Plastikgartenstühlen für neun Euro oder gebrauchten Krawatten von Techni-Sat-Mitarbeitern inklusive Firmenlogo. Mit Verlaub, wenn das ein Gebrauchtwarenparadies ist – wie sieht dann die Gebrauchtwarenhölle aus?

Trattoria Italiana sehr beliebt

Es ist ein Elend mit dem Einzelhandel – gäbe es die Pizzadienste, Chinamänner und Sushi-Shops nicht, noch viel mehr Läden stünden leer. Man muss den Schnellkochern für Stubenhocker fast dankbar sein, wie den Betreibern der Wasserpfeifenshops und der Fitnessfutterhäuser. International geht es zu: Afro-Shops, asiatische Händler. Exotisch ist die Auswahl der internationalen Küche – ein brasilianisches Restaurant, ein afghanisches, ein syrisches. Die ganze Welt auf einer Meile. Viele Italiener schwören übrigens auf die Trattoria Italiana an der Ritterstraße.

Ich passiere die Kantstraße, benannt nach dem größten Philosophen und Aufklärer des Landes. Irgendwie passt zu Hamburg, dass für ihn und das Dichter- und Denkerviertel nur ein paar Nebenstraßen in Wandsbek übrig waren.

Pandemie steckt hier noch im Jahr 2020

Im W1 ist die Pandemie auf den Monitoren noch allgegenwärtig.
Im W1 ist die Pandemie auf den Monitoren noch allgegenwärtig. © Matthias Iken (FMG)

An der Wandsbeker Marktstraße hellt sich das Bild auf: Kaum noch Leerstand, ein Mix aus Geschäften, wie man ihn von funktionierenden Einkaufsstraßen kennt, Mode, Schuhe, Cafés, das Wandsbek Quarree und sogar Karstadt, Wandsbeks ältestes Warenhaus von 1892. Nur im Einkaufszentrum W1 fühlt man sich wie in einem Zeittunnel. „Abstand halten“, heißt es da, „Gruppenbildungen sind behördlich verboten“ und „FFP2-Maskenpflicht“.

Ist Karl Lauterbach ins Center-Management nach Wandsbek gewechselt? Offenbar ist es eher ein Softwarefehler -- der Bildschirm verkündet: „Wegen der Coronakrise bleiben die meisten Geschäfte des Centers auf Anweisung der Behörden ab dem 18.3.2020 geschlossen.“ Vielleicht sollte man in die Kreidezeit zurückkehren, zu alten grünen Tafeln. Da heilt die Zeit alle Wunden.

Dieses Gedicht ist zu groß für nur drei Denkmäler

Gedicht Der Wandsbeker Marktplatz hat sich herausgeputzt: Das schicke Café Bar Celona ist in der Mittagshitze sehr gut besucht, auf dem Platz herrscht quirliges Treiben. Und an den berühmtesten Bürger Wandsbeks wird gleich an mehreren Stellen erinnert – nennen wir es das Matthias-Claudius-Dreieck: Die Bronzestatue von Bernd Stöcker zeigt den „Ehrensprung“ des Dichters, das Ritual, bei dem der Vater über eines seiner Kinder springt aus Freude über ein Neugeborenes. Claudius musste oft springen – er hatte zwölf Kinder. Eine weitere Bronzeskulptur, sechs Meter breit und drei Meter hoch, steht im Schatten der Christuskirche und zitiert sein berühmtes Abendlied.

Der Mond ist aufgegangen,

Die goldnen Sternlein prangen

Am Himmel hell und klar.

Der Wald steht schwarz und schweiget,

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.

Ein Lied, das Generationen begleitet und berührt, fasziniert und tröstet, das sich von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus erstreckt. Helmut Schmidt wünschte sich das Abendlied für seine Trauerfeier. Für die Größe dieses Gedichts reichen nicht einmal drei Denkmäler.

Matthias Claudius unter dem Sternenbogen – eins der drei Claudius-Denkmäler im Bezirk Wandsbek.
Matthias Claudius unter dem Sternenbogen – eins der drei Claudius-Denkmäler im Bezirk Wandsbek. © Matthias Iken (FMG)

„Rathaus Wandsbek“ heißt Stormarnhaus

Auch das Rathaus erinnert an seinen großen Sohn. Das Wandsbeker Wappen trägt bis heute die Insignien des wandernden Boten – Hut, Stock und Tasche. Mit dem „Wandsbecker Bothen“ wurde Claudius zum Wegbereiter der Tageszeitung in Deutschland. Ein Hamburger war Claudius nie – denn Wandsbek gehörte bis 1937 als selbstständige Stadt nicht zur Metropole. So heißt das „Rathaus Wandsbek“, das eigentlich ein Bezirksamt ist, bis heute Stormarnhaus.

