Hamburg. Die Zeichenfigur ist seit Jahren der große Star der Kleinen. Die neuen Bildgeschichten entstehen in Winterhude – bei Dorothée Böhlke.
Wenn Dorothée Böhlke an ihrem großen Schreibtisch sitzt, und das tut sie gerade sehr viel, dann ist ihr Blick auf das Blatt vor ihr gerichtet. Der Kronleuchter über ihr, die Figürchen und Erinnerungsstücke auf der Fensterbank, die an die Wand gepinnten Blätter und Bilder zu ihrer Rechten, all das sieht sie nicht. Nur zu einer Zeichnung, die mitten in dem Gewusel neben ihr hängt, guckt sie zwischendurch hoch. Wuschelhaare, schwarze Stupsnase und Knopfaugen, genau, so muss er aussehen. Und der eine Hosenträger? Immer rechts, nie anders, natürlich!
„Das war meine Probe-Illustration“, sagt Dorothée Böhlke und streicht über die Zeichnung. „Da gucke ich immer mal wieder drauf, damit ich mich nicht zu weit entferne.“ Denn Böhlke zeichnet für ein hochanspruchsvolles Publikum, dem kein Detail entgeht: Zwei- bis Vierjährige. Und es gibt wohl kaum ein Kind dieses Alters, das ihn nicht kennt: Bobo Siebenschläfer. Die kleine Zeichenfigur in Nagergestalt wurde einst speziell für die Kleinkinder-Zielgruppe entwickelt. Oder, wie es in den Büchern heißt: „Bildgeschichten für ganz Kleine.“
Kinderbuch: Bobo erlebt Abenteuer für Kleine
Und so sind die „Abenteuer“, die der kleine Spross der Siebenschläferfamilie erlebt, Geschichten, die für Zweijährige spannend sind: Bobo geht einkaufen, Bobo geht in den Zoo, Bobo geht zum Kinderarzt, Bobo geht Eis essen. Bobo erlebt die Welt mit Kleinkinderaugen, mit wenig Text und vielen Bildern, für vorlesende Eltern durchaus eintönig, für seine kleinen Fans faszinierend. Drei Millionen Bobo-Bücher wurden bereits verkauft. Mittlerweile gibt es 13 Vorlesebücher, zahlreiche weitere Bilder- und Beschäftigungsbücher, Hörbücher und Tonies, einige Geschichten wurden fürs Fernsehen verfilmt, und die Serie läuft auf Netflix.
Die Kinder- und Jugendbuchbranche ist zu einem gewaltigen Markt geworden, in den vergangenen Jahren gab es jeweils rund 8000 Neuerscheinungen, immer neue Figuren und Charaktere sollen die kleinen Konsumenten fesseln. Doch nur wenige schaffen das dauerhaft und erscheinen in Serie, wie beispielsweise „Conni“, „Der kleine Drache Kokosnuss“ oder „Der kleine Rabe Socke“.
Bobo Siebenschläfer ist für Kinder ein Bezugspunkt
Bobo Siebenschläfer ist kein internationaler Klassiker wie Janoschs Tiger oder gar Pippi Langstrumpf. Aber das possierliche Kerlchen hat es geschafft, sich auf dem deutschen Vorlesemarkt zu behaupten. Bobo ist für seinen Verlag ein Bringer und für Kinder ein Bezugspunkt. Wenn es so etwas wie den Zauber des Populären gibt, dann umgibt er auch dieses Flauschwesen, das mit großen Augen in die für ihn aufregende Welt schaut.
Warum Bobo so erfolgreich ist? Dorothée Böhlke muss nicht lange überlegen: „Weil er wie ein Freund für die Kinder ist. Wenn es ihn wirklich gäbe, wäre er auch mein Freund. Er ist einfach ein toller Typ.“
Dorothée Böhlke hat Bobo geerbt
Dabei musste die Illustratorin am Anfang erst einmal verstehen, was „das für eine Figur ist“. Dorothée Böhlke hat Bobo nämlich geerbt, ursprünglich wurde der kleine Siebenschläfer von seinem Schöpfer Markus Osterwalder gezeichnet. Doch seit sechs Jahren illustriert ihn Böhlke. Und erfindet seit Neuestem nun auch seine Geschichten und schreibt die Texte dazu. Die Hamburgerin hat also quasi das Sorgerecht für Bobo übernommen.
„Ich bin Teil des Boboversums“, sagt Dorothée Böhlke und lächelt, so, als wenn sie selbst gar nicht glauben kann, dass ausgerechnet sie nun für Millionen von Kindern zeichnet. Böhlke, die zum angefragten Gespräch in ihre gemütliche Zwei-zimmerwohnung in Winterhude geladen und Kekse und frische Erdbeeren bereitgestellt hat, würde daraus selbst nie einen Hehl machen, ihr Name ist auch weiterhin nur der zweite auf den Buchcovern, oben steht nach wie vor Bobo-Erfinder Osterwalder. „Zu Recht“, sagt Böhlke.
