Hamburg. Damit hat niemand gerechnet. Cassandra Orschel ist die erste Frau seit 1975, die beim Spring-Derby in ihrer Heimatstadt siegt.
Um 16.56 Uhr hallte ein Schrei durch den überdachten Einritt der Flottbeker Springreitarena. Es war ein gellender Freudenschrei, ausgestoßen von Cassandra Orschel. Mit einem Husarenritt hatte die gebürtige Hamburgerin im Stechen eiserne Nerven bewiesen und ihre Holsteiner Stute Dacara fehlerfrei über die Runde gebracht. Ein Triumph, der in Jubel, Umarmungen und einem spontanen Tänzchen gipfelte. Vor 47 Jahren hatte mit der Britin Caroline Bradley letztmals eine Frau das Blaue Band gewonnen. Bei 91 Auflagen des traditionsreichen Klassikers glückte dieses Bravourstück bisher nur fünf Teilnehmerinnen.
Der Coup der Außenseiterin verlief absolut nach dem Geschmack des Publikums. Trotz schauriger Witterung brandete die typische, einmalige Derby-Stimmung auf. „Der helle Wahnsinn, diese Zuschauer“, stellte Springreitlegende Achaz von Buchwaldt auf der Tribüne fest. Der zweifache Derbysieger kennt die 29 Jahre alte Cassandra seit ihrer Jugend. Hin und wieder berät er sie. Zuletzt ritt die für Polen startende Hanseatin im Pferdesportzentrum Friedrichshulde in Schenefeld. Im März dieses Jahres zog Frau Orschel aus Hamburg nach Sehestedt im Kreis Rendsburg-Eckernförde. Dort betreibt ihr Lebensgefährte einen kleinen Hof.
Die Mutter der Derbysiegerin ist Polin, der Vater Deutscher. Da sie sich als polnische Starterin leichter für Turniere qualifizieren kann, entschied sie sich so. Entsprechend erklang bei der Zeremonie die Nationalhymne des Nachbarlandes. „Hamburg, meine Perle hätte ebenfalls gepasst“, meinte der Sprecher in der Arena. Recht hatte er. Zumal die Dramaturgie stimmte.
Wie Orschel beim Derby in Hamburg gewann
Nachdem Frederic Tillmann (34/Grevenbroich) im Sattel des achtjährigen Comanche mit einem Abwurf und André Thieme (47/Plau am See) auf Contadur sowie Sandra Auffarth (35/Ganderkesee) mit Nupafeed’s La Vista im Stechen mit vier Pferden Patzer unterliefen, stand eine der größten Überraschungen der 102-jährigen Derbygeschichte fest. „Ich kann es nicht fassen“, sagte die aktuelle Championesse immer wieder, während Freudentränen über ihr Gesicht rannen. „Derbysieger, Derbysieger“, skandierten Freunde und Verwandte unterhalb des Richterturms. Das Publikum begleitete Ehrenrunden sowie Ausritt der Triumphatoren mit anspornendem Beifall und Hurrarufen.
Insgesamt waren an den fünf Turniertagen gut 90.000 Zuschauer nach Klein Flottbek geströmt, davon mehr als 20.000 am Finaltag. 2019 waren 96.000 dabei. „Nach der pandemiebedingten Zwangspause wollten wir an den Erfolg von vor drei Jahren anknüpfen“, bilanzierte Derbychef Volker Wulff nach der Ehrenzeremonie. „Dies ist uns geglückt.“ Auch mit Unterstützung der Sponsoren, die zur Stange hielten – allen voran das Kaffeeunternehmen J. J. Darboven mit einer Vertragsverlängerung bis 2025. Es gehöre zur gesellschaftlichen Verantwortung, gemeinsam Großveranstaltungen dieses Kalibers „erneut loszutreten“. Partner Albert Darboven fügte hinzu: „Unter dem Strich haben alle gewonnen.“
Trotz widriger Witterung just an den beiden Abschlusstagen präsentierten sich die Besucher in traditioneller Derbyform. Es glich einer hanseatischen, alles andere als stillschweigenden Übereinkunft: nun erst recht! Kritischen Gästen indes blieb nicht verborgen: Es gab im Springen um das Blaue Band schon erheblich stärkere Qualität als beim 91. Deutschen Derby.
Orschels Derby-Sieg berührte Herzen des Publikums
Als bodenständiger Profi bekannte Volker Wulff: „Das Derby selbst, die emotionalste Prüfung im deutschen Springreitsport, muss noch attraktiver werden.“ Das aus seiner Sicht insgesamt ansprechende Niveau müsse gefestigt und verbessert werden. Mit seinem Team der Agentur En Garde suche er nach Lösungen, junge Reiter zu motivieren und den Stellenwert des Derbys für diese Zielgruppe zu steigern. „Die älteren Heroen sind in die Jahre gekommen“, sagte Wulff. Über die Hälfte der Derbyteilnehmer schieden aus oder verbuchten 20 und mehr Fehlerpunkte. Das Geläuf war tief.
Grundsätzlich will Wulff an der Struktur festhalten: mit den Derby-Qualifikationen am Mittwoch und Freitag, dem Championat am Himmelfahrtstag, der Global Champions Tour am Sonnabend – und dem 92. Derby am Sonntag, 21. Mai 2023. Selbstverständlich. Da mehrere Firmen innerhalb der vergangenen zwei Jahre vom Markt verschwunden sind, sollen neue Unternehmen für die Ausstellung im Derbypark gewonnen werden. Zusätzlicher Spielraum existiere nicht: „Der Platz wird fast komplett genutzt. Wir können uns nicht weiter ausbreiten.“ Wulffs Fazit zum Ausklang: „Wir konnten dazu beitragen, dass in Hamburg die Mundwinkel wieder etwas höher gezogen werden.“ Es soll erst der Anfang gewesen sein.
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Zumal Cassandra Orschels Derbytriumph die Herzen des Publikums berührte. Größer kann Begeisterung nicht ausfallen. Die 29 Jahre alte Hamburgerin erhielt nicht nur ein Viertel der 120.000 Euro Derbydotierung, eine Kaffeemaschine und ein Küsschen von Sponsor Albert Darboven (86), sondern das Blaue Band. Und dieses gibt es nur einmal im Jahr zu gewinnen. Unter diesen Umständen schritten Cassandras Anhängerinnen zu einer besonderen Maßnahme: Kurzentschlossen katapultierten sie die Triumphatorin in den Wassergraben inmitten des Parcours. So was hat man lange nicht geseh’n, so schön, so schön.