Wilhelmsburg. Die Kreativen aus den Zinnwerken von heute suchen Arbeiter aus der Zinnhütte von einst. Ihre Geschichte soll aufgearbeitet werden

Wenn man heute von den Wilhelmsburger Zinnwerken spricht, verbinden die meisten Gesprächspartner damit die heutigen „Bewohner“ der alten Werkshallen am Veringkanal: Eine facettenreiche Mischung aus Kreativen, Verschrobenen und Intellektuellen, die hier ihre Wirkungsstätten haben. Deren Treiben ist so bunt, dass man in der Tat viel über sie erzählen könnte. Die Kreativen aus der Zinnhütte wollen jetzt allerdings über diejenigen sprechen, deren Wirken den Werken ihren Namen gab: Ehemalige Arbeiterinnen und Arbeiter der Wilhelmsburger Zinnhütte.

Das Problem dabei: Die Verhüttung hier endete mit der Sturmflut 1962. Danach wurden die Anlagen abgebaut und – so noch brauchbar – in den „Mutterbetrieb“ auf der Peute-Halbinsel verbracht, die Norddeutsche Affinerie, kurz: Die Affi. Zeitzeugen von damals sind mittlerweile deutlich hohen Alters. Viele leben auch nicht mehr. „Aber gerade diese Zeit Anfang der 1960er-Jahre ist für das heutige Wilhelmsburg eine sehr prägende Zeit“, sagt Annette Schmid. Die Kommunikationsdesignerin mit Schreibtisch und Atelier in den Zinnwerken ist eine der treibenden Kräfte hinter dem Zeitzeugenprojekt, das in Kooperation mit der Stadtteilschule Wilhelmsburg stattfinden wird.

Neuhof wurde abgerissen, heutigem In-Viertel am Stübenplatz drohte dasselbe Schicksal

Annette Schmid sucht Zeitzeugen
Annette Schmid sucht Zeitzeugen © xl | Lars Hansen

Prägend war die Zeit für Wilhelmsburg in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurden nach der Flut ganze Quartiere geräumt. Neuhof wurde abgerissen, dem heutigen In-Viertel rund um den Stübenplatz drohte dasselbe Schicksal. Die ehemaligen Bewohner wurden in neue Wohnungen in Kirchdorf oder in ganz andere Teile Hamburgs gelockt. Die Altbauten im Westen sollten dem Hafen weichen. Bis es so weit war, hatte man noch eine andere Verwendung dafür: Seit dem ersten Anwerbeabkommen 1955 mit Italien waren „Gastarbeiter“ nach Wilhelmsburg gekommen und mussten untergebracht werden – längst nicht mehr nur Italiener: In schneller Abfolge wurden ähnliche Abkommen mit Spanien, Portugal, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei geschlossen.

in Großteil der Jugendlichen in Wilhelmsburg hat Migrationshintergrund

„Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein nicht geringer Teil der Zinn-Arbeiter aus der ersten Gastarbeitergeneration kommt“, sagt Annette Schmid. „Ein Großteil der Jugendlichen in Wilhelmsburg hat Migrationshintergrund. Wenn wir die Schüler mit den Zeitzeugen zusammenbringen können, erfahren die Jugendlichen auf diese Weise etwas, das mit den Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern korrespondiert.“

Auch vor den berühmten Anwerbeabkommen war die Bevölkerung von Migration geprägt: Bis zur industriellen Revolution, die auf der Elbinsel erst spät einsetzte, war Wilhelmsburg von einigen wenigen Bauernfamilien geprägt. Der Boom des Hafens, die Wollkämmerei und nicht zuletzt die Zinnwerke und die Ölwerke lockten ab den 1890er Jahren Arbeitskräfte an. Sie kamen aus anderen Teilen Deutschlands, aber auch aus Nachbarländern, wie Polen oder Österreich. Jablonski ist deshalb genauso ein Wilhelmsburger Name, wie Jensen oder Yildiz.

Die Zinnwerke von außen. Das Foto dokumentiert einen Bombenschaden am Kran während des Kriegs
Die Zinnwerke von außen. Das Foto dokumentiert einen Bombenschaden am Kran während des Kriegs © xl | Norddeutsche Affinerie

„Jeder dritte Hamburger hat Migrationshintergrund“, sagt Annette Jensen. „Warum werden diejenigen, auf deren Schultern sich das Wirtschaftswunder entfaltete, so wenig in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Ohne die Anstrengungen der Arbeitsmigrantinnen und Migranten wäre die Stadt und ihre gegenwärtige Struktur kaum vorstellbar. Was es braucht, sind Orte, die zur Reflexion darüber einladen, wo wir herkommen und wie wir zusammenleben möchten!“

Die Zinnwerke wurden 1903 zur Verhüttung von Zinnerzen und zinnhaltigen Rückständen anderer Hüttenprozesse gegründet. Bis zu ihrer Verlagerung nach der Flut waren sie die wichtigste Zinnhütte Deutschlands.

Denkmäler und Kirchenglocken wurden zu Todeswerkzeugen

Einige ganz alte Wilhelmsburger erinnern sich noch, wie der Hof der Zinnwerke während des Kriegs mit Denkmälern und Kirchenglocken vollstand, die hier eingeschmolzen wurden, um zu Todeswerkzeugen verwandelt zu werden. Ein Gebäude der Zinnwerke erlangte Anfang dieses Jahrtausends überregionalen Filmruhm: Die alte Lager- und Mischhalle für Erze war die Kulisse für die Tragikomödie „Soul Kitchen“ des Regisseurs Fatih Akin.

Zusammen mit den Schülern wollen die Kreativen aus den heutigen Zinnwerken eine multimediale und interaktive Ausstellung am Zinnwerkszaun gestalten: „Auf alte Metallplatten werden klassische Infotafeln aufgebracht“, sagt Schmid. „Wenn man die mit der Handykamera erfasst, erhält man Zugang zu digitalem Zusatzmaterial – unter anderem hoffentlich den Tonspuren unser Zeitzeugen-Interviews, denn die Geschichte der Arbeitsmigrantinnen und -migranten ist unsere gemeinschaftliche Geschichte – und wird unsere Zukunft sein.“