Sehestedt. Als sie im März nach Sehestedt zog, suchte Orschel Ruhe. Nun gewann sie mit ihrer Stute Dacara das Springderby. Seitdem ist vieles neu.
Die größte Attraktion des Dorfes zu finden, das ist ganz einfach in Sehestedt. Man muss nur die Hauptstraße der 1000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Rendsburg-Eckernförde entlangfahren, dann kann man das Plakat in der Einfahrt des Gutshofs nicht übersehen. „Derbysieger 2022“ steht in grünen Buchstaben darauf, eingespannt ist das Banner in ein provisorisches Springreithindernis.
Auf dem Parkplatz hinter dem Empfangsgebäude steht ein Pferdetransporter, den ein Foto von Ross und Reiterin ziert, umrahmt mit blauem Ährenkranz und der Aufschrift „Die Siegerin des Hamburger Springderby 2022“. Stolz sind sie hier auf ihr preisgekröntes Gemeindemitglied, und das zu Recht.
Cassandra Orschel gewann das Deutsche Springderby
Die Frau, der all die Lobpreisungen gelten, empfängt den Besuch in der Stallgasse. Und schnell stellt sie klar, dass ihr das Getöse um ihre Person nicht ganz geheuer ist. „Natürlich freue ich mich sehr über die Anteilnahme und auch über den Erfolg. Aber ehrlich gesagt hat mich die Sache ganz schön überrollt“, sagt Cassandra Orschel. Die Sache, von der sie spricht, trug sich am vorvergangenen Sonntag im Derbypark Klein Flottbek zu. Orschel, 29 Jahre alt, Springreiterin aus Leidenschaft, gewann vollkommen überraschend das Deutsche Springderby. Als erste Hamburgerin in der 91-jährigen Austragungsgeschichte, als fünfte Frau überhaupt – und als erste seit der Britin Caroline Bradley, die 1975 triumphieren konnte.
Was der mit Abstand größte Erfolg ihrer Sportkarriere ausgelöst hat, kann Cassandra Orschel auch rund 14 Tage danach noch nicht vollumfänglich umreißen. „So richtig realisiert habe ich das alles immer noch nicht“, sagt sie, während sie in der großen Wohnküche des Gutshauses, in der das Gespräch stattfindet, an ihrem Kaffee nippt und ein paar Erdnüsse knabbert. Bei gutem Essen und einem Glas Wein, was sie beides schätzt, um zu entspannen, ihren Coup zu genießen, dazu war bislang schlicht keine Zeit.
Cassandra Orschel steht plötzlich in der Öffentlichkeit
Realisiert, was ihr da gelungen war, hatte sie am Tag nach dem Sieg, als mindestens 250 WhatsApp-Nachrichten ihr Mobiltelefon fluteten. „Ich habe bis zum Donnerstag gebraucht, um die zu beantworten, manche warten wahrscheinlich bis heute“, sagt sie. Als das Blaue Band verteilt war und sie mit ihrer Holsteiner Fuchsstute Dacara die vier Ehrenrunden im Stadion hinter sich gebracht hatte, brach der Wahnsinn erst los. Die Medien brauchten Fotos und Geschichten, Veranstalter und Sponsoren wollten gratulieren, die Zuschauer die Sensationssiegerin feiern. Für eine, die ungern auf Bestellung lacht, ist ein solches Vollbad in der Öffentlichkeit ungefähr so angenehm wie das im Wassergraben auf dem Derbyplatz, in den sie von ihrem Team nach dem Sieg hineingeworfen worden war.