Bobo wird älter
Sie respektiert dieses Erbe und würde die Figur nie auf links drehen wollen – schon gar nicht besagten Hosenträger –, doch der kleine Bobo hat mit ihr nicht nur zeichnerisch einen Entwicklungssprung gemacht. Aus dem Zweijährigen wurde mittlerweile ein Vierjähriger, der ganze Sätze spricht, alleine aufs Klo gehen kann und sich um seine kleine Schwester Bibi – der Name lag für Böhlke auf der Hand – kümmert.
Bibi hat Dorothée Böhlke geboren, ebenso wie zahlreiche Kita-Freunde, Oma und Opa und natürlich Hasi, Bobos Kuscheltier, das überall dabei ist. Neue Charaktere zu entwickeln, das merkt man, macht Böhlke besonderen Spaß. Ihre Lieblingsfigur ist Pia, ein Wildfang mit drei Zöpfen und runder Brille, „burschikos und voller guter Ideen“. „Irgendwie sieht sie aus wie mein Bruder“, sagt Böhlke, und ihre Augen funkeln, so sehr freut sie sich über diese kleine Figur. Eine Pia-Zeichnung steht eingerahmt in ihrer Küche.
Bobo Siebenschläfer schon fast 40 Jahre alt
„Eigentlich wollte ich auch, dass Bobo noch Zwillingsgeschwister bekommt“, sagt Böhlke, „aber das ist vielleicht doch ein bisschen viel.“ Sie lächelt. Noch ist die Siebenschläfer-Sippe auf jeden Fall nicht ausgewachsen, so viel steht fest. Und Bobo wird vielleicht auch noch ein bisschen älter werden. Aber natürlich nicht zu viel. So ganz darf er seiner Zielgruppe schließlich nicht entwachsen.
Dabei ist Bobo Siebenschläfer eigentlich schon fast 40 Jahre alt. Das erste Buch erschien 1984 beim Hamburger Rowohlt-Verlag. Markus Osterwalder, 1947 bei Zürich geboren, suchte ein dickeres Vorlesebuch, um seine kleine Tochter abends in den Schlaf zu lesen. Ein längeres Unterfangen, für das zahlreiche kleine Bücher ans Bettchen geschafft wurden – und das sich stets verlängerte, wenn der Papa aufstehen und ein neues holen musste, wobei die gerade im Einschlafen begriffene Tochter wieder hellwach wurde. Also machte sich der gelernte Grafiker und langjährige künstlerische Leiter eines Kinderbuchverlags in Paris selbst an ein Vorlesebuch, ein dickes, mit sieben Geschichten über einen Siebenschläfer.
Bobo schläft am Ende der Geschichte ein
Davon erzählte er Uwe Wandrey, dem Gründer von Rotfuchs, der Kinder- und Jugendbuchreihe von Rowohlt, als dieser zu Besuch in Paris war. „Wir saßen im Bistro Sauvignon vis-à-vis vom Verlag L’école des loisirs, bei dem ich arbeitete bei einem Glas Weißwein, und ich sagte zu ihm: ,Ihr habt jetzt Bücher publiziert: vorlesen ab acht, ab sechs, ab vier Jahren – jetzt wäre es an der Zeit, ein dickes Vorlesebuch ab zwei zu machen, mit vielen Bildern.‘ Er: ,Ja, kannst du überhaupt zeichnen?‘ Ich: ,Ich kann dir ja zeigen, was ich schon gemacht hab …‘“
So in etwa sei es losgegangen, erzählt Osterwalder, der auch bei der Bobo-Figur immer seine zweijährige Tochter im Kopf hatte, die zwar nie daheim im Bett, aber „immer, sobald wir das Haus verließen und im Zirkus oder im Kino ankamen, gleich einschlief“. Und so schläft auch der kleine Bobo zum Ende einer jeden Geschichte einfach an Ort und Stelle ein, bis heute, und natürlich auch in den Illustrationen von Dorothée Böhlke.
„Die anderen waren grauslich“
Auch wenn die Kinder seine Zeichnungen jahrzehntelang geliebt haben, Osterwalder ist froh, dass er mittlerweile nicht mehr selbst zum Stift greifen muss. Schließlich sei er sich seiner „zeichnerischen Mängel sehr bewusst“. Bei der Auswahl seiner Nachfolgerin hatte er aber natürlich ein Wörtchen mitzureden, der Verlag legte ihm mehrere Bobo-Illustrationen vor, aus denen er sich sofort für die von Böhlke entschied. „Die anderen waren grauslich“, sagt Osterwalder.
