Hamburg. Die Theaterwelt feiert 400 Jahre Molière. Der zukünftige Ruhrtriennale-Intendant Ivo van Hove über den Reiz des Dramatikers.
Der belgische Regisseur Ivo van Hove, künstlerischer Leiter der Toneelgroep Amsterdam und ab 2024 Intendant der renommierten Ruhrtriennale, ist in Hamburg kein Unbekannter. In den 2000er-Jahren inszenierte er am Schauspielhaus unter anderem „Faces“ nach John Cassavetes – und „Der Geizige“ von Molière.
Mit seiner Inszenierung von Molières „Tartuffe oder Der Heuchler“ gastiert er nun für ein zweitägiges Gastspiel am 7. und 8. Mai mit einem Ensemble der Pariser Comédie-Française am Thalia Theater. Gutes Timing: Der französische Dichter der Charakterkomödie wird in diesem Jahr 400 Jahre alt und der Erfolg seiner Stücke ist ungebrochen. Warum eigentlich?
Hamburger Abendblatt: Der französische Dramatiker Molière feiert in diesem Jahr seinen 400. Geburtstag. Worin besteht bis heute seine Faszination?
Ivo van Hove Es gibt das Missverständnis über Molière, dass er nur ein Komödienautor sein soll. Es geht ihm aber immer um soziale Dramen. Das Schöne an seinen Stücken und sicher ein Grund für ihre ungebrochene Popularität ist, dass er gesellschaftliche Themen immer maskiert hinter einem Familien- oder Ehedrama. Auch in „Tartuffe“.
Wie ist Molière über all die Jahre gelungen, was heute kein Gegenwartsautor mehr schafft, Zuschauer aller Bildungsschichten und Kunstvorlieben zu erreichen?
Die Griechen haben das auch geschafft. Aber das ist noch länger her. Ich glaube, es liegt daran, dass er immer über Figuren schrieb wie einen Vater, einen Sohn, eine Tochter, in denen man sich wiedererkennt. Wir haben alle eine Familie, auch wenn sie gestorben ist. Wenn wir sie verloren haben, erhoffen wir uns eine neue. Das Zusammensein in einer kleinen Gruppe von Menschen ist immer zentral bei Molière.
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Wie kann populäre Theaterkunst nach dem Vorbild Molières heute gelingen?
Molière war Intendant und Schauspieler. Er hat seine Stücke selbst gespielt. Das hatte einen Zauber. Der Unterschied zu heute ist, dass es eine Nähe gab zum König und zu den politisch wichtigen Leuten. Er war ein akzeptierter Künstler, der auch wichtige Dinge auf der Bühne verhandeln konnte. Bei „Tartuffe“ gab es dann ein Problem, das zur Zensur führte. Er war auch unter Druck. Aber er stand im Zentrum der französischen Gesellschaft. Und er war populär bei Leuten, die nicht soviel Geld hatten. Das liegt daran, dass er Komödien geschrieben hat.
Spielt es eine Rolle, dass er mitten auf der Bühne in einer Inszenierung von „Der eingebildete Kranke“ starb?
Das ist natürlich tragisch. Aber das inspiriert auch. Dass die Kunst für ihn so wichtig war, dass er bis zum Ende gegangen ist. Es ging nicht nur ums Geld. Es war eine wichtige Kunst. Die großen Themen, die es in der Gesellschaft gab, konnte man auf der Bühne sehen.
Kann man in Molière den Vater der heutigen Sitcoms sehen?
Nein. Immer wenn ich eine Komödie von Molière lese, sehe ich eine Tragödie. Da gibt es eine Familie, die nur noch eine Ruine ist. Die nach außen wie eine Familie aussieht, aber nach innen ganz zerstört ist. Jeder darin ist unglücklich. Ich sehe nur gebrochene, verletzte Menschen.
„Tartuffe“ wurde in der Ur-Fassung nur einmal gezeigt und von Ludwig XIV. verboten, weil es als amoralisch angesehen wurde. Weshalb?
Der König fand es fabelhaft, aber die Kirche hatte das Problem, dass man einen Heuchler auf der Bühne zeigt und ernst nimmt. Das konnte sie nicht akzeptieren. Dann hat Molière es umgearbeitet, so dass es der Kirche gefiel und diesen schrecklichen letzten Akt, in dem der Gesandte des Königs auftritt, hinzugefügt. Man kann ihn nicht inszenieren.