Nun ist Cassandra Orschel auch kein Mauerblümchen, das das Licht der Welt scheut. 32.900 Menschen folgen ihr in den sozialen Netzwerken, 12.000 mehr als vor dem Derbysieg, und als mehrmaliger deutscher Meisterin und Teilnehmerin an Europameisterschaften im Ponyreiten ist auch der Umgang mit der Presse kein Neuland für sie. Aber das, was ihr Derbysieg auslösen würde, hatte sie nicht erwartet. „Es ist verrückt, wie viele Anfragen ich in den Tagen danach erhalten habe und immer noch erhalte“, sagt sie. Die einschlägigen Fachmagazine wie „Reiter Revue“ oder „St. Georg“ fragten nach Homestories, das „Bauernblatt Schleswig-Holstein“ wollte ein Interview. „Es ist so viel, dass ich sogar schon überlege, ein Management zu beauftragen“, sagt Cassandra Orschel.
„Ich glaube an Schicksal“
Natürlich kann es viel schlimmer kommen, als dass sich andere Menschen für das eigene Tun interessieren. Aber wer weiß, dass die gebürtige Hamburgerin im März dieses Jahres auch deshalb nach Sehestedt gezogen war, um Ruhe zu finden, der muss konstatieren, dass sie sich mit ihren Husarenritten – eine von nur vier Teilnehmenden mit vier Fehlerpunkten im ersten Umlauf und einzige ohne Fehler im Stechen – selbst einen Strich durch diese Rechnung gemacht hat. Cassandra Orschel lacht, darauf angesprochen, als hätte man sie bei einem fein ausgeklügelten Streich erwischt. „Ich glaube an Schicksal“, sagt sie, „alles passiert, wenn es passieren soll. Ich habe mit so einem Erfolg niemals gerechnet, aber das zeigt mir wieder, dass man nicht zu viel planen sollte.“
Ihr Plan hinter dem Umzug nach Schleswig-Holstein ist aufgegangen. Im Sommer vergangenen Jahres hatte sie auf einem Turnier Paul Ahlmann kennengelernt. Cassandra Orschel, die damals in Schenefeld bei Hamburg im Pferdesportzentrum Friedrichshulde lebte und trainierte, sehnte sich nach gescheiterter Beziehung nach einer frischen Brise in ihrem Leben, nach Veränderung – und entschied sich deshalb im März dieses Jahres, zu ihrem neuen Freund aufs Gut Ahlmann zu ziehen. „Ich habe mich in Schenefeld sehr wohl gefühlt und darf dort immer wieder zurückkommen. Aber es war an der Zeit für etwas Neues“, sagt sie.
Familie Ahlmann betreibt Landwirtschaft
Dieses Neue ist für jemanden wie Cassandra Orschel, die gern ihr eigenes Ding macht, ein Paradies. Das Gut der Familie Ahlmann erstreckt sich über fast 30 Hektar und ist eingebettet in die Hüttener Berge, den kleinsten Naturpark Schleswig-Holsteins. Rendsburg und Eckernförde sind in rund 15 Autominuten zu erreichen, im Dorf selbst gibt es eine Gaststätte, ein Kunsthaus und den Sportverein, dessen Rasenplatz direkt hinter dem Gutshaus liegt. Viel mehr Ruhe geht nicht.
Die Familie Ahlmann, die seit vielen Generationen in Sehestedt zu Hause ist, betreibt vornehmlich Landwirtschaft, der Pferdesport ist dort Leidenschaft. 30 bis 40 Tiere, die Zahl variiert ständig, sind in den Stallungen untergebracht, zehn davon gehören Cassandra Orschel, die die einzige aktive Wettkampfreiterin ist und den kleinen Trainingsspringplatz auf dem Gelände deshalb für sich allein nutzen kann. „Für mich sind das perfekte Bedingungen, ich fühle mich hier wirklich sehr wohl“, sagt sie, während sie den Besuch durch das Herrenhaus führt, in dem sie mit ihrem Freund das ausgebaute Dachgeschoss in der dritten Etage bewohnt.
