Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über (große) Themen unserer Zeit.
In ihrem Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob mit der Schulzeit die schönste Zeit oder der Ernst des Lebens beginnt.
Lars Haider: Sie haben in einem unserer Gespräche vor ein paar Wochen in einem Nebensatz gesagt, dass Ihre Schulzeit nicht die schönste Zeit Ihres Lebens gewesen sei. Das fand ich interessant, weil man von vielen anderen Menschen das Gegenteil hört. Ich persönlich habe es ähnlich wie Sie empfunden, ich habe die Schulzeit nicht als besonders schön in Erinnerung.
Dieter Lenzen: Wenn man sich anschaut, was es dazu an empirischen Daten gibt, muss man sagen, dass zwischen der Zeit, in der ich zur Schule ging, und heute ein großer Unterschied besteht. Die Schule wird heute als weniger autoritativ verstanden, Lehrerinnen und Lehrer verhalten sich anders als früher. Die starke inhaltliche Gängelung von Schülerinnen und Schülern bleibt gleichwohl ein großes Problem, genauso wie das, was man als ständige Beurteilungssituation bezeichnet. Jeder Atemzug wird bewertet, ununterbrochen, damit ein Lehrer am Ende eine begründete Note vergeben kann. Für mich war die Schulzeit schon deshalb nicht die beste Zeit, weil man sich einem Thema, das einen interessierte, gar nicht länger zuwenden konnte, weil gleich ein anderes Thema auf den Stundenplan kam. In der zehnten Klasse wäre ich fast von der Schule geflogen, weil meine Leistungen so schlecht waren.
Was war denn da los mit Ihnen?
Ich hatte in Mathe, in Latein und in Englisch jeweils eine Fünf. Ich habe Glück gehabt, dass mein Klassenlehrer die Hoffnung mir gegenüber nicht aufgegeben hat. Er hat meiner Mutter gesagt, dass ich durchaus das Abitur machen könnte, und mir freundlicherweise Nachhilfestunden besorgt. Nach einem halben Jahr hatte ich dann auf einmal überall gute Noten, was daran lag, dass ich mit meinen Nachhilfelehrern machen konnte, was ich wollte, und quasi beiläufig lernte, was ich lernen sollte. Mit der Frau, die mir Englisch beibringen sollte, habe ich zum Beispiel die „New York Times“ gelesen.
Was mir in der Schule sehr gefehlt hat, war die Freiheit des Lernens. Erst an der Universität habe ich dann gemerkt, wie Lernen auch funktionieren kann.
Das positive Modell ist das, was man als selbstgesteuertes Lernen bezeichnet. Das heißt, der Lernende lernt am besten, wenn er das Tempo des Lernens selbst bestimmen kann. Das wäre der Idealzustand. Leider haben wir nach dem sogenannten PISA-Schock, als herauskam, dass die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich schlecht waren, die Freiheit des Lernens zurückgestellt. Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden: Einerseits sollte es in Schulen möglichst viele Freiheiten beim Lernen geben, andererseits müssen sich Unternehmen darauf verlassen können, dass Schülerinnen und Schüler bestimmte Dinge sicher wissen und beherrschen.
Wissen Sie, warum ich auch immer zusammenzucke, wenn jemand sagt, dass die Schulzeit die schönste Zeit seines Lebens gewesen sei? Weil man dann ja weiß, dass alles, was danach kam, schlechter war … Im Idealfall müsste doch immer die Zeit, in der man gerade lebt, die schönste Zeit sein und die Schulzeit allein schon, weil sie so lange zurückliegt, verblassen.
„Es gibt so etwas wie einen Erinnerungsoptimismus. Wir neigen dazu, die Vergangenheit zu glorifizieren, damit die Last der eigenen Geschichte reduziert werden kann. Wenn man immerzu sagen würde, dass in den vergangenen 20, 30 Jahren alles nur Mist war, würde man von der Zukunft auch nicht viel erwarten. Entsprechend gibt es einen natürlichen Mechanismus, der bei Sätzen wie „die Schulzeit war die schönste Zeit“ auch mitwirken mag. Der Erinnerungsoptimismus ist übrigens ein Mechanismus, der nicht nur etwas mit der Schule zu tun hat, er gilt auch für Ehen und Freundschaften, für Reisen und alles andere, was wir im größeren Maßstab tun.“
Wobei ich nicht sagen würde, dass mir die Schule keinen Spaß gemacht hat.
