Hamburg. Wo steht die aktuelle Landesverfassung und was können junge Hamburger von ihr lernen? Darum ging es beim Senatsempfang am Freitag.
Dass sie im Alltag kaum wahrgenommen wird, dass sie eher geräuschlos arbeitet und im Hintergrund einfach ihren Job macht, ist wohl auch ein Gütesiegel. Seit 70 Jahren funktioniert die „Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg“ als rechtliches Fundament der Staatsgewalt wie ein extrem gut gewarteter, unkaputtbarer, hocheffizienter Motor der Demokratie. So einer braucht doch keine Anerkennung, keine Ehrung – der läuft und läuft und läuft. Oder?
Nun ist die Verfassung natürlich kein Motor, sondern das Herzstück der Staatsorganisation auf Landesebene, „hanseatisch knapp, aber mit klarer Haltung“, wie es Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) formuliert. Kommunales Wahlrecht ab 16, Hamburg als Einheitsgemeinde, die Bürgerschaft als Teilzeit-Parlament – steht alles in dem 77 Artikel starken Verfassungs-Opus, das maßgeblich auf zwei Nicht-Juristen zurückgeht: den ersten frei gewählten Hamburger Bürgermeister Max Brauer, gelernter Glasbläser, und den damaligen Bürgerschaftspräsidenten Adolph Schönfelder, gelernter Zimmermann.
Brauer befand damals, dass die Verfassung sich zurücknehmen soll. Sie dürfe nur die wesentliche „Verteilung der politischen Gewichte regeln (….), aber im Übrigen muss sie den Weg freilassen, ja frei machen für alle neuen Gedanken und Kräfte“. Immerhin stand sie jetzt einmal im Mittelpunkt: Am Freitag lud der Senat zum Empfang in den Großen Festsaal des Rathauses, um vor geladenen Gästen das 70-jährige Bestehen der Verfassung zu feiern. Sie trat am 1. Juli 1952 in Kraft.
Wie steht es um die Hamburger Verfassung?
Ins Rampenlicht verholfen hat ihr auch der Hamburger Journalist Oliver Wurm, der bereits 2018 das deutsche Grundgesetz Satz für Satz als optisch ansehnliches Magazin nachgedruckt, dafür das Bundesverdienstkreuz erhalten und jetzt eben die Landesverfassung als eigenständige Zeitschrift herausgegeben hat. Auf die Titelseite seines neuesten Print-Produkts hat Wurm – sehr zur Freude von Birgit Voßkühler, Präsidentin des Hamburgischen Verfassungsgerichts – den auf das bürgerliche Engagement und das Gemeinwohl zielenden Kernsatz aus der Präambel gestellt, die den Gesetzesteil einleitet: „Jedermann hat die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken“.
Überhaupt, sagte Wurm am Freitag, sollte die Präambel, wo immer es geht, in Hamburg aufgehängt werden, sollte sie sichtbar sein. Weil so viel Wahres, so viel kluge Maxime drinstecke – gerade mit Blick auf der Hamburg darin zugewiesenen Rolle als „Friedensstifterin“ und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Einst habe er Probleme mit dem Begriff „Patriot“ gehabt, heute würde er sich als „Verfassungspatriot“ bezeichnen, so Wurm. Einige Male brandete Applaus im Festsaal auf.
Verfassung um Klimaschutz ergänzt
Und sie entwickelt sich weiter, die Verfassung. Mehrmals wurde sie geändert – und wird es noch öfter. Demokratie sei nie Stillstand, sondern unterliege den gesellschaftlichen Entwicklungen, sagte Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) in ihrer Rede. Die Verfassung werde „in einer Demokratie nicht ,gegeben‘ wie die Zehn Gebote oder ein kaiserlicher Erlass, sondern sie wird in langwierigen Diskussionen und Verhandlungen errungen“, so Veit. „Nur dann ist sie Spiegel der Gesellschaft und der jeweiligen Geschichte und öffnet Perspektiven für die Zukunft.“
So sei erst 2020 die Verfassung um die Verpflichtung zum Klimaschutz als Staatsziel ergänzt worden. Aktuell wird diskutiert, ob auch ein Bekenntnis zur Bekämpfung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Extremismus als Staatsziel in die Präambel aufgenommen werden soll.
Garant für Konstanz
In Stein gemeißelt ist die Landesverfassung zwar nicht, doch sie gilt auch als Garant für Konstanz. „Unsere Verfassung hat maßgeblich zur positiven Entwicklung Hamburgs nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen“, sagte Bürgermeister Tschentscher. „Die Hamburger Verfassung gibt uns Orientierung und demokratische Stabilität. Sie mahnt und verpflichtet uns auf grundlegende Werte und Ziele zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.“
Ganz praktische Bedeutung hat sie für Birgit Voßkühler und das Landesverfassungsgericht. Gibt es Streit, wie die Artikel anzuwenden und auszulegen sind, hat es das letzte Wort. „Mit jedem Fall, den wir entscheiden, ist ein kleines – manchmal sogar ein größeres – Stück Weiterentwicklung verbunden“, sagte die Gerichtspräsidentin. Die Richter eine „der große Respekt vor dem Text, der uns anvertraut ist“.
- So wollen Großhansdorfs Kommunalpolitiker Nachwuchs gewinnen
- Als Hamburg eine eigene Landesverfassung bekam
- Vom Landtag eingerichteter Notausschuss ist verfassungsgemäß
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion mit Abendblatt-Redakteurin Vanessa Seifert als Moderatorin ging es vor allem darum, was jüngere Hamburger aus der Verfassung lernen können. Dafür saßen – neben Oliver Wurm, Birgit Voßkühler und Christian Lenz-Egbering von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung – mit den Gymnasiasten Hami Gordon und Louisa Arendt zwei besonders junge Vertreter ihrer Generation auf der Bühne. Für die Zukunft wünscht sich Hami (14) die Verankerung der Kinder- und Jugendrechte im Gesetzestext.
Louisa (16) findet, dass die Möglichkeit zu noch mehr demokratischer Teilhabe in der Verfassung ihren Niederschlag finden sollte – gerade wenn es darum gehe, dem fortschreitenden Klimawandel Einhalt zu gebieten. Als sie erwähnte, dass die meisten Politiker ja eher „alt“ seien und die schlimmsten Folgen der Klimakrise wohl gar nicht mehr erleben würden, hörte man leise Gelächter im Saal – der mit Politikern gut gefüllt war.
Hami ergänzte dann noch, dass er viele Mitschüler auf die Hamburgische Landesverfassung angesprochen und dabei auf gähnendes Unwissen gestoßen sei. Zuvor habe auch er nicht all zu viel darüber gewusst. Diesem Mangel könne man durch „besseren Unterricht“ und „mehr Projekte“ entgegenwirken, meinte Hami.
Musikalischer Ausklang
Zum Ausklang spielte das fantastische Kammerorchester Young ClassX den humanistischen Gänsehaut-Klassiker „Imagine“ von John Lennon, der noch nachhallte, als die AfD Minuten nach Ende des offiziellen Teils in einer Mitteilung ihre ganz eigene (und exklusive) Sicht auf den Empfang preisgab – darin von „undemokratischen Frechheiten“ und einer „unwürdigen Veranstaltung“ sprach, die „unsere Gesellschaft weiter spaltet“.
Das Magazin zur Hamburger Verfassung ist für 12 Euro in der Abendblatt-Geschäftsstelle und auf www.abendblatt.de/shop erhältlich.