Orschel bekam als Sechsjährige ihr erstes Pony
Besonders eindrucksvoll ist der Ahnensaal, in dem ein prächtiger Kachelofen dominiert. Gemälde früherer Hausbesitzer zieren die hohen Wände. Die lange Tafel wurde zuletzt am Abend nach dem Derbysieg genutzt, als rund 30 Gäste dort die Überraschungssiegerin feierten. Wer gern Schlossmuseen besucht, fühlt sich in diesem Raum wie ein Gast auf einer Besichtigung, nur dass diejenige, die den Rundgang führt, selbst noch manchmal wie eine Besucherin wirkt. Den Lichtschalter für den Kronleuchter über dem Esstisch zum Beispiel, den muss sie erst suchen. Und die Damen im Büro im Empfangshaus freuen sich, als der Abendblatt-Reporter, dem sie auf der Suche nach ihrer neuen, berühmten Mitbewohnerin helfen wollten, ihnen Orschels Handynummer gibt, die sie bis dahin noch nicht hatten.
Man kann diese kleine Anekdote als Hinweis darauf werten, wie unprätentiös Cassandra Orschel mit ihrem Erfolg umgeht. Für sie steht weiterhin im Vordergrund, dass sie Spaß haben möchte im Umgang mit ihren Pferden. Als Sechsjährige bekam sie von ihrem Vater, der sein Geld auf St. Pauli mit dem Aufstellen von Spielautomaten verdiente, ihr erstes Shetland-Pony. Mit ihrem dritten Pony gewann sie ein paar Jahre später alle regionalen Meisterschaften. „Das war mein Einstieg in den Leistungssport“, sagt sie. Nach ihrem Realschulabschluss in Henstedt-Ulzburg, wo sie aufwuchs, arbeitete Cassandra Orschel zwei Jahre in einer Tierklinik in Bilsen und begann anschließend, das Erlernte dahingehend umzusetzen, dass sie selbst Springpferde ausbildete und sich auch in der Zucht ausprobierte.
Preisgeld will sie für die Finanzierung ihres Sports nutzen
Eine Berufsausbildung hat sie nicht absolviert, „ich habe immer darauf vertraut, dass ich meinen Weg auch so finden würde“, sagt sie. Eine Frau eben, die an Schicksal glaubt, und die deshalb auch die 13 nicht als Unglückszahl fürchtet. Die beiden Ziffern hat sie sich am linken Handgelenk tätowieren lassen. „Früher habe ich meinen Ponys immer 13 Zöpfe geflochten. Und in der zweiten Derbyqualifikation war ich 13. Starterin. Aber ich nehme den Aberglauben nicht allzu ernst, ich mag die Zahl einfach“, sagt sie.
Auch was andere Zahlen angeht, bleibt Cassandra Orschel gelassen. Auf die Frage, wie sie das größte Preisgeld ihrer Karriere – 30.000 Euro brachte der Derbysieg ein – anlegen wolle, kommt eine trockene Antwort, die perfekt zu ihrem Auftreten passt. „Ich habe nicht mal meine Daten übermittelt, damit die das Geld überweisen können“, sagt sie, „aber ich werde nichts Besonderes damit machen, denn mein Sport ist so kostenintensiv, dass ich über jede Unterstützung glücklich bin.“
„Das ist mein Business, dass ich Pferde ausbilde"
Wobei sie betont, dass der Support aus ihrem Umfeld schon vor dem großen Tag ausgeprägt war. Ihre Eltern, die weiterhin in Hamburg leben, stärken der Tochter den Rücken. Die Familie ihres Freundes nehme ebenfalls viel Anteil. Was der Derbysieg an zusätzlichem Interesse auslösen wird, erwartet sie mit Spannung. Es hätten sich einige potenzielle Sponsoren gemeldet. Den Pferdetransporter mit dem Bild ihres Siegesritts stellt ihr das Unternehmen Theurer, mit dem sie schon vorher kooperierte, für ein Jahr kostenfrei zur Verfügung. „Und viele Veranstalter fragen, ob ich bei ihnen reiten möchte, weil das natürlich keine schlechte Werbung für Turniere ist, wenn die Derbysiegerin kommt“, sagt sie. Wie die kommenden Wochen aussehen werden, hat Cassandra Orschel noch nicht durchgeplant.
