Hamburg. Vielen Menschen fehlt Wissen zur Natur. Loki-Schmidt-Stiftung und Botanischer Verein bieten Abhilfe mit der „Akademie für Artenkenner“.

Gänseblümchen, Löwenzahn, Stiefmütterchen oder Osterglocken? Die sind selbst für Großstädter mit mäßigem Faible für botanische Pracht treffsicher zu identifizieren. Bei Buschwindröschen, Huflattich und Hopfenklee liegt die Latte schon höher. Den Kriechenden Günsel, Hasenbrot, Großen Klappertopf oder Gamander-Ehrenpreis können in freier Natur nur wenige erkennen. Von Natternkopf und Ochsenzunge ganz zu schweigen. Und genau dort liegt das Problem vergraben: Kenner pflanzlicher Vielfalt in Hamburgs Grünoasen, ein Stück abseits geläufiger Pfade, sind ähnlich rar wie manch uriges Gewächs.

„Pflanzenarten verschwinden fast unbemerkt von der Bildfläche“, klagt Hans-Helmut Poppendieck, so etwas wie ein „Botanikpapst“ der Hansestadt. Parallel nimmt die Zahl jener Menschen ab, die solche Pflanzen kennen. Zwar sei der komplette Reichtum der Natur nur schwer zählbar, doch steht aus seiner Sicht fest: Der Artensegen nimmt ab. „Und wenn wir Blumen oder Kräuter nicht mehr benennen können“, fügt Kristin Ludewig im Namen der Loki-Schmidt-Stiftung hinzu, „dann sehen wir sie auch nicht.“ Das Aussterben folge quasi unbemerkt.

Natur Hamburg: Kurse und kostenlose Bestimmungsabende

Damit dieses Desaster nicht ausufert, starten die Stiftung und der Botanische Verein zu Hamburg eine Initiative: Interessierte sollen mit Fachwissen bereichert werden. Angelegt keinesfalls als wissenschaftliche Doktorarbeit mit trockener Materie, sondern als lebendige Ausbildung mit Spaßfaktor – in der „Akademie für Artenkenntnis“. Wer viel wissen will, bucht einen kostenpflichtigen Kursus der Kategorien Bronze, Silber oder Gold.

Praktisch als Schnupperstunden gibt es aber auch gratis Bestimmungsabende für jedermann. Die nächsten Termine auf den Wiesen des Hamburger Umweltzentrums auf Gut Karlshöhe im Nordosten der Stadt: 24. Mai, 7. Juni, 13. Juni. Anmeldungen sind nicht nötig.

Poppendieck ist Vorsitzender des Botanischen Vereins

Um dem Dilemma auf den Grund zu gehen, treffen wir uns mit den Pflanzenprofis Kristin Ludewig und Hans-Helmut Poppendieck. Welcher Ort könnte besser passen als das Café Palme im Herzen des Botanischen Gartens – ein Geheimtipp nicht nur unter Biologen. Ludewig wie Poppendieck verfügen über einen gepflegten grünen Daumen, über Leidenschaft, über Sachverstand. Beide haben in ihren Fachbereichen promoviert. Er ist der Vorsitzende des Botanischen Vereins, sie die zweite Vorsitzende, hauptberuflich je zur Hälfte für die Loki-Schmidt-Stiftung sowie als Biologin an der Universität Hamburg im Einsatz.

Akademie der Artenkenner auf dem Gut Karlshöhe: Unter fachkundiger Anleitung lernen die Kursteilnehmer, Pflanzen zu identifizieren.
Akademie der Artenkenner auf dem Gut Karlshöhe: Unter fachkundiger Anleitung lernen die Kursteilnehmer, Pflanzen zu identifizieren. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES

Hand in Hand soll das Problem an der Wurzel gepackt werden. Die Idee einer Akademie der Artenkenner /-innen keimte 2019 im Südwesten Deutschlands. Im vergangenen Jahr gab es in Hamburg und Schleswig-Holstein Probeläufe. 2022 geht’s richtig los. Der Bronzekursus startete am 6. Mai, der Lehrgang Silber am 29. April. Jeweils 20 Plätze waren im Nu vergeben. Da es aktuell noch an Dozenten mangelt und zudem Erfahrungen gesammelt werden sollen, werden erst im kommenden Jahr weitere Veranstaltungen offeriert.

„Loki Schmidt wäre begeistert von dieser Akademie"

Jeder Kursus beinhaltet vier halbtägige Seminare sowie sieben halbtägige Exkursionen in die Natur. Die Teilnahme kostet 450 Euro plus 30 Euro Prüfungsgebühr. Für das offizielle Bronze-Zertifikat müssen 200 Pflanzenarten und für Silber 400 beherrscht werden. Für Gold muss man 600 Pflanzen identifizieren können. Ein Fall für Kenner. Dann geht es um Unterschiede zwischen Ruchgras, Engelwurz, Schachtelhalmen, Kanadischem Berufkraut. Wahrlich nicht jeder kennt Kleinblütiges Franzosenkraut, Rot-Schwingel, Flockenblumen oder Zweiblättrige Schattenblumen.