Fritz Höger hatte das weiße Verwaltungsgebäude für den Kreis Stormarn 1922/23 entworfen. Ich treffe Claudia Petschallies, die für den Bezirk spricht. Mit seinen 444.000 Einwohnern wäre er die 16.-größte Stadt des Landes – hinter Duisburg und vor Bochum. Es soll Hamburger geben, die trotzdem noch nie in Wandsbek waren.

„Wir sind nicht Mitte oder Eimsbüttel"

„Wir sind nicht Mitte oder Eimsbüttel, die mehr im Fokus stehen. Aber Wandsbek ist unglaublich vielfältig – neben den urbanen Gegenden wie Eilbek haben wir fast dörfliche Strukturen in den Walddörfern.“ Um die unterschiedlichen Stadtteile gleichermaßen zu berücksichtigen und Gemeinsamkeiten zu schaffen, entwickelt der Bezirk derzeit ein Leitbild „Wandsbek 2045“. „Die Menschen in Wandsbek sind sehr aktiv, vernetzen sich und beteiligen sich an der Entwicklung der Stadtteile. Man merkt, dass sich viele stark mit ihrem Stadtteil und dem Bezirk identifizieren“, sagt Petschallies. „Ob das noch daraus resultiert, dass Wandsbek einmal eine selbstständige Stadt war, vermag ich nicht zu beurteilen.“ Vielleicht aber ist es ein Erbe, auf das man bauen kann. Der Findling an der Schlossstraße verweist darauf, dass die ersten Siedlungen bis ins Jahr 1500 vor Christus zurückreichen.

Mein Weg führt weiter gen Nordosten – vorbei an der Christuskirche. Sie steht für die Ursünde des modernen Wandsbeks, die Unterwerfung unter das Leitbild der autogerechten Stadt. Der interessante Neubau aus den Jahren 1953 und 1954, der Pfeiler und Sockel der Kriegsruine integriert, hat seinen Kirchturm verloren. Er stand dem Ausbau des Rings 2 im Wege und wurde einfach abgerissen. Stattdessen ragt seit 1965 ein frei stehender „Campanile“ in den Wandsbeker Himmel. Das Stadtviertel hat einfach Pech gehabt: Die Moderne von gestern sieht inzwischen furchtbar alt aus. Wir hofften auf Utopia. Und bekamen Tirana.

Rossschlachterei hat dichtgemacht

Auf der Rüterstraße wiederholt sich das altbekannte Bild. Massage- und Beautystudios, Shisha-Bars und Telefonshops. Die Rossschlachterei hat dichtgemacht, durchs Fenster lässt sich ein Blick auf gekachelte Wände im alten Stil erhaschen. Man muss kein Fan von Pferdefleisch sein, um die Entwicklung zu bedauern – der Strukturwandel gleicht der Vertreibung aus der Kindheit. Damals bauten wir Lego-Städte mit Bäcker, Schlachter, Obstgeschäft. Was bauen Kinder heute? Einen Stadttorso aus Nagelstudio, Frisör und Handyshop?

Mit dem Übergang in die Wandsbeker Zollstraße zerfasert die Stadt. Ein Ibis-Budget-Hotel markiert den Limes, eine Kette, hinter der die innere Stadt endet. Industriebetriebe, Verwaltungsgebäude, Autoschrauber – eine klassische Ausfallstraße irgendwo im Nirgendwo. Der inzwischen fast obligatorische Self-Storage-Schuppen darf nicht fehlen, ein großes Lagerhaus für die Un- und Unterbehausten unserer Tage.

Das Tal der Wandse lädt zum Verweilen ein

Doch Wandsbek ist mehr als seine Magistrale, so wie Altona mehr ist als die Stresemannstraße und Eimsbüttel mehr als die Hoheluftchaussee – es wäre nicht fair, einen Bezirk über seine Ausfallstraße zu charakterisieren. Ich habe das elegante Eilbek links, das malerische Marienthal rechts liegen lassen. Nun schlage ich mich kurz hinter dem Bauhaus in die Büsche. Der Stadtgarten, den der Baumarkt selbstbewusst verspricht, findet sich tatsächlich einige Hundert Meter weiter: im Tal der wunderschönen Wandse.

