Hamburg. Ein Säugling, der mit zehn Wochen seinen letzten Atemzug tätigt und Eltern von sieben Kindern, die einfach überfordert waren.

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Zuletzt fehlte ihm wohl sogar die Kraft zum Schreien. Der kleine Mohamed starb lautlos. Irgendwann in der Nacht hat der Säugling sein Leben ausgehaucht. Entkräftet, ausgezehrt, vollkommen abgemagert. Gerade mal zehn Wochen wurde der Junge alt.

„Es war ein furchtbar trauriges Schicksal“, sagt Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher im Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel. „Das Furchtbare ist nicht nur, dass der Junge gestorben ist. Das Schlimme ist auch, dass sein Tod absolut sicher zu verhindern gewesen wäre“, meint Püschel. „Seine Eltern hätten nur mal mit ihrem deutlich untergewichtigen Sohn zum Kinderarzt gehen müssen. Dann hätte er bestimmt gerettet werden können.“

Eltern gingen mit ihrem Kind nicht zum Art – Mohamed starb völlig entkräftet

Die Geschichte von Mohamed und seiner Familie ist allerdings nicht die von verantwortungslosen, vielleicht sogar herzlosen Eltern. Es ist mehr ein Drama um eine Familie mit sieben Kindern, deren Versorgung die Eltern wohl letztlich überfordert hat.

Es ist der 13. November 2017, als die Mutter morgens nach ihrem jüngsten Sohn sehen will — und einen Schock erleidet. Denn sie hat gemerkt, dass der Säugling nicht mehr atmet. Die 32-Jährige weckt ihren Mann und sagt zu ihm: „Dein Sohn ist tot.“ Trotzdem ruft der Vater noch den Notarzt an. Als er das tut, ist die Stimme des Mannes vor lauter Schluchzen nur schwer zu verstehen. Im Hintergrund hört man seine Partnerin weinen und klagen. „Unser Kind ist still“, ruft der Mann aufgelöst in einem Notruf an die Feuerwehr.

Bei seinem Tod wog er weniger, als bei seiner Geburt

Der kleine Mohamed war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu retten. Als er starb, war er derartig mager, mit greisenhaftem Gesicht und eingefallenen Augen, dass ein Ärzteteam, das sich um sein Überleben bemüht hatte, „sehr bestürzt war, wie er aussah“, erzählt ein erfahrener Kinderarzt über den Säugling. „Ich kann die Bestürzung dieses Kollegen sehr gut verstehen“, erklärt Püschel.

„Mir ging es ähnlich, als ich das tote Kind rechtsmedizinisch untersucht habe. Als der zehn Wochen alte Mohamed starb, wog er nur noch 2823 Gramm. Das war sogar weniger als bei seiner Geburt. Er war völlig ausgemergelt. Wir waren regelrecht schockiert über den Zustand dieses Babys.“

Eltern wollen den Zustand des Kindes nicht bemerkt haben

Den Eltern werden später wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen vor Gericht gestellt. Die Anklage wirft dem 34 Jahre alten Vater und der Mutter, 32 Jahre alt, vor, sie hätten ihren kleinen Sohn nicht einem Arzt vorgestellt — obwohl der Junge „stark untergewichtig und chronisch mangelernährt“ gewesen sei und „ungewöhnlich ausgemergelt ausgesehen“ habe. Die Eltern lassen im Prozess über ihre Verteidiger erklären, die Mutter habe den Sohn ganz normal gestillt. Dass er in einem schlechten Zustand gewesen sei, hätten sie nicht bemerkt.

Es gibt ein Foto, das eine Woche vor dem Tod des kleinen Jungen entstanden ist, aufgenommen auf einer Familienfeier. Auf diesem Bild erkennt man, dass die Augen tief in den Höhlen liegen und er ein greisenhaftes Gesicht hat. „Mohamed ist zu dem Zeitpunkt bereits dramatisch unterernährt gewesen“, betont Püschel. „Und das hätte man ohne Weiteres auch als medizinischer Laie erkennen können! Eine ärztliche Behandlung zu diesem Zeitpunkt hätte den Tod eindeutig hätte verhindern können.“

Sein Zustand sei für jeden erkennbar gewesen

Diese Einschätzung vertritt auch ein Kinder-Intensivmediziner. Sowohl Püschel als auch der zweite Sachverständige bekunden: Zumindest in Mohameds letzter Lebenswoche sei „für jeden erkennbar“ gewesen, wie extrem untergewichtig der Junge war und dass Lebensgefahr bestand.

Jetzt gab es gegen die Eltern also den Verdacht, schon etwa eine Woche vor Mohameds Tod erkannt zu haben, dass ihr Sohn sterben könnte. Und dass sie sich – und das ist das Entscheidende – damit womöglich abgefunden haben. Deshalb wird der Fall an das Schwurgericht verwiesen. Das Sterben habe sich „über einen längeren Zeitpunkt hingezogen“.

Bei Gefängnisstrafe hätten sechs Kinder in Pflegefamilien gemüsst

Das Urteil am 29. November 2019: Beide Eltern erhalten wegen Totschlags durch Unterlassen im minderschweren Fall eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die jeweils zur Bewährung ausgesetzt wird. „Der Vorsitzende Richter hat betont, dass zu bedenken sei, dass die anderen sechs Kinder des Paares wohl in Pflegefamilien hätten gebracht werden müssen, wenn die Eltern im Gefängnis gelandet wären“, sagt Mittelacher.

Der Richter sagte: „Die Kinder hätten unverschuldet unter dem krassen Fürsorgeversagen ihrer Eltern zu leiden gehabt.“ Die Eltern hätten den Tod ihres jüngsten Babys nicht gewollt. Sie hätten ihn aber sehenden Auges in Kauf genommen.

Fall Mohamed: Richter behält Familie mit strengen Auflagen im Blick

„Hier, im Fall Mohamed, haben die Eltern gehofft, dass wohl doch noch alles gut gehen würde“, erklärt Mittelacher. Die Kammer hat strenge Bewährungsauflagen gemacht: Jetzt müssen die Eltern eng mit dem Jugendamt zusammenarbeiten. Und sie müssen regelmäßig mit ihren Kindern zur Ärztin gehen. Tun sie das nicht, kommen sie womöglich doch noch ins Gefängnis.

Der Richter gibt ihnen mit auf den Weg: „Wir behalten Sie im Blick.“