Hamburg. Mit 9-Euro-Ticket und Tankrabatt raus ans Meer, Corona und den Krieg vergessen. Doch ab September könnte es ungemütlich werden.

Es wird ein Sommer des Wohlbehagens und der Weltflucht. Der Krieg in Europa, die Inflation, die große Unsicherheit bei der Energieversorgung, die Klimaerwärmung sind nicht vergessen, aber werden doch mehr und mehr verdrängt. Die Sonne scheint, der Urlaub naht – und die Bundesregierung hat den Deutschen ein Wohlfühlprogramm in diesen schweren Zeiten spendiert.

Der Tankrabatt sollte den Liter Treibstoff wieder an oder unter die Zwei-Euro-Grenze drücken, das Neun-Euro-Ticket Fahrten zum Schnäppchenpreis in der gesamten Republik ermöglichen, HVV inklusive. Diese politische Stimmungsaufhellung ist der Regierung Scholz mehrere Milliarden wert – rund 3,15 Milliarden dürfte der Tankrabatt kosten, das Supersondersparticket rund 2,5 Milliarden. Was tut man nicht alles, um das Volk bei Laune zu halten?

Sorgen werden im Herbst zurückkehren

Wir sollten diesen Sommer genießen. Bis Ende August werden die Preissteigerungen und manche Sorgen vergessen sein. Dumm nur, dass sie am 1. September mit Wucht zurückkehren – und nach dem Sommer des Wohlbehagens einen heißen Herbst und einen düsteren Winter einläuten könnten. Wenn die Tage kürzer werden, werden die Gesichter länger: Etwa wenn plötzlich der Liter Benzin dann wieder 30 Cent mehr kostet und die Fahrt nach Bahrenfeld im Bus wieder 3,50 Euro. Dann könnte die künstlich aufgehellte Stimmung schnell ins Düstere abkippen. Der Weltlage und den Wirtschaftstrends kann man weder mit billigem Benzin noch im Nahverkehrszug entfliehen.

Buchstäblich steht das Land vor einem kalten Winter. Noch ist unklar, ob Deutschland schnell genug aus russischem Öl, russischer Kohle und vor allem russischem Gas aussteigen kann. Wie ein Damoklesschwert hängt die Drohung im Raum, dass die Russen ihrerseits uns den Gashahn ganz zudrehen. Derzeit sind die Gasspeicher zwar wieder zu 55,6 Prozent gefüllt – damit käme Deutschland mehrere Wochen weit, aber kaum über den Winter.

Deutschland stärker auf Stromimporte angewiesen

Die Abhängigkeit vom Gas als Vorprodukt und zur Energiegewinnung ist hierzulande nicht nur besonders hoch, sie ist durch die deutsche Politik geradezu provoziert worden. Zunächst sind wir aus der Atomkraft ausgestiegen – auch in dieser Krise hält die Bundesregierung mit Ausnahme von Christian Lindner (FDP) unverdrossen daran fest, zum 31. Dezember die letzten drei Atomkraftwerke herunterzufahren. Zugleich beabsichtigt die Bundesrepublik, bis 2038 die Kohleverstromung zu beenden. Damit entstehen neue Abhängigkeiten: Trotz des nun wieder forcierten Ausbaus von Wind- und Fotovoltaikanlagen wird das Land in den kommenden Jahren stärker auf Stromimporte angewiesen sein.

Wind weht nicht immer, und die Sonne liefert gerade in der dunklen Jahreszeit zu wenig Energie. Das Schreckensszenario der Versorger lautet Dunkelflaute. Im Ex­tremfall kann auch die Stromerzeugung aus Wind auf unter zwei Prozent der in­stallierten Leistung absinken. Trifft eine solche Schwachwindphase im Winter auf einen erhöhten Energiebedarf, wird es bestenfalls eng, vielleicht aber auch dunkel in Deutschland.

Stromimporte aus Frankreich bald unsicher

Mehrfach traten in den vergangenen Jahren „kalte Dunkelflauten“ auf, zwischen 2015 und 2020 währten sie dreimal länger als acht Tage. Damals sprangen konventionelle Kraftwerke ein. Nun fehlen die Kernkraftwerke – und vielleicht auch das Gas. Und das ist nicht das einzige Problem: Stromimporte aus Frankreich sind in den kommenden Monaten unsicher – gut die Hälfte der 56 Atomkraftwerke jenseits des Rheins steht wegen Wartungsarbeiten und Korrosionsproblemen still. Experten erwarten nicht, dass alle Reaktoren rechtzeitig wieder angefahren werden können. Dummerweise ist Frankreich Deutschlands größter Stromlieferant.