Es bedarf nicht vieler Schritte, um in eine andere Welt einzutauchen. Es wird schattiger, kühler, frischer, entschleunigter, vor allem ruhiger – das Verkehrsrauschen der Ahrensburger Straße wird abgeregelt. In sanften Windungen, unter Bäumen, über Brücken zieht sich der Weg. Eine Landschaft wie gemalt für Spaziergänger, Radler, Läufer – und für den Graureiher. Einer flattert über ein blaues Band aus Holzmühlenteich, Eichtalteich, Nordmarkteich. Wandsbek als Finnland Hamburgs – der Bezirk der 1000 Teiche.

Arkadius Lorek und Nele Jürges arbeiten im Botanischen Sondergarten, einem Kleinod  in Wandsbek.
Arkadius Lorek und Nele Jürges arbeiten im Botanischen Sondergarten, einem Kleinod in Wandsbek. © Matthias Iken (FMG)

Dazwischen versteckt sich ein echtes Kleinod – der Botanische Sondergarten. Am Eingang überrascht eine Bananenstaude die Besucher, dort wachsen Palmen, ein Mammutbaum, ein Taschentuchbaum. Eineinhalb Hektar Vielfalt und Farbenrausch. Inmitten eines bunten Beetes arbeiten Arkadius Lorek und Nele Jürges in der Sonne. Gemeinsam mit zwei Kollegen kümmern sie sich um den Sommergarten. „Sind das wirklich Bananen?“, fragen zwei Besucherinnen neugierig. „Können die hier denn überleben?“ Lorek bejaht. Man müsse sie nur vor dem Winter zurückschneiden.

„Der Sommergarten ist ein echter Geheimtipp"

„Der Sommergarten ist ein echter Geheimtipp. Er liegt versteckt, selbst Menschen, die hier jahrelang leben, kennen ihn nicht“, erzählt der Gärtner. Er schätzt, dass sich pro Tag 200 bis 300 Naturfreunde hierher verirren. „Viel mehr müssen es auch nicht unbedingt werden“, sagt er. „Je mehr Besucher kommen, umso mehr schwarze Schafe sind dabei.“ Manche Besucher haben es auf die Nutzpflanzen abgesehen.

„Die Artischocken waren schnell geklaut – und wenn die Äpfel reif sind, werden sie ruck, zuck gepflückt.“ Vielleicht kommen da Erinnerungen an längst vergangene Zeiten hoch: Im Zweiten Weltkrieg diente der Botanische Garten der Versorgung der Wandsbeker mit Gemüse. Gleich um die Ecke, an der Ahrensburger Straße 162, erinnert eine Gedenkstätte an das Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme.

Der Friedhof Tonndorf – Grabsteine als stille Erzähler

Geschichte erzählt auch der Friedhof Tonndorf hinter der Nordmarkstraße. Links unter einem grünen Dickicht fließt die Wandse, rechts recken sich Grabsteine in der Sonne. Friedhöfe sind stille Erzähler, wenn man denn zuzuhören vermag. Sie berichten von Gnade und Ungnade – hier liegt der junge Mann, gefallen im Ersten Weltkrieg kurz nach seinem 18. Geburtstag, dort liegt ein Mensch seines Jahrgangs begraben, der nicht 1918, sondern erst 1993 sterben musste. Grabsteine erzählen kurze Geschichten von Leben und Tod – und vom Trost.

„Die Liebe erträgt alles“, heißt es auf einer Platte. „Vielgeliebt, beweint und unvergessen.“ Wo kommen wir denn hin, wenn wir diese Geschichten nicht mehr hören wollen? Urnenbestattungen machen bundesweit schon mehr als 70 Prozent aus, viele verzichten auf Grabstätten, ihnen ist die Pflege zu aufwendig. Auch die Kirchengemeinde Tonndorf hat Flächen reduziert.

Kleingärtner schaffen Rückzugsräume

Am Ostender Teich, einem schönen Freibad, liegen farbenfrohe Lauben. Früher hielten manche Großstädter Kleingärtner für klein kariert, inzwischen dämmert immer mehr Menschen, was sie für die Metropole bedeuten: Sie schaffen Rückzugsräume für Mensch und Tier, bringen Farbe in den Asphaltdschungel, kühlen die Sommer in der City. Gäbe es sie nicht, man müsste sie erfinden.