Ende Juni will sie auf regionaler Ebene mit einigen Jungpferden wieder Turniere reiten. „Das ist mein Business, dass ich Pferde ausbilde und mit ihnen Ergebnisse sammle, und das muss ja weiterlaufen“, sagt sie. Eine Anfrage des polnischen Verbands, für den sie dank der Herkunft ihrer Mutter Jolanta und eines Wohnsitzes in Danzig seit einigen Jahren startet, für eine Teilnahme mit Dacara am Nationenpreis lehnte sie ab. „Ich habe das Gefühl, dass wir erst einmal zur Ruhe kommen müssen. Ich möchte Dacara auf keinen Fall verheizen, sie ist mein bestes Pferd und soll noch viele gute Jahre haben“, sagt sie.
Dacara soll nicht verkauft werden
Ein Angebot für ihre Stute hat sie bislang noch nicht erhalten. Für jemanden, der davon lebt, Pferde zu Turnierwettkämpfern auszubilden und gewinnbringend zu verkaufen, gibt es immer eine Schmerzgrenze. „Aber ich kann mir gerade überhaupt nicht vorstellen, Dacara zu verkaufen. Dafür haben wir gemeinsam zu viel durchgemacht“, sagt sie. Vor sechs Jahren hatte sie das damals fünf Jahre alte Tier auf einer Auktion entdeckt, wo es fast vom Verkauf ausgeschlossen wurde, weil es charakterlich als zu schwierig galt.
„Aber ich wusste gleich, dass sie etwas Besonderes ist. Manchmal hat sie keinen Bock auf Arbeit, dann muss ich sie auch mal härter rannehmen. Aber im Parcours ist sie wie ein kleiner Feuerball. Wir sind wie ein altes Ehepaar, das gegenseitig all seine Eigenheiten kennt“, sagt sie. Sie habe lange nach einem passenden Derbypferd gesucht. „Als ich in der Vorbereitung zum ersten Mal auf dem Moorhof in Wedel mit Dacara auf dem Wall stand, musste sie runtergeführt werden. Aber ich konnte spüren, dass sie diesen Parcours meistern könnte. Ich habe immer an sie geglaubt. Aber dass es so weit gehen würde, konnte niemand ahnen“, sagt sie.
Cassandra Orschel: Nächstes Jahr nur Zuschauerin?
Wie es im kommenden Jahr werden wird, wenn das nächste Derby ansteht, weiß Cassandra Orschel noch nicht einzuordnen. Viele Jahre war sie als Zuschauerin in Klein Flottbek dabei, auch 2019, als Nisse Lüneburg mit Cordillo bei der letzten Austragung vor der dreijährigen Corona-Pause das Blaue Band gewann. „Ich hatte immer riesigen Respekt vor dem Parcours, besonders vor dem Wall. Der Traum, dort selbst mal runterzugehen, war zwar da. Aber das Derby nun nicht nur erlebt, sondern sogar gewonnen zu haben, macht schon etwas mit mir“, gibt sie zu.
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Das Gefühl, nicht als Newcomerin ohne Erwartungen anzutreten wie in diesem Jahr, sondern als Titelverteidigerin, auf die alle schauen, behagt ihr nicht. „Ich mag es nicht, wenn alle Augen auf mir sind. Der Druck ist bestimmt riesig. Deshalb kann es gut sein, dass ich nächstes Jahr wieder nur als Zuschauerin dabei bin“, sagt sie. Und wer könnte ihr das verdenken? Mehr als die erste Hamburger Derbysiegerin kann sie nicht werden. Und in Sehestedt braucht es weder Titel noch Prominenz, um sich wohlzufühlen.