Den Sorgen, die Lehrerinnen und Eltern haben, dass es einen Gegensatz gibt zwischen Wohlbefinden und Leistung, muss man entgegenwirken. Viele sagen: Wenn die Schüler zu viel Freude haben, dann kann das nichts werden. Wir müssen mit diesem Vorurteil aufräumen. Empirische Studien zeigen eindeutig, dass emotionales Wohlbefinden in der Schule die Leistung befördern kann. Wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, dann gab es damals übrigens mehrere Situationen, in denen ich Ohrfeigen bekommen habe.
Sie haben Ohrfeigen bekommen?
Ich war eigentlich überangepasst, aber leider hat das nicht in allen Fällen gereicht. Wenn man damals nach der Pause in den Klassenraum ging, musste man sich nebeneinander aufstellen und schweigen. Da ich aber gern geredet habe und das immer noch tue, habe ich das eine oder andere Mal eine Ohrfeige erhalten. Das Gleiche galt, wenn ich vergessen hatte, die Mütze im Schulgebäude abzunehmen. Das musste man tun, um der Schule als Bildungseinrichtung Respekt zu erweisen. Tat man das nicht, riss der Lehrer einem die Mütze vom Kopf und man bekam noch eine geknallt.
Sie waren überangepasst, was heißt das?
Ich habe aus Ängstlichkeit versucht, nichts falsch zu machen. Aber wenn Sie sich immer damit beschäftigen, sich bloß richtig zu verhalten, passieren erst recht Fehler, und man konzentriert sich nicht auf das Wesentliche, die Inhalte.
Deshalb habe ich das gar nicht erst versucht … Sie haben vorhin gesagt, dass ein Grund, warum die Schulzeit auch negativ beurteilt werden kann, das ständige Benoten durch die Lehrerinnen und Lehrer ist. Und jetzt versuchen wir noch, Leistungen verschiedener Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Bundesländern oder gar Staaten vergleichbar zu machen. Dabei sind die Unterschiede in einer ersten Klasse schon riesig: Hier ist der Junge, der eigentlich nicht mehr beschulbar ist, dort sitzt sein Klassenkamerad, der schon kleine Texte lesen kann ...
Das zeigt übrigens auch, dass ein individualisierter Unterricht, der auf die einzelnen Leistungsstände und -möglichkeiten der Kinder eingeht, bessere Erfolgschancen hat. Allerdings sind Lehrerinnen und Lehrer natürlich damit überfordert, wenn die Spanne in einer Klasse sehr groß ist. Das ist sehr viel Arbeit.
Und die Frage, die man sich als Kind stellt, ist immer wieder die: Warum muss ich all das, was in der Schule auf dem Stundenplan steht, eigentlich können?
Das ist wirklich eine interessante Frage, die auch für die einzelnen Fächer untersucht worden ist. Wenn man die Absolventen von Schulen fragt, wo zwischen dem, was sie in ihrem Leben tatsächlich brauchen, und dem, was sie lernen sollten, die größten Unterschiede bestanden, werden drei Fächer genannt – nämlich Physik, Chemie und Biologie. Das kann natürlich daran liegen, dass es wenige Fachkräfte in Deutschland gibt, bei denen Naturwissenschaften im Zentrum stehen. Ein großer positiver Zusammenhang besteht dagegen zwischen dem Deutschunterricht und dem weiteren Leben. Das ist ein Vorteil für Deutschlehrer, während Physiklehrer etwa eine Motivation erzeugen müssen, die per se gar nicht da ist.“
Bleibt die Frage, ob wenigstens der Satz stimmt, dass mit der Schule der Ernst des Lebens beginnt.
Der Satz stimmt, weil mit dem Beginn der Schulzeit die Spielzeit endet. Man muss etwas machen, was man nicht selbst bestimmen kann. Das ist der entscheidende Punkt.