Das grüne Band windet sich weiter nach Nordosten, mal zieht es sich zusammen wie ein Akkordeon, dann weitet es sich auf. Was jenseits der Parks liegt, gerät aus dem Blick und dem Sinn, der Wanderer glaubt sich in tiefster Natur. Manchmal lugt ein Schlafregal über die Baumwipfel, dann schmiegt sich eine Wohnstraße an den Park an.

Ein Paradies für Kinder

An diesem heißen Augusttag ist es an der Berner Au nicht nur sympathisch schattig, sondern auch überraschend kühl. Viel los ist nicht, ein paar Senioren verweilen auf den Bänken, der Bolzplatz liegt verlassen da, das Basketballfeld ist menschenleer. Ist es die Hitze oder das Handy, das Jugendliche zu Stubenhockern macht? Auf dem Aktivspielplatz Farmsen e. V. liegt die freie Welt hinter Gittern. Jenseits der Einfahrt, die eine „elternfreie Zone“ verspricht, beginnt das Paradies für Kinder. Der Spielplatz steht allen Sechs- bis 14-Jährigen offen und ist ein holzgewordener Jugendtraum: Zwei Jungs kicken auf dem Hof Fußball, ein Mädchen klettert in einem gigantischen Baumhaus herum, eine Budenstadt wartet darauf, bespielt zu werden.

Was 1973 aus einer Elterninitiative entstand, hat sich längst etabliert. Drei Pädagogen bilden das feste Team, hinzu kommen Honorarkräfte, finanziert wird das Angebot vom Verein, aus Spenden und von der Landesjugendhilfe. „Mal kommt nur eine Handvoll Kinder, dann sind es mehr als 30. Wir geben den Kindern Freiräume“, sagt der Pädagoge Jendrik von Allwöhrden. Seine Kollegin Anja „Pinky“ Lindhorst ergänzt: „Hier dürfen sich die Kinder austoben. Hier können sie schmieden, schweißen, Pizza im Lehmofen zubereiten, über dem Feuer kochen.“ In Farmsen möchte man wieder Kind sein.

Wilde Brombeeren mitten in der Stadt

Der Berner Au sieht man an, dass es seit Wochen zu wenig geregnet hat, stellenweise reicht ein Sprung, um den Bach trockenen Fußes zu überqueren. Kurz vor der Stargarder Straße wachsen übermannshoch wilde Brombeeren, mit der Fruchtfülle könnte man einen Obstgroßmarkt beliefern. Hier muss kein Wanderer hungrig bleiben.

Hinter dem Hanni-Park hat mich die Zivilisation wieder – und wie: Auf dem vierspurigen Berner Heerweg donnern die Siebeneinhalbtonner dahin, über mir rüttelt und rattert die Bahnmelodie. Im Neusurenland sollen andere Töne erklingen, wie ein Schild der Freien und Hansestadt verkündet: Dort entsteht die Veloroute 6, die von der Innenstadt bis Volksdorf führt. Radler indes sehe ich keine, hier ist man mit dem Auto mobil.

Circus Kaiser hat umgeschult

Unweit des Rückhaltebeckens schlägt ein Zirkus seine Zelte auf – doch der Circus Kaiser hat umgeschult: Er lockt noch bis zum 4. September Familien an den Berner Heerweg mit großen Hüpfburgen und Bällebad. Auf der anderen Seite der Straße, die eher einer Schneise gleicht, wachsen Hochhäuser in den Himmel. Plakate werben für das OMR Festival, das ein Vierteljahr zurückliegt, Passanten gibt es keine. Hier hat die alte, europäische Stadt aufgehört zu funktionieren, hier gibt es nur noch ein architektonisches Nebenein­ander, kein Miteinander, die Straße verbindet nicht, sie trennt. Was haben die Stadtplaner, die diesen Murks ersonnen haben, eigentlich beruflich gemacht? Es wird ein langer Weg zurück – selbst die Neubauten wenden sich vom Berner Heerweg ab, verschanzen sich geradezu mit Schießscharten als Fenster hinter der Lärmschutzwand.

Radikal anders wird das Bild im Berner Gutspark. In dem malerischen Park mit alten Bäumen, dem Deepenhorngraben und großen Teichen liegt der ehemalige Gutshof, nicht ganz zu Unrecht Berner Schloss genannt. Der Hingucker im Park würde als Wahrzeichen Wandsbeks taugen. Oder was sonst? Wer Google befragt, bekommt seltsame Vorschläge: Die Wandse, der Eichtalpark, der Botanische Sommergarten mögen einleuchten – aber warum soll der Trampolinpark Sprungraum ein Wahrzeichen sein? Dann doch lieber das Berner Schloss. Heute kann sich ein jeder für wenige Stunden als Schlossherr fühlen – das Gebäude von 1880 wird als Eventlocation für Feiern und Hochzeiten vermietet.