Sie haben ja die Ur-Fassung in einer Rekonstruktion inszeniert. Was ist daran anders?
Der Literaturwissenschaftler Georges Forestier hat die Fassung unter Mitwirkung von Isabelle Grellet rekonstruiert. Ich habe sie gelesen und dachte sofort, ja, das ist es, was Molière gemeint hat. Etwas Rohes. Etwas Brutales. Mit einer solchen Fassung verliert man immer etwas, man gewinnt aber auch etwas. Was hat man verloren? Der zweite Akt ist fast verschwunden. Und damit die Beziehung zwischen Valère und Mariane. Die Figuren gibt es in meiner Version nicht. Auch der fünfte Akt ist weg, aber das ist kein Verlust.
Dafür wird dieser fast biblische Streit zwischen Orgon und Damis, Vater und Sohn, viel wichtiger im Stück. Und zwischen Orgons Frau Emile und Tartuffe entwickelt sich eine echte Liebe. Das Ende ist offen. Das Publikum hat also etwa zum Nachdenken. Der wichtigste Unterschied aber besteht darin, dass Tartuffe eigentlich ein Landstreicher ist, ein Bettler. Er hat kein Geld. Deshalb hängt er bei der Kirche herum. Und so begegnet er Orgon. Er ist ein Heuchler aber er befindet sich auch in einem Überlebenskampf.
Molière schreibt ja kritische Charakterkomödien. Sie sind eher bekannt für klassische und moderne Theaterliteratur und für Filmstoffe von Cassavetes oder Pasolini. Was interessiert Sie an „Tartuffe“?
Ein anderer Lieblingsautor von mir ist Maxim Gorki mit seinen Tragikomödien. Ich habe auch schon Alan Ayckbourn inszeniert. Der Abend „The Norman Conquests“ umfasste 2006 gleich drei Stücke. Das waren über fünf Stunden Komödie. Alle haben gedacht, das ist das Ende von Ivo van Hove, aber nein, das Publikum hat gelacht. Ich liebe Humor. Ich liebe auch die Tragödien. Jede Komödie hat immer etwas Tragisches und so inszeniere ich das.
Ihre Bühnenästhetik wurde einmal „maximaler Minimalismus“ genannt. Finden Sie die Bezeichnung treffend?
Ja. Das hat ein Journalist der New York Times geschrieben, der immer eine Hassliebe zu mir hatte. Er hat gesagt, ich sei ein „minimal maximalist“ oder ein „maximal minimalist“. Es geht bei mir bei einem großen Stoff immer um die Menschen, um kleine Dinge. Gleichzeitig liebe ich es, etwas ganz konzentriert zu zeigen und darin wiederum das Große zu suchen.
Sie arbeiten immer mit Jan Versweyveld zusammen, der Bühne und Licht kreiert. Was zeichnet Ihre Zusammenarbeit aus?
Alles. Es fängt immer mit uns an. Wir leben zusammen. Wir haben immer miteinander gearbeitet, was nicht heißt, dass wir dieselbe Meinung haben. Theater ist für uns auch Leben. Das ist vielleicht unser Geheimnis. Wir offenbaren unsere Gedanken zur Welt.
Ihre Arbeiten haben ja eine strenge Form. Sie wirken fast wie eine Installation. Es gibt aber immer auch realistische Momente darin. Wie geht das zusammen?
Ich verfolge einen konzeptionellen Gedanken. Und ich bin ein Kind der 1970er-Jahre. Damals wurde die Performance Art ganz groß. Für mich war es eine Offenbarung, dass auch das Theater sein kann. In jeder Inszenierung gibt es einen Moment, wo Theater bei mir Wirklichkeit wird.
Ich suche diese Momente. Es soll Spaß bringen, aber es soll auch gefährlich sein. Bloß nicht mittelmäßig. Ich möchte nicht schockieren, aber wenn man schockiert ist, stört es mich auch nicht. Das kommt aus meiner Jugend. Ich bin ein Kind der Punk-Bewegung.
„Tartuffe oder Der Heuchler“ Sa 7.5./So 8.5., jew. 19 Uhr, am 7.5. gibt van Hove eine Einführung um 18.30 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten: T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de