Erst vor wenigen Tagen hat die Schweizer Stromaufsicht Elcom vor Versorgungsengpässen bei Strom und Gas gewarnt. Wie die Bundesrepublik auch sind die Eidgenossen im Winter auf Stromimporte angewiesen. Es besteht die Gefahr, dass es zu Bewirtschaftungsmaßnahmen kommen werde, warnte der Elcom-Präsident. Im Klartext: Strom könnte rationiert werden: Fruchten die Sparappelle nicht, werden beim Nachbarn große Energieverbrauchern wie Saunas, Schwimmbäder oder Rolltreppen stillgelegt.

Kosten für Energie stiegen um 38,3 Prozent

In Deutschland wird derlei seltsamerweise kaum laut diskutiert. Deshalb fordert der Hamburger CDU-Wirtschafts­experte Götz Wiese einen Notfallplan für die Wirtschaft: „Die Leistungsfähigkeit zentraler Bereiche in Industrie und Gewerbe muss gerade bei Schwierigkeiten der Energieversorgung aufrechterhalten werden. Sonst kann es zu schweren Einbrüchen der Wirtschaft, Arbeitsplatzverlusten und Versorgungsengpässen mit lebenswichtigen Gütern kommen.“ Ein Blackout in der Wirtschaft müsse vermieden werden. „Dafür braucht es eine sorgfältige Planung, die im Spätsommer, das heißt vor Beginn der kalten Jahreszeit, abgeschlossen sein muss.“ Ein großes Echo löste seine Forderung nicht aus.

Selbst wenn sich die Stromlücke schließen lässt, sind wir damit nicht aller Sorgen ledig. Denn Knappheit hat ihren Preis, die Aufschläge bei der Energie treiben die Inflation. Zuletzt lag sie hierzulande bei 7,9 Prozent – der höchste Stand seit dem Winter in der Ölkrise. Die Kosten für Energie stiegen im Mai im Vergleich zum Vorjahr um 38,3 Prozent, bei Lebensmitteln lag das Plus bei 11,1 Prozent. Insgesamt muss jeder Deutsche im Jahr 2022 mit Mehrkosten von 250 Euro pro Person rechnen, ergab eine Studie von Allianz Trade. Und diese Sorgen dürften eher noch zunehmen. Das schmerzt an der Elbchaussee nur marginal, am Osdorfer Born schreddert die Inflation alle Haushaltspläne.

„Wir stehen vor einer Versorgungskrise"

Gerade erst haben Baugenossenschaften und kommunale Vermieter angesichts explodierender Heiz- und Energiekosten die Politik aufgefordert, bei Atomenergie und Kohle „installierte gesicherte Kraftwerksleistung übergangsweise weiter zu nutzen“. Ziel müsse sein, „Energie- und Versorgungssicherheit zu gewährleisten“ und „für bezahlbare Kilowattstundenpreise zu sorgen“, so der Beschluss des Verbandsausschusses des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW). Die Stimme vereint immerhin 389 Genossenschaften mit 1,5 Millionen Wohnungen. „Wir stehen vor einer Preiserhöhungswelle, deren Ausmaß den allermeisten Menschen noch nicht bewusst ist. Nun gilt es, die Lage durch selbst auferlegte Verbote zum Fracking, zur Atomkraft und zur Kohle nicht noch künstlich zu verschlechtern“, sagt VNW-Direktor An­dreas Breitner.

Der frühere SPD-Innenminister in Schleswig-Holstein fordert, das Ende 2021 vom Netz genommene Atomkraftwerk Brokdorf wieder anzufahren und das Kohlekraftwerk in Moorburg nicht zurückzubauen. „Es ist erst 2015 als Europas modernstes Kohlekraftwerk ans Netz gegangen, um es 2021 wieder abzuschalten. Aus heutiger Sicht ein Riesenfehler, für dessen Korrektur es nicht zu spät ist.“ Breitner weiter: „Wir stehen vor einer Versorgungskrise unbekannten Ausmaßes und müssen in der Zeitenwende auch Denkverbote aufheben. Moorburg temporär nicht zu nutzen erfüllt für all diejenigen, die im nächsten Jahr ihre Betriebskostenrechnung nicht mehr bezahlen können, den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung.“

In Deutschland driften die Sorgen auseinander

Damit spricht Breitner die sozialen Verwerfungen an, die durch die Inflation drohen. In Deutschland tun sich inzwischen Gräben auf, die manche noch nicht einmal bemerken. Nicht nur Vermögen, Möglichkeiten und Lebensstile fallen immer weiter auseinander, auch die Sorgen differieren. Eine aktuelle Studie der Sinus Markt- und Sozialforschung zeigt, wie sehr das persönliche Sorgen-Ranking von der Grundorientierung der Menschen und ihrer sozialen Position abhängt. Demnach sind die sozial besser gestellten Befragten entspannt, während gesellschaftlich benachteiligte Milieus am pessimistischsten sind.

