Hamburg. Theatermann und Lichtkünstler Michael Batz erzählt das Leben von rund 50 Bewohnern eines Wohnhauses. Viele waren Juden.
Das Haus an der Rothenbaumchaussee 26 kann faszinieren – nicht nur durch das Portal mit dem holzgeschnitzten Löwen, einem jüdischen Symbol. Der Rotklinkerbau gehört zu den sozialgeschichtlich am besten erforschten Wohngebäuden in Hamburg. Der Hamburger Theatermann und Lichtkünstler Michael Batz hat sechs Jahre lang akribisch die Lebensläufe und Schicksale der rund 50 Bewohnerinnen und Bewohner in der Zeit von 1926 bis 1948 erforscht – viele davon waren Juden.
Entstanden sind aus diesen Arbeiten zunächst ein Dokumentarstück und jetzt das Buch „Das Haus des Paul Levy. Rothenbaumchaussee No. 26“ (Dölling und Galitz Verlag Hamburg). „Es war reinste Detektivarbeit und eine Einübung in ein Denken über sechs Ecken für Fortgeschrittene“, sagt Autor Batz über die Forschungen in den Archiven und fügt hinzu: „Die Resonanz auf das Buch ist überwältigend. Sehr berührend sind zum Beispiel Mitteilungen aus Familien der Enkel- und Urenkelgeneration.“
Immobilien: Batz recherchierte Geschichten der Bewohner
Den Anstoß für die historische Detektivarbeit gab eine Klarinette. Ein befreundeter Musiker hatte ihm im Jahr 2015 erzählt, dass in der Rothenbaumchaussee 26 bei Renovierungsarbeiten eine auf dem Dachboden versteckte Klarinette gefunden worden sei. Was hatte es damit auf sich? Batz wollte es wissen. Das vor fremden Zugriffen geschützte kostbare Instrument beflügelte seine Neugier. Sein Geheimnis konnte er zwar nicht lüften, dafür aber die Geschichte der Bewohner im vor genau 100 Jahren fertiggestellten Haus mit der Nummer 26.
Es gab dort auf fünf Stockwerken repräsentative Wohnungen mit Bad, Balkon, Loggia und Mädchenzimmer, zu denen ein Personen-Aufzug der Firma Carl Flohr Bewohner wie Gäste geleitete. Wohnungen mit Stuckengeln und himmlischem Segen, scheinbar gebaut für die Ewigkeit. Bei den Recherchen spürte Michael Batz mit seinem Team die Namen der früheren Eigentümer, ihre Biografien und Schicksale auf. Am Anfang stand oft nur eine kleine Notiz im Hamburger Adressbuch. Am Ende häufig das Todesdatum der Menschen aus dem Haus.
Paul Levy initiierte das Projekt
Hamburg in den 1920er-Jahren. Die Stadt erlebt einen Bauboom. Die Gebrüder Gerson, zwei jüdische Architekten, haben gut zu tun. Die privaten Bauherren schätzen die Eleganz ihrer entworfenen Villen und Landhäuser. Schließlich erhalten Hans und Oskar Gerson den Auftrag der „Wohnhaus Rothenbaum GmbH“, ein modernes Gebäude an der Rothenbaumchaussee 26 auf der Basis eines Bauherrenmodells zu entwerfen. Der Privatbankier Paul Levy ist der Initiator des Projekts.
„Die Interessenten kennen sich bereits weitläufig, mehrheitlich verbinden sie gemeinsame jüdische Wurzeln und die liberalen und kulturellen Ideale des gebildeten deutschen Bürgertums“, heißt es in dem Buch. Als eine der Ersten bezieht Stephanie Nordheim die 1. Etage links. Ihre Wohnung mit sechs Zimmern kann sie bequem per Aufzug erreichen. Später folgen weitere Bewohner jüdischen Glaubens, darunter Manager der Warburg-Bank und Juwelier Julius Polack.
Wohnung wechseln in Nazi-Zeit die Besitzer
Doch der großbürgerliche, liberale Kosmos im Rotklinkerhaus währt nicht lange. Die zunehmende Verfolgung und Vertreibung der Juden macht auch an dieser Tür mit dem Juda-Löwen nicht halt. Wohnung um Wohnung wechseln den Besitzer. Parteigenossen ziehen ein, nationalsozialistische Wissenschaftler wie Professor Theodor Heymann, ein glühenden Anhänger des Rassenprogramms der Nazis. Der Ordinarius für Gynäkologie am UKE bezieht den zweiten Stock gemeinsam mit seiner Haushälterin, nachdem die Jüdin Anna Levy, die Witwe Paul Levys, aus Nazi-Deutschland und somit aus ihrer Wohnung geflohen war. Die Eigentumswohnung gilt mit diesem Wechsel als „arisiert“.
Neuer Miteigentümer wird auch der Zahnarzt und Tennisstar Walter Dessart, SS-Mitglied und Leutnant der Reserve. Der deutsche Daviscup-Spieler gewinnt dreimal die Tennismeisterschaft am Rotherbaum. Profiteurin der Arisierung ist ebenso die Opernsängerin Gusta Hammer, die während des Krieges mit einem Sonderzug nach Norwegen fährt, um die Wehrmachtssoldaten mit ihren Liedern bei Laune zu halten. Die Altistin singt in Barcelona und nach Kriegsende wieder in Hamburg. Zum Beispiel aus der Oper „Elektra“: „Ich habe keine guten Nächte.“ Sie stirbt 1977 in München.
Batz konnte Kontakte zu jüdischen Familien knüpfen
Was Michael Batz mit seinem Team beispielhaft am „Haus des Levy“ recherchiert hat, berührt nicht nur die heutigen Bewohner – unter ihnen Ärztinnen und Therapeuten – sondern selbstverständlich auch die Nachfahren der ersten Generation. Längst konnte Batz Kontakte zu den jüdischen Familien knüpfen. Dazu gehört Eva Magnus, die Tochter von Rudolf und Lilly Magnus.
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Sie ist mit 100 Jahren die älteste noch lebende Erstbewohnerin des Hauses. „Mit ihrer Tochter Karin bin ich in Kontakt.“ Die Familie des jüdischen Rechtsanwalts wohnte einst im vierten Stock links. Persönliche Verbindungen gibt es inzwischen auch nach Kalifornien und ins argentinische Buenos Aires. Einzelne Kapitel des Buches seien für Nichten und Neffen in Israel, Australien und den USA ins Englische übersetzt worden, berichtet Batz.
Immobilien: Werk umfasst ein ganzes Jahrhundert
Für den Autor ist sein publizistisches Werk ein „Jahrhundertbuch“ geworden, weil es exakt diesen Zeitraum umfasst und damit auch das düsterste Kapitel deutscher Geschichte. Im Juli sollen zwei weitere Stolpersteine für die Opfer des NS-Regimes vor dem Haus verlegt werden: Für Auguste Friedburg und Yves Saget, die in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Neuengamme ums Leben kamen. Damit auch sie nicht vergessen werden.