Hamburg. Bürgerinitiative „Prellbock Altona“, die sich für den Erhalt des alten Bahnhofs einsetzt, nennt das Projekt „ein zweites Stuttgart 21“.
Es ist ein gigantisches Verkehrs- und Stadtentwicklungsprojekt: Die Verlagerung des Fernbahnhofs Altona nach Norden an die Station Diebsteich soll der Bahn Beine machen und gleichzeitig Platz für 1900 Wohnungen im zweiten Bauabschnitt der Mitte Altona schaffen. Doch die Bürgerinitiative Prellbock Altona, die für den Verbleib des Fernbahnhofs am jetzigen Ort kämpft, hat am Montag erneut massive Zweifel angemeldet, dass der neue Bahnhof den Anforderungen gerecht wird und dies mit eigenen Berechnungen untermauert.
Die Initiative fürchtet in vielerlei Hinsicht eine deutliche Verschlechterung der Verkehrssituation und fasst das ganze Problem auf einer Luftaufnahme zusammen: Zu sehen ist darauf der jetzige Fernbahnhof Altona, auf dem gerade neun Züge gleichzeitig abgefertigt werden (davon zwei an einem Bahnsteig), während sich im Hintergrund noch zusätzlich zwei Regionalzüge von und nach Kiel begegnen. Das ist der Status quo: Ein Bahnhof mit acht Gleisen, einem zweigleisigen Bypass („Verbindungsbahn“) sowie einem unterirdischen S-Bahnhof mit vier Gleisen.
Deutsche Bahn: Initiative hält neuen Bahnhof Diebsteich für viel zu klein
Wenn der Fernbahnhof bis 2028 nach Diebsteich verlagert ist, wird es nur noch sechs Gleise für Fern- und Regionalverkehr geben, plus zwei für die S-Bahn. Gleichzeitig soll aber die Passagierzahl im Fernverkehr bis 2030 verdoppelt werden. Nach Ansicht von Prellbock kann das nicht funktionieren: „Diebsteich soll mit 60 Prozent der Gleiskapazitäten 50 Prozent mehr Verkehr abwickeln – das geht vielleicht am Computer, aber nicht in der Bahn-Realität“, sagte Prellbock-Sprecher Michael Jung am Montag.
Um diese Einschätzung zu untermauern, hat die Initiative den Fahrplan für das Jahr 2030 auf Basis der offiziellen DB-Angaben durchgerechnet und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Selbst unter günstigsten Annahmen würden mehrfach pro Stunde mehr Züge gleichzeitig den neuen Bahnhof anfahren als es dort Gleise gibt. „Diebsteich ist unfähig, das zu bewältigen“, sagte Ernst-Günter Lichte, der die Berechnungen durchgeführt hat. Unter „realistischen“ Annahmen werde es noch viel mehr Engpässe geben, so Lichte.
Bahnhof Diebsteich: „Bahnverkehr ist eine Aneinanderreihung von Störfällen“
Dem günstigen Szenario liege etwa zugrunde, dass alle Züge pünktlich und innerhalb von fünf bis sieben Minuten abgefertigt sind und nach einer weiteren Minute den Bahnhof verlassen haben. Das sei jedoch in der Realität völlig anders: „Bahnverkehr ist eine Aneinanderreihung von Störfällen – und nicht das, was der Computer hergibt“, sagte Jung. Dauere die Ausfahrt des Zuges nur eine Minute länger, nehme der Engpass schon massiv zu. Kämen dann auch noch Züge unpünktlich oder dauere die Abfertigung länger, was eher Standard als Ausnahme sei, breche die ganze schöne Planung in sich zusammen.
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Dabei hat Lichte Güterzüge, Privat-Bahnen sowie Nacht- und Autozüge in seiner Berechnung bereits außer Acht gelassen – obwohl allein die geplante Northvolt-Batteriefabrik in Heide mehr Güterzüge nach sich ziehen werde, die – mangels Bypass – den neuen Bahnhof durchfahren und in der Zeit ein Gleis blockieren werden.
Bürgerinitiative warnt: Bahnhof Diebsteich wird zum "zweiten Stuttgart 21"
Nach Prellbock-Ansicht könnte erst durch den Bau des „Verbindungsbahnentlastungstunnels“ die Funktionstüchtigkeit von Diebsteich einigermaßen hergestellt werden. Doch ob dieser Tunnel, der südlich des Hauptbahnhofs ansetzen, unter der jetzigen Verbindungsbahn bis hinter Diebsteich verlaufen und den gesamten S-Bahn-Verkehr auf der Strecke aufnehmen soll – wodurch im neuen Bahnhof zwei Gleise mehr für den Fern- und Regionalverkehr frei wären –, überhaupt gebaut wird, steht noch in den Sternen.
Ende 2019 hatte der damalige Bundes-Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann (CDU) das Projekt angeregt, die Prüfung der Realisierbarkeit beginnt gerade. Nach Prellbock-Schätzungen wird der Tunnel aber extrem teuer und nicht vor 2040 fertig: „Ein fehlgeplanter Bahnhof Diebsteich mit wahrscheinlich mehr als einer Milliarde Baukosten müsste durch den Tunnel für bestimmt neun Milliarden Euro ertüchtigt werden, damit er funktioniert“, fasst die Initiative zusammen. Diebsteich werde damit nicht nur für mehr als ein Jahrzehnt zum Bahn-Nadelöhr, sondern zu einem „Desaster“, ein „zweites Stuttgart 21“, warnt Prellbock.
Deutsche Bahn hält an Plänen für Bahnhof Diebsteich fest: "Schlüsselprojekt"
Der aktuelle Fernbahnhof Altona müsse zwar auch teilweise saniert werden, habe aber sogar noch Kapazitäten. Außerdem gebe es dort bereits zwei „kreuzungsfreie Ausziehgleise zu den Bahnbetriebswerken“, an vier Gleisen sei Autoverladung möglich, und im direkten Umfeld würden 70.000 Menschen leben – am Diebsteich dagegen nur 15.000. Die Initiative habe noch „einen Funken Hoffnung“, dass Bahn und Stadt ihre Pläne doch noch einmal überdenken oder zumindest überarbeiten. „Noch ist es nicht zu spät“, sagte Michael Jung. Die Arbeiten am Diebsteich hätten schließlich gerade erst begonnen.
Die Deutsche Bahn hält ungeachtet der Kritik an ihren Plänen fest: „Der neue Bahnhof Diebsteich ist ein Schlüsselprojekt für den Deutschlandtakt und trägt maßgeblich dazu bei, mehr Verkehr auf die klimafreundliche Schiene zu verlagern“, sagte eine Bahn-Sprecherin auf Abendblatt-Anfrage. „Durch zusätzliche Weichen und Signale können am neuen Bahnhof noch mehr Züge fahren. Das macht den Knoten Hamburg fit für den Deutschlandtakt.“ Für den Tunnel unter der Verbindungsbahn laufe der derzeit eine Machbarkeitsstudie, Ergebnisse würde Ende des Jahres erwartet.
Im übrigen habe „ein unabhängiger Gutachter die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs testiert“, so die Bahn-Sprecherin. Das war Im Rahmen der Gespräche zwischen der Stadt, Bahn und dem Verkehrsclub Deutschland – der VCD Nord hatte 2018 gegen die Diebsteich-Pläne geklagt und einen Baustopp erwirkt. Daraufhin wurde ein Kompromiss ausgehandelt, der unter anderem eine Steigerung der Passagierkapazitäten vorsah.