Hamburg. Am Morgen des Angriffs hatte sich die 24-Jährige mit ihrem Baby auf den Weg gemacht. Hilfe bekommt sie von einer Familie aus Harvestehude.
Sie ist angekommen. Zum zweiten Mal. Das erste Mal war vor gut zwei Wochen, als Nadia Ovechkina mit ihrem neun Monate alten Sohn Akim aus der Ukraine in Hamburg eintraf. Zu der Zeit war sie eine von bis dahin 43 offiziell in der Stadt registrierten Menschen, die vor Putins Krieg geflüchtet sind. Jetzt sind es mehr als 13.200. Heute lebt die 24-Jährige mit ihrem Sohn in einer Altbauwohnung in Harvestehude bei einer Familie mit zwei kleinen Kindern. Ihr gehe es besser, aber nicht gut, erzählt Nadia.
Die Müdigkeit ist geblieben, obwohl Nadia jetzt in einem Bett an einem sicheren Ort schläft. Ohne Bombenalarm, ohne Explosionen. Dass sie dennoch müde ist, liegt weniger am Krieg, dem sie entkommen ist, als an ihrem Baby. „Morgens zwischen fünf und sechs ist die Nacht zu Ende, und manchmal muss ich auch in der Nacht mit ihm spielen, wenn er wach ist“, sagt sie auf Englisch. In der Ukraine war sie nie mit Akim allein.
Putins Krieg: Nadia findet Schutz in Harvestehude
„Ich konnte schlafen, weil mein Mann Vlad sich auch um Akim gekümmert hat, oder meine Mutter gekommen ist oder Freunde.“ Wenn er schreit, sei ihr das unangenehm. „Ich möchte niemandem zur Last fallen.“ Weil sie niemanden stören und aufwecken möchte, setzt sie dann alles daran, dass Akim leise ist. Sie ist froh, dass Sophia und Michael Behr ihr spontan nach dem Abendblatt-Artikel über ihre 52-stündige Flucht aus der Ukraine ein Zimmer angeboten haben. Die Behrs haben einjährige Zwillinge, Platz und, was viel wichtiger ist, ein großes Herz. Sie sind unkompliziert und haben nicht lange überlegt, diesen Schritt zu gehen. Darüber reden möchten sie nicht. Es soll nicht um sie, sondern um Nadia gehen.
Und für die könnte es derzeit nichts Besseres geben. „Es ist so cool, weil Sophia und Michael cool sind“, sagt sie und lächelt. Sie freut sich sehr über den Komfort, den sie hier hat, und vor allem darüber, dass hier andere Kinder sind: „Akim spielt so gern mit den Zwillingen.“ Und die Zwillinge mit ihm. Ihren 24. Geburtstag hat sie ohne ihre Familie verbracht, aber mit Sophia und Michael, die ihr eine Kette mit dem Initial ihres Sohnes geschenkt haben. Sophia Behr sagt, dass sie und ihr Mann sich über Nadja sehr freuen. „Sie kann so lange bleiben, wie sie mag.“ Wie in einer WG treffen sie sich abends in der Küche zum Weintrinken.
Nadia: „Ich weine nicht mehr jeden Tag“
Sicher, sie ist mit Akim schon durch Harvestehude gegangen und findet die Gegend sehr schön. Um Hamburg genießen zu können, seien die Sorgen aber zu groß, und am liebsten ist Nadia in der Wohnung und ruht sich aus. „Ich weiß gar nicht, wie ich mich fühle“, sagt sie. „Ich verstehe das alles einfach nicht.“ Täglich telefoniert sie mit ihrem Mann Vlad in der Westukraine, hält Kontakt zu ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in der Zentralukraine, die die Bombennächte im Keller verbringen.
Per Facetime sehen sie sich, wenn die Leitung funktioniert. „Das geht nur alle vier bis fünf Tage.“ Am Anfang musste Nadia viel weinen, aber es wird etwas weniger. „Ich weine nicht mehr jeden Tag.“
Ohne die Hilfe der Behrs wäre die junge Ukrainerin wohl ziemlich aufgeschmissen gewesen im Bürokratiedschungel. Das Ehepaar hat sich nach dem Einzug Nadias um die Erstimpfung gekümmert, den nächsten Termin hat sie im April. Sie haben sie zur Zentralen Erstaufnahme in Rahlstedt gefahren oder haben ihr dafür ein Taxi bezahlt.
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Registrierung: Stundenlanges Anstehen
Das ist der stressige Teil in ihrem neuen und ungewohnten Leben als Flüchtling in Hamburg: Wo muss man sich anmelden und registrieren lassen? Wo bekommt sie Krankenversicherung, wie Sozialhilfe? Wo und wann eine Arbeitserlaubnis? Seit Dienstag hat die gelernte Köchin eine Arbeitserlaubnis, und am Mittwoch war sie erneut in Rahlstedt, um Sozialhilfe und eine Krankenversicherung zu erhalten. Sie ist dann aber wieder gefahren, da sie erst an 145. Stelle dran ist, und musste es am nächsten Tag erneut probieren.
Überall muss sie lange anstehen, auf der Straße. Sicher verschwinden in solchen Momenten ihre Sorgen um ihren Mann Vlad, um ihre Eltern und ihren zwölfjährigen Bruder zu Hause in der Ukraine für einen Moment, weil sie abgelenkt ist, aber für eine junge Mutter mit einem Baby ist es Stress pur, stundenlang in der Kälte zu stehen. „Ich muss Akim immer mitnehmen, konnte nirgends seine Milch aufwärmen, ihn nicht wickeln, und es war sehr kalt.“ Akim wurde krank. „Als wir zu Hause waren, schrie er eine halbe Stunde lang und war kaum zu beruhigen.“ Beim Arzt war sie nicht mit dem Kleinen, da sie keine Krankenversicherung hat.
„Wenn der Krieg vorbei ist, wird alles zerstört sein“
„Ich versuche, ruhig zu bleiben, aber die Registrierung ist sehr schlimm und anstrengend“, sagt sie, die keine ist, die gern jammert. Im Gegenteil hat Nadia trotz ihrer Sorgen um ihre Heimat und um ihre Familie etwas Strahlendes an sich. Und das, obwohl sie unter ihrem neuen Status leidet: Das Leben als Flüchtling bedeutet Kontrollverlust, das Einbüßen von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Wenn Sozialhilfe und die Krankenversicherung beantragt sind, kann sie sich ein wenig entspannen, sagt Nadia. Trotz der Gastfreundschaft möchte sie ihre Freiheiten zurück – mit eigenem Geld, mit einem Job und mit einer eigenen Wohnung. So wohl sie sich bei den Behrs fühlt, so sehr möchte sie auch wieder selbstbestimmt leben. Ihre Pläne? „Ich möchte arbeiten.“ Als Köchin sollte das kein Problem sein, und tatsächlich hat Nadia bereits ein Jobangebot – im eisundsalzig, dem Bistro ihrer Gastgeberin. Fehlt noch ein Krippenplatz für Akim. „Darum kümmern wir uns schon“, sagt Sophia Behr.
Dass sie schon bald nach Hause zu ihrem Mann kann, hofft Nadia, glaubt aber nicht daran. „Wenn der Krieg vorbei ist, wird alles zerstört sein. Auch nach Kriegsende werde ich warten müssen.“ Irgendwann wollen die Behrs sie und ihre Familie dann in der Ukraine besuchen. Pläneschmieden gegen die Hoffnungslosigkeit.