Bei einem späteren persönlichen Kennenlernen seien sie sich dann auch direkt sympathisch gewesen, bestätigen Böhlke und Osterwalder gleichermaßen. Eine gute Voraussetzung, um ein so großes Erbe weiterzugeben. Die beiden verbinden nicht nur der Beruf und ihre Liebe für Kinderbücher, auch geografisch haben sie Schnittpunkte: So lebte die gebürtige Hessin Böhlke als Teenager mit ihrer Familie in Paris, bevor sie zum Studium nach Hamburg kam, wo Osterwalder ebenfalls längere Zeit lebte und unter anderem als Layouter beim „Zeit-Magazin“ arbeitete.
Bobo hat Hamburger Wurzeln
Bobo Siebenschläfer hat also – auch wenn er in einem Haus lebt, das dem von Familie Osterwalder nahe Paris nachempfunden ist – bereits Hamburger Wurzeln. In der Großstadt werden seine Abenteuer trotzdem vorerst nicht spielen. „Ich hatte für ein Buch sagenhafte Geschichten geschrieben“, sagt Böhlke. „Bobo ist mit der U-Bahn gefahren, mit dem Fahrstuhl und hat Freunde in einer Etagenwohnung besucht.“ Das war aber wohl ein zu großer Sprung weg von Bobos kleiner, heiler Welt.
Kinderbücher zu verfassen kann heikel sein – schließlich geht es nicht nur um die Vorlieben der Kleinen, sondern auch um die Ansprüche der Eltern, denen das Vorgelesene nicht in die Erziehungsparade fahren darf. So werde Bobo zum Beispiel niemals ein eigenes Haustier bekommen. „Dann wollen die Kinder ja auch alle eins, da steigt uns die Elternschaft aufs Dach!“, sagt Böhlke und lacht. Auch die Waffeln, die Bobo einmal essen sollte, wurden gestrichen – zu viel Zucker. Und Bobo trinkt natürlich keinen Saft, sondern Wasser. „Das mag er am liebsten“, sagt Böhlke. Sie grinst.
Veränderungen bezüglich des Rollenbildes
Doch es gibt auch Veränderungen, die heutzutage unerlässlich sind und die viele Eltern in Internet-Kommentaren längst eingefordert hatten. Vor allem in Bezug auf das Rollenbild der Erwachsenen. Dass der Bobo der 80er-Jahre vor allem von seiner Mutter bespaßt wird, während Papa Siebenschläfer arbeiten geht, ist heute natürlich nicht mehr zeitgemäß. In den neuen Büchern bringt also der Vater seinen Sohn in den Kindergarten, um danach mit der kleinen Schwester Bibi weiter zum Babyschwimmen zu fahren, während die Mutter am Computer sitzt. In der Kita spielt Bobo derweil nicht nur mit Pia und Alex, sondern auch mit Fatima.
In dem neuen Vorlesebuch, das im Herbst erscheint und an dem Böhlke zuvor mit Hochdruck gearbeitet hat, spielen neben Bobo aber Oma und Opa die Hauptrolle. Für ein Band, in dem heute nur noch vier, dafür aber längere Geschichten gebündelt sind, muss Dorothée Böhlke bis zu 200 Illustrationen anfertigen. Eine gewaltige Menge. „Ich bin permanent im Abgabestress, eigentlich drei Monate lang“, sagt Böhlke. „Am Ende ist es zum Dünnhäutigwerden.“ So gerne sie Bobo auch habe, sie möchte auch noch andere Dinge machen.
Böhlke arbeitete auch in Werbeagenturen
Mit Leidenschaft erzählt Böhlke, die vor ihrer Selbstständigkeit in Werbeagenturen gearbeitet hat („das fand ich gar nicht schön“), von anderen Figuren, die sie zum Leben erweckt hat, zum Bespiel das Mädchen Paula, das Bücher liebt, oder Felina mit ihrem Goldfisch Pommes. Auch möchte sie weiter an ihrem Kinderroman schreiben, doch zuerst möchten Bobo und seine Familie noch koloriert werden. Was Böhlke beim Zeichnen an ihrem großen Schreibtisch im Wohnzimmer beruhigt, sind Vogelstimmen. Was sonst noch hilft: schlafen. Oder rausgehen. Zum Beispiel auf einen Spielplatz.
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Wie Böhlke, die „begeisterte Tante und Großtante“ ist, es schafft, sich in ihr junges Publikum hineinzuversetzen? „Vermutlich, weil ich selbst noch gerne Kind bin“, sagt Böhlke, um das Gesagte gleich wieder einzufangen: „Nein, das ist so ein erwartbarer Satz. Vielleicht eher, weil ich dieselben Sachen mag wie kleine Kinder. Ich bin auch nicht weit entfernt von ihnen mit meinen 1,58 Metern.“
Kinderbuch: Auf die kleinen Dinge kommt es an
Auf jeden Fall sei es wichtig, sich Zeit dafür zu nehmen, um sich in etwas zu verlieren, so Böhlke. Zum Beispiel, eine Fliege zu beobachten. Meist sind es eben die ganz kleinen Dinge, die für die ganz Kleinen die Welt bedeuten. Und die sie am Ende hoffentlich zum Einschlafen bringen.