Paul Gashi übernahm das Landhaus Berne

Wenn die Deutschen denn noch feiern mögen. Paul Gashi hat da so seine Zweifel. Vor drei Jahren hat er mit seinem Familienbetrieb das Landhaus Berne übernommen – dann kam Corona. „Derzeit rentiert sich der Betrieb eines Restaurants nicht mehr“, sagt er. „Das Publikum ist unsicher geworden, viel häufiger werden Reservierungen wieder abgesagt. Die Menschen haben sich verändert – die Gemütlichkeit kommt abhanden, Corona hat das Lächeln weggezaubert.“

Mit anspruchsvoller deutsch-österreichischer Küche will Gashi punkten, mit Pannfisch, Spätzle, echtem Wiener Schnitzel aus Kalbsrücken. „Ich bin mit der traditionellen deutschen Küche aufgewachsen – sie wird aussterben, wenn wir nicht dagegenhalten“, sagt der gebürtige Montenegriner. Er versteht sich als Botschafter: „Die Menschen müssen ihre eigene Küche wieder lieben lernen. Deshalb habe ich mich für das Landhaus entschieden.“ Gashi hofft weiter auf die Unterstützung der Walddörfler. „Wenn sie nicht während Corona bei uns bestellt hätten, wären wir heute nicht mehr da.

Der Wald geht bis an die Straße

Der Berner Heerweg zieht sich in Richtung Volksdorf – bis zur Hausnummer 517, dann wird er zur Farmsener Landstraße. Und doch läuft und lebt es sich hier leichter als einige Kilometer zuvor. Die nur noch zweispurige Straße ist von Bäumen gesäumt, Kastanien, Ahorn und Eichen wechseln sich ab. Die architektonische Vielfalt macht die Wanderung kurzweilig. Reihenhäuser im Gartenstadt-Stil, alte Doppelhäuser, manche Mehrfamilienhäuser, vereinzelt Villen, ein paar Bausünden. Die Stadt als Dorf, der Wald wagt sich bis an die Straße, zwischendurch wachsen die Brombeeren dem Bummler bis in den Mund. Ein Fahrradweg würde hier nicht schaden, aber Volksdorfer sind freundliche Menschen: Sie bedanken sich, wenn man zur Seite tritt.

Der Stadtteil selbst wirkt so wohlhabend wie selbstbewusst: Leider hatte Volksdorf das Pech, Anfang der 70er-Jahre groß zu werden – in einer Zeit manch architektonischer Verirrung. Das Einkaufszentrum in Ockerbraun und mit viel Beton wirkt wie ein missglückter Riesen-Schulbau und ist in die Jahre gekommen, das Parkhaus: eine waschbetonechte Scheußlichkeit.

Museumsdorf ist das Juwel von Volksdorf

Der Name „Weiße Rose“, 1972 eine großartige Idee, um des Widerstandes gegen Hitler in der Mitte des Gesellschaft zu gedenken, wirkt inzwischen fast deplatziert. Die Weiße Rose hat etwas Besseres verdient als ein Parkhaus. Doch Volksdorf kann auch ganz anders: Im alten Dorf fühlt man sich mit Blick auf das Wiener Kaffeehaus Villa wie in einem Kurort, viele Geschäfte – zahlreiche Banken, Optiker, ein Hörgeräteakustiker, Apotheken, eine Confiserie – bedienen eine ältere Zielgruppe.

Das Museumsdorf in Volksdorf lebt von seinen Ehrenamtlichen.
Das Museumsdorf in Volksdorf lebt von seinen Ehrenamtlichen. © Matthias Iken (FMG)

Volksdorfs großes Glück ist das Museumsdorf. Es ist weniger Museum als vielmehr Keimzelle des Ortes. Das älteste der elf historischen Gebäude, das Spiekerhus, stammt aus dem Jahr 1624 und ist eines der ältesten Bauernhäuser der Stadt. Auf einem Hektar finden sich eine Grützmühle, eine Schmiede, ein Kramladen – im alten Dorf wähnt man sich in das 19. Jahrhundert zurückversetzt. 200 Ehrenamtliche halten das Dorf am Laufen, Karina Beuck und Angela Lehmkuhl sind zwei von ihnen. Gerade bereiten sie in der Diele des Wagnerhofs den Wasch- und Badetag vor, der am Sonntag die Körperhygiene früherer Zeiten ins Heute holt. In der Ecke steht ein alter Badezuber, bei einer Modenschau wird Nachtwäsche, Unterwäsche und das feine Ausgehzeug für den Kirchgang präsentiert.

