Hamburg. Am Morgen des Angriffs hat sich die 23-Jährige auf den Weg gemacht. Sie bangt um ihren Mann – und bekommt Hilfe von einer Russin.

Alles, was ihr geblieben ist, passt in zwei Koffer. In ihren eigenen und in den kleineren ihres Sohnes Akim. Nadia Ovechkina ist mit ihrem acht Monate alten Sohn aus der Ukraine am Montag in Hamburg angekommen. Sie ist eine von bisher 43 offiziell in Hamburg registrierten Menschen, die vor Putins Krieg geflüchtet sind.

Wie so viele Frauen und Kinder aus der Ukraine ist sie allein unterwegs. Denn ihr Mann Vlad (26) musste zurückbleiben, weil die ukrainisch­e Regierung sich für eine Generalmobilmachung entschieden hat. Das bedeutet: Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht mehr verlassen.

Vor der Zentralen Erstaufnahme (ZEA) am Bargkoppelweg in Rahlstedt steht die 23 Jahre alte Ukrainerin am Dienstagnachmittag, um sich offiziell registrieren zu lassen. Hier werden Flüchtende auch medizinisch untersucht. In der Unterkunft wohnen muss sie nicht. Sie ist zunächst bei der Großmutter ihres Mannes in Steilshoop untergekommen, dort wohnt sie allerdings sehr beengt.

Krieg gegen Ukraine: Nadia ist mit ihrem Sohn nach Hamburg geflohen

Während Nadia vor dem Eingangstor der Erstaufnahme wartet, um den Papierkram zu erledigen, bewegt sie sich schaukelnd hin und her, damit der kleine Akim in ihrem Arm weiterschläft. Einen Kinderwagen konnte sie auf der Flucht nicht mitnehmen, genauso wenig wie Spielzeug oder genug Kleidung. Akim ist dick eingemummelt in seinem gefütterten Anzug und hat die Augen geschlossen. Für den Kleinen ist der Krieg weit weg. Ganz friedlich liegt er im Arm seiner Mutter.

50 Stunden war die junge Köchin mit ihrem Baby von ihrer Heimatstadt Ivano-Frankivsk im Westen des Landes die mehr als 1300 Kilometer unterwegs nach Hamburg. Erst haben Freunde sie mit dem Auto an die polnische Grenze gebracht, dann hat sie sich ein Ticket gekauft, um mit einem Flix-Bus von Polen nach Hamburg zu fahren.

Von ihrem Mann Vlad musste sie sich an der Haustür verabschieden. „Das war hart“, sagt sie. Wie grausam dieser Abschied auf ungewisse Zeit war, kann man sich kaum ausmalen. Und es ist herzzerreißend, sich diese junge Frau, die mit ihrem Teddymantel und den Stiefeln genauso gut in Eimsbüttel oder Ottensen zu Hause sein könnte, in dieser Situation vorzustellen. „Ich weine sehr viel“, sagt Nadia auf Englisch. Während des Gespräches vor der Zentralen Erstaufnahme aber wirkt sie tapfer und abgeklärt. „Ich wollte bleiben, aber mein Mann hat uns beide weggeschickt.“ In der Hoffnung, sich irgendwann unversehrt wiedersehen zu können.

Nadias Mann Vlad durfte die Ukraine nicht verlassen

Sicher, habe sie auch Angst. Aber Nadia gibt sich kämpferisch. Die Leute in ihrer Heimat kämpfen, als sei das das Selbstverständlichste. Egal, ob man eigentlich Koch ist oder Student. „Mein Mann und meine Freunde wollen helfen, sie haben sich freiwillig gemeldet. Es ist unser Land!“, sagt Nadia. „Es ist doch unsere Heimat, unser Zuhause. Alles, was wir wollen, ist Frieden.“

Dieser Frieden hörte frühmorgens auf, als Nadia in ihrer Wohnung im dritten Stock aufwachte. „Als der Krieg anfing, war es 5 Uhr. Ich bin aufgewacht, weil so viele Flugzeuge über unser Wohnhaus flogen und so laut waren.“ Um 6 Uhr ging sie hinaus auf den Balkon, hörte in der Ferne ihrer Heimatstadt, einer 230.000-Einwohner-Studentenstadt, gewaltige Explosionen. „Meine Freunde aus dem siebten Stock konnten am Horizont diese Explosionen sehen“, erzählt sie.

Während Nadia noch einen Corona-Test im kleinen Testzentrum gleich um die Ecke der Zentralen Aufnahmestelle machen lassen muss, klingelt ihr Handy. Es ist Vlad. Als sie auflegt, steckt sie sich erst einmal eine Zigarette an. „Ihm geht es gut“, sagt sie und ist erleichtert. „Wenn es ihm gut geht, bin ich glücklich!“ Das ist das Wichtigste. Vlad ist ebenfalls Koch und hat mit seiner Frau in einem Restaurant gearbeitet. Das ist nun geschlossen. Jetzt hilft er als Freiwilliger. „Im Moment kocht er für die Helfer und für die Armee“, sagt Nadia auf Englisch. Als Soldat muss er als Invalide nicht kämpfen. „Mein Mann ist auf einem Auge blind.“ Ausreisen aber durfte er nicht.

Helferin Elena weint: Sie schämt sich, weil sie Russin ist

Zu Hause kämpfen Russen gegen Ukrainer, hier vor der Zentralen Erstaufnahme sind sich Russen und Ukrainer ganz nah. Elena Beeck aus Bergedorf steht neben Nadia und spricht mit ihr. Die 43-Jährige ist nach Rahlstedt gekommen, um zu helfen. Für Nadia hat sie Kakao in Flaschen und ein paar Packungen Kekse mitgebracht.

Dass sie Russin ist, will sie der Abendblatt-Reporterin zunächst gar nicht sagen und windet sich sehr. Dann fängt sie an zu weinen, weil sie sich so sehr für ihre Nationalität schämt. „Meine Oma hat in der Ukraine gelebt, ich habe jeden Sommer bei ihr verbracht. Wir haben mit den anderen Kindern zusammengespielt. Ich verstehe das alles nicht!“ Wieso soll sie auch etwas verstehen, was außerhalb der Vorstellungskraft liegt? Die 43-Jährige ist verzweifelt.

Sie ist mit ihrem Mann und ihrer Freundin Anna gekommen, um den Flüchtenden aus der Ukraine zu helfen, als Dolmetscherin einzuspringen, bei Behördengängen zu unterstützen oder einfach mit Kakao und Keksen. Für Nadia und ihren Sohn Akim versucht sie nun, einen Kinderwagen zu besorgen. So friedlich der Kleine auf dem Arm seiner Mutter auch gerade schon seit mehr als 40 Minuten schläft, ist es auf Dauer doch mühsam, ihn zu tragen. Heute wollen sich beide wieder treffen, falls Elena Beeck einen Kinderwagen gefunden hat, den sie der jungen Mutter spenden kann. Eine Russin und eine Ukrainerin – gelebte Hilfe in Zeiten des Krieges.