Hamburg. Start-up hat Plattform für Livestream entwickelt, über die Kriegsverletzte behandelt werden. Eine Technik für den Ärzte-Alltag.
Der Granatsplitter steckte im Kopf des Soldaten. Der junge Mann war erst 22, er verteidigte seine Heimat gegen die Truppen von Russlands Präsident Wladimir Putin. In seinem Hirn konnten die Ärzte des Krankenhauses in Kiew eine Blutungshöhle ausmachen. Es zeigte sich bereits ein traumatisches Gehirnaneurysma. Damit hatten die Mediziner keine Erfahrung.
Was sie hatten: Kontakt zu Ärzten, die auf die Behandlung von Schlaganfällen spezialisiert waren, und zu Neurochirurgen der ESMINT. Das ist die European Society of Minimally Invasive Neurological Therapy. Zu hochauflösenden Livebildern aus dem OP-Saal in Kiew mittels einer Streaming-Plattform holten die Operateure Meinungen und Empfehlungen von Kollegen aus den USA, Deutschland und Kroatien ein, wie sie weiter minimalinvasiv vorgehen sollten, um den jungen Soldaten zu retten. Der Eingriff glückte.
Ärzte im Krieg: Hilfe per Livestream von Hamburger Start-up
Was seit einigen Jahren bereits Standard in der Ärzteausbildung ist und auf Kongressen von Fachgesellschaften „live“ praktiziert wird, ist zu einem Segen geworden für Mediziner im Krieg, die mit unvorstellbaren Verletzungen konfrontiert werden. Einer der Anbieter im Markt für die Streaming-Technologie ist ein Hamburger Start-up namens Tegus Medical. Dessen Chef Martin Erler (41) kündigte an, weitere Operationen in Kiew und Dnipro unterstützen zu wollen.
Ihm ist es nach eigenen Worten gleich, ob es vom Krieg betroffene Ukrainer oder Russen sind, die fachgerecht behandelt werden. Hauptsache, die Menschen werden gut medizinisch versorgt. Natürlich hofft er, dass die Krankenhäuser nach dem anhaltenden Beschuss durch die russischen Truppen überhaupt noch stehen. Sein Gedanke ist, dass Hilfe aus der Ferne in dem OP-Saal ankommt, wo sie gebraucht wird.
Operation per Livestream überwachen – und eingreifen
Erlers Firma stellt die Hardware zur Verfügung, Kameras, Übertragungsgeräte. Erstaunlicherweise machen Internet- und Mobilfunkverbindungen in die Ukraine diese Art der virtuellen Hilfe zum Teil noch immer möglich. Erler sagt, seine Technik werde in 70 Krankenhäusern in 18 Ländern genutzt. Medizingerätehersteller seien inzwischen Kunden von Tegus Medical. Die Idee hatte er, weil er früher im Streaming von Musik arbeitete und auch einen Master in „Global Entertainment and Music Business“ am Berklee College in den USA erwarb. „Stellt euch eine Welt vor“, heißt es auf seinem Linkedin-Profil, „in der Patientensicherheit nicht mehr auf einen Ort begrenzt ist.“ Klingt wie John Lennons „Imagine“.
Am UKE fand Erler Ärzte, mit denen er die Plattform entwickelte. Für die Eppendorfer Uniklinik war wichtig, dass man eine Streaming-Oberfläche hat, die vor allem in der Fernausbildung von Ärzten genutzt werden kann sowie für die Überwachung (Monitoring) von Operationen, ohne dass der Experte im selben OP-Raum stehen muss wie der skalpellführende Mediziner. Über die Plattform kann man sich via Internet vom Computer, Tablet oder sogar vom Handy aus zuschalten.
UKE-Studie zeigt, wie Livestreaming auch im Alltag hilft
Weltweit vernetzen sich Ärzte in humanitärer Mission, um Kriegsopfern zu helfen. In erster Linie ist es die bereits mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die akut und langfristig hilft. Andere Nicht-Regierungsorganisationen wie die Union of Medical Care and Relief Organizations (UOSSM) schickte Ärztinnen und Ärzte jetzt auch nach Dnipro und Charkiw. So bitter es klingt: Sie konnten ihre jahrelange Erfahrung aus dem Krieg in Syrien nutzen, um Dutzende ukrainische Mediziner zu trainieren.
In einer Studie des UKE („Training and Supervision of Thrombectomy by Remote Live Streaming Support/RESS“), die in der Zeitschrift „Clinical Neuroradiology“ erschien, konnte mit mehreren simulierten Operationen von Blutgerinnseln aus Blutgefäßen nachgewiesen werden: Bei Ärzten, die nicht auf bestimmte neurochirurgische Eingriffe spezialisiert waren, macht es keinen Unterschied, ob der Spezialist, der ihnen „die Hand führt“, im selben Raum sitzt oder zugeschaltet ist.
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„Manchmal weiß man auch im Operationssaal einfach nicht weiter“
Die Probanden mussten sechs verschiedene Szenarien „durchoperieren“. Der Spezialist hatte dabei immer den Operateur im Blick, den Patienten und die aktuelle Angiografie, also die Darstellung der Blutgefäße. All das klingt nach großer Spezialisierung und Ausnahmesituation. Doch Hamburgs Ärztekammerpräsident Pedram Emami, selbst Neurochirurg am UKE, macht auf den großen Nutzen dieser Technik aufmerksam, die von verschiedenen Anbietern weiterentwickelt wird. Heute sei es zum Teil noch so, dass die Spezialisten bei Komplikationen von zu Hause in die Klinik eilen, um ihre Expertise bei einzelnen Patienten oder Operationen einzubringen. „Manchmal weiß man auch im Operationssaal einfach nicht weiter“, sagt Emami.
Professionell sein, heißt: sich Hilfe holen. Das geschieht vorzugsweise zu arbeitnehmerunfreundlichen Zeiten. Bei der Anfahrt zum Krankenhaus geht zusätzlich zum Stress für alle Beteiligten auch wertvolle Zeit verloren. Mit dem Fortschreiten der Technik kann sich der Chefarzt bei Bedarf sogar in der Konzertpause in den OP-Saal einwählen und nach Ansicht der Livebilder lebenserhaltende Tipps geben. Das Zeitalter der Telemedizin hat erst begonnen.