„Das Museumsdorf bietet ganz viele Facetten"

„Das Museumsdorf bietet ganz viele Facetten. Man lernt alte Fertigkeiten kennen – vom Brotbacken übers Heumachen bis zum Fleckenentfernen“, sagt Beuck. 2000 Mitglieder finanzieren das Museumsdorf, hinzu kommen Einnahmen aus der Saalvermietung und der Eintritt zu den besonderen Veranstaltungen. Die Stadt unterstützt das ambitionierte Projekt nur sporadisch. Das bürgerliche Engagement gibt Volksdorf nicht nur eine attraktive Sehenswürdigkeit, sondern eine echte Mitte.

Hinter dem Museumsdorf spielt Wandsbek seine großen Stärken aus – Wasser und Wald, Grün und Blau. Der Allhorndiek liegt in einem malerischen Laubwald. Wie in einer Kathedrale schlendere ich unter hohen, breiten Baumkronen und staune, wie grün Hamburg ist. Gleich hinter dem See liegt das Walddörfer-Gymnasium, eine Schule der Reformpädagogik, erschaffen von Fritz Schumacher persönlich. Ein hübsche Wohnstraße mit alten Bäumen, Kaffeemühlen, Villen – was fehlt, ist ein Fahrradweg. Die viel beschworene Velo-Offensive ist noch ein Innenstadtprogramm. Der Ahrensburger Weg wirkt, als habe ihn ein Botaniker bepflanzt, man lustwandelt unter spektakulären Laubbäumen – schließlich wird die Straße zu einer Birkenallee.

Im Sommerbad Volksdorf gibt es FKK seit fast 70 Jahren

Am Ende des Moorbekwegs, nur wenige Meter vor der Landesgrenze, wartet der letzte Höhepunkt eines bunten Bezirks – das FKK-Sommerbad Volksdorf. Während Eimsbüttel aufgeregt Debatten über Oben ohne führt, hat der Hamburger Bund für Freikörperkultur und Familiensport schon 1953 alle Hüllen fallen lassen. Sein Schwimmbad richtet sich in den drei Sommermonaten an alle. Der Mann an der Kasse trägt Adamskostüm, die große Mehrheit lieber Badehose und -anzug.

Getragen wird das Schwimmbad von den 750 Ehrenamtlichen, die mit einem Schlüssel das Gelände jederzeit nutzen können. „Hier helfen alle mit“, erzählt Olaf Johannsen, der seit 25 Jahren dabei ist. „24 Stunden Gemeinschaftsarbeit sind Pflicht.“ Zu tun gibt es immer genug – die Anlage umfasst große Liegewiesen unter Kiefern, einen Spielplatz, einen Beachvolleyballplatz. Familien und Paare zahlen 30 Euro im Monat, dafür entfällt der Eintritt, der sonst 4,50 Euro beträgt.

Bezirk in Hamburg: Wandsbek bietet klaren Natursee

Im Sommerbad geht es tiefenentspannt zu. Die Architektur des Hauses am See und die Stimmung im See wirken wie ein Super-8-Film aus längst verflossenen Schwimmbadsommern. Ein Betonsteg führt weit ins Wasser hinein, das Bad ist in die Jahre gekommen und hat doch nichts von seinem Charme eingebüßt. Das Vereinsmotto „Wir sind nackt und sagen Du“ läuft auf der Tonspur dazu. Im Hintergrund klingelt der Eiswagen.

Der Natursee ist dank einer Pflanzenkläranlage fast glasklar, blaue Libellen tanzen in der Sonne, das Wasser ist 25 Grad warm und doch frisch. An der Rutsche kreischen junge Mädchen, auf dem Badeponton rangeln Jungs wie junge Hunde. Wer dem Genderglauben anhängt, Geschlecht sei bloß ein soziales Konstrukt, erlebt hier im Wasser einen Feuerbach-Moment – er fällt vom Glauben ab. Beim Herausgehen lacht mich ein Bild der Barbapapa-Familie an: „FKK braucht keine Bikinifigur“, heißt es da. Es klingt wie eine Widerrede zum Beginn meines Weges, zur Botschaft der Wandsbeker Chaussee mit ihrem Beauty-Overkill. Wir müssen gar nicht schöner werden. Sondern einfach glücklich sein.