Hamburg. Die 24-Jährige war die erste von 43 Flüchtlingen aus der Ukraine. Mittlerweile hat sie eine Wohnung und sich eingelebt. Ein Einblick.

Es ist der dritte Neubeginn innerhalb weniger Monate. Drei Tage nach Ausbruch des Krieges in ihrer Heimat war Nadia Ovechkina Anfang März aus der Ukraine nach Hamburg geflüchtet, kam bei einem Ehepaar in Harvestehude unter. Nun lebt die 24-Jährige ein fast normales Leben auf St. Pauli in ihrer eigenen Wohnung – mit ihrem Sohn. Sogar ihr Mann konnte zu seiner Familie reisen.

Bei der ersten Begegnung sah Nadia Ovechkina müde und erschöpft aus. Es ging ihr nicht gut. Kein Wunder, war sie damals doch 50 Stunden mit ihrem Baby von ihrer Heimatstadt Ivano-Frankivsk im Westen des Landes die mehr als 1300 Kilometer nach Hamburg gereist. Erst hatten Freunde sie mit dem Auto an die polnische Grenze gebracht, dann fuhr sie mit einem Flix-Bus von Polen nach Hamburg.

Geflüchtete in Hamburg: Nadia hat eine eigene Wohnung

Jetzt steht sie in ihrer Wohnküche auf St. Pauli in einem Neubau der Sprinkenhof AG und sieht ausgeschlafen aus, glücklicher als damals und hoffnungsvoller. Sie lächelt viel. Na gut, ausgeschlafen ist sie eigentlich nie. Das liegt aber nicht an Hamburg oder an Kriegsstrapazen, das liegt an ihrem einjährigen Sohn Akim, der fünf Zähne auf einmal bekommt und derzeit nur sehr wenig schläft. Trotzdem: Den Schlafmangel sieht man ihr nicht an, ihre hellen Augen sind nicht wie im März hinter einem Schleier.

Es gehe ihr gut, sagt sie auf Englisch. Es geht ihr gut, weil kurz nach Ostern ihr Mann Vlad Shturko ausreisen und nach Hamburg kommen durfte. Wegen einer eingeschränkten Sicht seines linken Auges seit seiner Geburt konnte der 26-Jährige dem Militär nicht dienen und durfte das Land verlassen. Es geht ihr auch deshalb gut, weil sie mit ihrer kleinen Familie seit einem Monat endlich in einer eigenen Wohnung leben und ein fast normales Leben führen kann.

Die Überweisung der staatlichen Hilfe und Zahlung der Miete klappen nicht

Sophia und Michael Behr hatten sie damals sofort bei sich in der großen Altbauwohnung aufgenommen, aber ein eigenes Zuhause mit Rückzugsmöglichkeiten ist dann eben doch etwas anderes. Hier, in der Zweizimmerwohnung, hatte Akim gerade seinen ersten Geburtstag gefeiert. Die Behrs waren mit ihren Zwillingen zum Kindergeburtstag gekommen, es gab Süßkartoffeln und Kürbisspalten aus dem Ofen, Kaffee und Getränke. Die Freundschaft zu den Behrs ist auch nach dem Auszug geblieben.

Und immer noch helfen die beiden Nadia und ihrer Familie. Denn trotz der neuen Wohnung bleiben doch noch Sorgen. So klappt die Überweisung der Grund­sicherung durch das Jobcenter nicht – Nadia und ihr Mann konnten seit ihrem Einzug daher die Miete nicht bezahlen. Das beschäftigt die beiden sehr. „Die Banken haben das wohl vermasselt, ich hoffe, dass es mit meinem neuen Konto bei einer anderen Bank endlich klappt.“ Die Miete für Juli ist längst fällig. Für Nadia und ihren Mann Vlad ist das eine kleine Katastrophe. Ohne Geld können sie weder die Miete noch Essen bezahlen. „Es gibt derzeit hauptsächlich Pasta für uns und Bananen für Akim. Das ist billig“, sagt Nadia Ovechkina, die dennoch Humor hat und lacht.

Die gute Nachbarschaft hilft der Familie

Wieder helfen die Behrs der ukrainischen Familie bei den Behördengängen, sodass das mit dem Geld vom Jobcenter in den kommenden Tagen klappen sollte. Die Behrs hatten auch vor dem Auszug Nadias Geld unter Freunden gesammelt, sodass Nadia und Vlad ihre Wohnung ein wenig einrichten konnten: Denn sie hatten ja nichts. Ein Bett haben sie immer noch nicht. Stattdessen schlafen sie auf zwei Matratzen, Akim schläft noch im Reisebett. Ein Kleiderschrank fehlt auch.

Was ihnen hilft, ist die gute Nachbarschaft in dem Neubaugebiet. Viele Familien mit kleinen Kindern wohnen hier, die Nachbarn sind in einer WhatsApp-Gruppe miteinander vernetzt und tauschen sich aus. So haben ihre Nachbarn Nadia und ihrem Mann auch ein Sofa fürs Wohnzimmer geschenkt. „Internet haben wir noch nicht, und mein Smartphone gehört Michael, das können wir uns erst anschaffen, wenn wir Geld bekommen“, so Nadia.

Die kleine Familie meidet die Reeperbahn

Auf St. Pauli fühlen sie sich wohl, die Reeperbahn aber meiden sie. „Das ist viel zu dreckig, und es stinkt.“ Ihre Wohnung ist schön ruhig, dafür sorgen auch gut isolierende Fenster. Nadia bummelt gern mit Akim in der Kinderkarre durchs Viertel. Wenn alles klappt, kommen ihre Mutter und ihr Bruder demnächst für eine oder zwei Wochen zu Besuch. Um die macht sich Nadia natürlich noch Sorgen genau wie um ihre Freunde zu Hause in der Ukraine. Das lässt sie nie ganz los.

Vlad und Nadia möchten nicht von staatlicher Unterstützung abhängig sein, sondern sie wollen wieder arbeiten. Vlad hat bald einen Vollzeitjob als Koch im „eisundsalzig“ in Langenhorn, bekommt dann ein Gehalt. Klar, nerve ihn die lange Fahrerei mit der Bahn von einem Ende der Stadt ins andere, eine Stunde ist er unterwegs. Aber alles besser, als zu Hause zu sitzen und nichts zu tun zu haben.

Geflüchtete in Hamburg: Kita-Platz für Akim gesucht

Nadia sucht dringend einen Kita-Platz für Akim, um einen Deutschkursus besuchen zu können. „Ich möchte dann fünf Tage die Woche Deutsch lernen, das ist mir total wichtig“, sagt sie. Die Sprache sei der Schlüssel zu noch mehr Selbstständigkeit, zu einem selbstbestimmten Leben, in dem sie sich gern mit ihren deutschen Freunden treffen möchte, in dem sie aber nicht ständig auf deren Hilfe angewiesen ist. Unabhängigkeit ist es wohl, was sich Nadia und Vlad am meisten wünschen.