Eine Kursteilnehmerin nimmt einen Grashalm unter die Lupe.
Eine Kursteilnehmerin nimmt einen Grashalm unter die Lupe. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES

„Loki Schmidt wäre begeistert von dieser Akademie und den Bestimmungsabenden“, meint Hans-Helmut Poppendieck. Nicht nur einmal war er mit der verstorbenen Naturfreundin und Hamburger Ehrenbürgerin auf Studienreisen – weit über Europa hinaus. Die Leidenschaft einte. Vor allem ging die Ehefrau des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, die Namenspatin des Botanischen Gartens, schon vor ihren öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten mit gutem Beispiel voran.

Über 1600 verschiedene Arten in Hamburg

Als Lehrerin in Othmarschen war es für die engagierte Pädagogin eine Selbstverständlichkeit, mit ihren Schülerinnen raus auf Wiesen, in Parks, in Wälder zu gehen. Wer die grüne Vielfalt versteht, am Wegesrand kleine Wunder wachsen sieht, entwickelt ein Herz für deren Erhalt. „Diese Einstellung“, weiß Poppendieck aus Erfahrung, „hat heutzutage Ausnahmecharakter.“

Hätten Sie das erkannt? Die Wilde Erdbeere.
Hätten Sie das erkannt? Die Wilde Erdbeere. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES

Nur noch selten verstehen es Eltern und Schulen, Kinder für die Pflanzenwelt zu begeistern. Kristin Ludewig schätzt das Vorkommen verschiedener Blumen und Pflanzen in Hamburg auf mehr als 1600 Arten. Im Stadtpark beispielsweise wachsen gut 200 Arten, im Volkspark oder Jenischpark annähernd 150. Wer seine Augen öffnet und sein Wissen schult, kann Zauberhaftes entdecken. Man muss kein Profi sein, um Freude daran zu empfinden.

Bronzekursus: Anmeldung über Loki-Schmidt-Stiftung

Die Schnupperabende mit kleinen, bunten Unterschieden auf den Blumenwiesen, in den Bauerngärten und in der kleinen Wildnis des ehemaligen Staatsguts Karlshöhe können der ideale Einstieg sein. Nach zwei Stunden, die von Kristin Ludewig ebenso fachkundig wie abwechslungsreich gestaltet werden, kann man beim nächsten Spaziergang profitieren. Wer Gefallen an mehr Natur findet, kann sich über die Loki-Schmidt-Stiftung (www.loki-schmidt-stiftung.de) für einen Bronzekursus 2023 anmelden. Genaue Termine stehen wohl im Spätsommer oder Herbst fest.

Das Zertifikat Bronze gilt als Einsteigerniveau. Dazu muss man einen „Warenkorb“ von 200 Arten kennen. „Es handelt sich um relativ häufige Allerweltspflanzen, die ohne Probleme fast überall in der Stadt zu finden sind“, sagt Poppendieck. Teilnehmer/-innen sind Studenten, Berufseinsteiger in Behörden und Planungsbüros, Ehrenamtliche oder Menschen, die Spaß an der Beschäftigung mit Pflanzen haben. Das Zertifikat kann als Pluspunkt für Bewerbungen in passenden Berufen genutzt werden.

Der Hamburger Pflanzenatlas beantwortet viele Fragen

„Für mich ist es eine Lust, so engagierte und motivierte Leute unterrichten zu dürfen“, sagt Hans-Helmut Poppendieck. Es sei so, als erlerne man eine neue Sprache. Schritt für Schritt. Wer sich auf die Spur natürlicher Schätze begeben möchte, kann am „Langen Tag der Stadtnatur“ am 18./19. Juni dieses Jahres fündig werden. Das Programm umfasst mehr als 240 Veranstaltungen. Ab 30. Mai sind Anmeldungen über die Loki-Schmidt-Stiftung online möglich.

Ziel dieser Naturschutzorganisation sowie des Botanischen Vereins zu Hamburg mit 350 Mitgliedern ist es, erste Kontakte in die vielfältige Pflanzenwelt zu ebnen und bei Interesse intensiveres Wissen anzubieten. Auf die Dosierung kommt es an. Denn alles kann keiner wissen. So beinhaltet das Herbarium des Fachbereichs Biologie der Universität 1,5 Millionen Belegseiten. Die Zahl der katalogisierten Pflanzensorten wird auf annähernd 100.000 geschätzt. Gut bedient ist man mit dem Hamburger Pflanzenatlas, der in zweiter Auflage erhältlich ist. Spannende Fragen werden von A bis Z beantwortet. Wo findet man Wildtulpen in den Vierlanden, wo die Erzengelwurz am Elbstrand? Wo wächst bei uns der Götterbaum? Und was machen Natternkopf und Ochsenzunge zwischen den Containern im Hafen?

Natur Hamburg: Einbeere nur noch im Wohldorfer Wald

Motto: Wer sucht, der findet. Doch finden kann nur, wer weiß und kennt. Ein trauriges Beispiel ist die Einbeere, die „Blume des Jahres 2022“. Auch für dieses Projekt der Loki-Schmidt-Stiftung ist Kristin Ludewig verantwortlich. Einst gedieh die vierblättrige Einbeere an 15 Stellen in Hamburg – am vorzüglichsten in alten, wilden Wäldern. Aktuell wächst sie wohl nur noch im Wohldorfer Wald.

Doch wer weiß es verlässlich? Genau dies ist das Problem.