Während manche Klimaveränderungen im Jahr 2050 ängstigen, haben andere die Sorge, wie sie in der nächsten Woche ihr Essen und ihre Energie bezahlen sollen. In postmaterialistischen Milieus fürchtet man den Krieg in der Ukraine, Klimawandel und Rechtsradikalismus. In prekären Milieus sind das Randaspekte – hier treiben die persönliche finanzielle Lage, bezahlbares Wohnen und die Versorgungssicherheit bei Strom und Gas den Menschen die Sorgenfalten auf die Stirn.

Deutsche ängstigen sich vor gestiegenen Preisen

„Die Schere zwischen oben und unten spiegelt sich auch im Zukunftsoptimismus“, heißt es bei Sinus. „Durch die aktuelle Krisensituation driften die Gesellschaftsschichten verstärkt auseinander.“ Gehobene Milieus wie leistungsorientierte Performer oder Kosmopoliten machen sich kaum Sorgen. „Mit dieser optimistischen Haltung geht in diesen Milieus auch ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen in Medien und Berichterstattung einher“, sagt Manfred Tautscher, Geschäftsführer des Sinus-Instituts. Große existenzielle Sorgen machen sich hingegen arme Menschen. Die größten Ängste haben die Deutschen vor den gestiegenen Energiepreisen (87 Prozent) und steigenden Lebensmittelkosten (85 Prozent).

Wie berechtigt die Sorgen sind, beweisen allmonatlich die Inflationsraten. Die rasant steigenden Preise mindern die Kaufkraft der Deutschen. Auch wenn die Löhne im ersten Quartal um vier Prozent stiegen, bleibt bei einer Inflation von 5,8 Prozent im selben Zeitraum ein Minus der Reallöhne von 1,8 Prozentpunkten. Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) erwartet Reallohnverluste mindestens bis zum Jahresende. Mit dem Tankrabatt und dem Neun-Euro-Ticket hat die Regierung die Preissteigerung im Sommer gedämpft, um sie dann aber auf Monatsbasis ab September umso heftiger ansteigen zu lassen.

Auch Corona ist noch eine Bedrohung

Wenn die Löhne in den anstehenden Tarifverhandlungen kräftig klettern, könnte dies eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen. Die Inflation nährt die Inflation, sie wird zum Dauergast in Europa: Schon jetzt bremst sie das Konsumverhalten der Bürger aus. Laut Konsummonitor des Handelsverbandes Deutschland HDE achten Kunden verstärkt auf Sonderangebote und beginnen zu verzichten. Diese Konsumunlust könnte die Konjunkturerholung weiter ausbremsen – und die Stimmung belasten.

Für die Deutschen wirkt die Gegenwart wie die Vertreibung aus dem Paradies – mehr als ein Jahrzehnt bis zur Pandemie ging es wirtschaftlich nur aufwärts, jetzt ziehen aus allen Himmelsrichtungen dunkle Wolken auf. Und noch etwas macht den Herbst zu einer Jahreszeit mit vielen Unbekannten: Unklar bleibt, was aus der Pandemie wird. In den vergangenen beiden Jahren wurde die Republik gleich zweimal im Herbst kalt erwischt, weil sich eine neue Corona-Welle aufbaute.

Pandemie: In Israel baut sich eine neue Welle auf

Sollte es nicht zu einer gefährlichen Mutation kommen, scheint 2022 ein leichter Optimismus gerechtfertigt: Die derzeitige „Pandemie“ verläuft so harmlos, dass sie ohne die bittere Vorgeschichte von Corona vermutlich kaum noch wahrgenommen würde. Andererseits baut sich in Israel, oft ein Vorreiter der Pandemie, gerade eine neue Welle auf. Auch hierzulande steigen die Inzidenzen.

Viele Unsicherheiten und Unwägbarkeiten warten auf dem Weg durch den Jahreskreis. Wir sollten den Sommer genießen; wer weiß, was danach kommt.