Hamburg. Was Vergnügen sein sollte, endete im Albtraum: Beim Untergang des Dampfers „Primus“ vor 120 Jahren sterben Hunderte vor Nienstedten.

Der Ausflug war zunächst traumhaft verlaufen. Nach einer ausgiebigen Feier im Gasthaus Zur schönen Aussicht in Cranz begaben sich die Mitglieder der Liedertafel „Treue von 1887“ am 20. Juli 1902 müde und glücklich an Bord des betagten Raddampfers „Primus“, um sich zurück nach Hamburg schippern zu lassen.

Fast alle stammen aus dem kleinbürgerlichen Teil von Eilbek – Arbeiter, Handwerker, einfache Angestellte mit ihren Familien. Für die meisten war es „das einzige Vergnügen (...), das sie sich im ganzen Jahr leisten können“, schrieben die „Hamburger Nachrichten“ später. Niemand ahnt an diesem Abend, dass die Fahrt in einem Albtraum enden würde.

Hamburg historisch: Makabere Situation bei Schiffsunglück auf Elbe

In der Nacht wechselt Kapitän Johannes Peters in die nördliche und damit falsche Fahrwasserseite der Elbe. Warum er das tut, wurde nie endgültig geklärt. Vermutlich wollte Peters der stärkeren Strömung im Süden ausweichen, um mehr Fahrt zu machen – wohl auch gedrängt von einigen Fahrgästen. Das Risiko schien ihm um diese Zeit – es war kurz vor Mitternacht – wohl auch als eher gering.

Wie auch immer: Das Manöver erweist sich als fatale Fehlentscheidung, das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Gegen halb eins rammt die „Hansa“, ein Tenderschiff der Hamburg-Amerika-Linie, vor Nienstedten die völlig überladene „Primus“, auf der sich mit 206 Menschen deutlich mehr als erlaubt befinden. Anrührend und im Rückblick makaber: Eine kleine Kapelle spielt gerade den Gassenhauer „Nach Hause, nach Hause geh’n wir nicht“, den alle, die noch nicht zu müde sind, fröhlich mitsingen. Ein Wiedersehen mit dem Zuhause wird es für viele nicht mehr geben.

Gerettete schildern die Erlebnisse

In dem Buch „Die Primus-Katastrophe“ von Karl-Heinz Meier ist die Schilderung einer Geretteten wiedergegeben: „Als der heftige Stoß erfolgte, fragte mich mein kleiner Sohn ängstlich: ,Wir gehen doch nicht unter?‘ Kaum hatte er dies gesagt, als das Wasser von allen Seiten auf uns einstürmte. Infolge der Panik wurde ich ins Wasser geschleudert. Zweimal sank ich mit meinem Knaben in die Tiefe, kam aber immer wieder in die Höhe. Als ich zum dritten Male untersank, ergriff mich eine Hand und zog mich in ein Boot. Mein Sohn aber war verschwunden. Mein zwölf Jahre altes Mädchen war am Schornstein unseres Dampfers hinaufgeklettert und von dort auf den Schlepper ,Hansa‘ gesprungen. Meine Schwiegermutter dagegen ist auch ertrunken.“

Die beiden Schiffe sind zunächst ineinander verkeilt, und angeblich versucht der „Hansa“-Kapitän noch, die „Primus“ in Richtung des sicheren Ufers zu drücken. Doch das bleibt, wie so vieles, buchstäblich im Dunklen in dieser rabenschwarzen Nacht – zu widersprüchlich sind die Aussagen über das unfassbare Desaster, das sich abspielt. Die „Primus“ läuft voll Wasser und sinkt innerhalb von 15 Minuten.

Keine Schwimmwesten und nur ein Rettungsboot

Im Jahr 1902 ist die Zahl der Nichtschwimmerinnen und -schwimmer in der Bevölkerung noch viel höher als heute. Auf dem Schiff bricht Panik aus, chaotische Szenen spielen sich ab. Viele von denen, die in die Elbe stürzen oder springen, können das nur rund 50 Meter entfernte Ufer nicht erreichen. Andere werden unter Wasser gedrückt oder erreichen das Deck nicht, weil sie – wie viele der Kinder an Bord – gedöst oder geschlafen hatten und von dem Unglück nun völlig überrascht werden.

Das einzige Rettungsboot kentert fast sofort, Schwimmwesten sollen sich nicht an Bord befunden haben. Der Besatzung des Hadag-Dampfers Delphin IV gelingt es zwar, einige Menschen aus dem Wasser zu ziehen, aber für 101 Menschen gibt es keine Rettung. Sie ertrinken jämmerlich in der Elbe.

Erinnerung an Heldenmut des Emil Eberhard

Am Strand von Nienstedten spielen sich erschütternde Szenen ab. Namen werden durch die Nacht geschrien, Eltern suchen verzweifelt nach ihren Kindern, viele brechen weinend zusammen. Später wird sich zeigen, dass einige Familien zwei oder mehr Tote zu beklagen haben. Vom Heldenmut des erst 18 Jahre alten Kellners Emil Eberhard wird jahrzehntelang gesprochen und geschrieben werden. Er rettet zunächst seine Verlobte Auguste Boer­ries und dann noch vier weitere Frauen aus den Fluten.

Obwohl Auguste ihn angefleht haben soll, es dabei zu belassen, stürzt sich Eberhard noch einmal ins Wasser, um Kinder aus dem sinkenden Schiff zu bergen. Bei diesem Versuch gerät er in einen Sog und ertrinkt. Emil Eberhards Name wird später in Liedern und Gedichten verewigt, sein Foto als Postkarte verschickt. Heute erinnert eine Gedenktafel unterhalb des Hotels Jacob an das Unglück und explizit an den jungen Mann.

Als das Ausmaß der Katastrophe deutlich wird, ist die Erschütterung im ganzen Deutschen Reich zu spüren. Sogar Kaiser Wilhelm II., der gerade mal wieder auf Reisen ist, kondoliert in einem Telegramm: „Das beklagenswerthe Schicksal der zahlreichen Verunglückten hat mich tief erschüttert.“ Eine Stiftung zur Unterstützung der Hinterbliebenen bringt innerhalb von drei Monaten 267.000 Mark zusammen – eine damals gigantische Summe.

Als der Trauerzug für die Opfer des Schiffsunglücks durch Hamburg zieht (hier in St. Georg), sind 100.000 Menschen auf den Beinen.
Als der Trauerzug für die Opfer des Schiffsunglücks durch Hamburg zieht (hier in St. Georg), sind 100.000 Menschen auf den Beinen. © ullstein bild | ullstein bild

Und als die Toten zum Ohlsdorfer Friedhof übergeführt werden, säumen 100.000 Menschen die Straßen. 78 Ertrunkene finden ihre letzte Ruhe in einem Gemeinschaftsgrab, das als Grabmal noch heute erhalten ist und nach wie vor viel besucht wird. Die Übrigen werden anderweitig bestattet.

Makaber: Zwei Opfer, der 23-jährige Adolf Geißler und die fünfjährige Luise Lipp, wurden nie gefunden.