Neustadt. Behinderte Frau musste im Café zur Toilette und sollte wegen eines unvollständig ausgefüllten Kontaktformulars 178,50 Euro zahlen.

Langsam schiebt Werner Braune den Rollstuhl über den Gerichtsflur in Hamburg. Seine Ehefrau sitzt darin, er nennt sie zärtlich „Madame“. Rozalia Braune hält ihren Gehstock umklammert. Vielleicht gibt ihr das etwas Sicherheit, denn die 87-Jährige bekommt nicht mehr alles mit – sie leidet unter Demenz. Vielleicht versteht sie nicht, was um sie herum passiert, warum die Kameras auf sie gerichtet sind. Und warum all diese fremden Menschen ihr so viele Fragen stellen.

Ihr Mann Werner Braune hingegen versteht sehr gut – und lässt kurz darauf im Gerichtssaal mit vor Zorn bebender Stimme keinen Zweifel, was er von der ganzen Sache hält. „Wir haben uns immer an alle Corona-Regeln gehalten, wir sind vierfach geimpft, und dann so ein Bußgeld“, wettert der Rentner aus Seevetal. „Wir Rentner werden mitunter behandelt wie kleine Kinder!“ Sein Rechtsbeistand, früher CDU-Abgeordneter im Bezirk Nord, streichelt ihm immer wieder beruhigend über die Schulter. Damit der Richter auch mal zu Wort kommt.

Prozess Hamburg: Corona – Ehepaar soll 178,50 Euro Bußgeld zahlen

Anlass für den Ärger: Die Eheleute sollten ein Bußgeld über je 178,50 Euro zahlen, weil sie ein Corona-Kontaktformular nicht ausgefüllt hatten. Viel Geld für den früheren Schlosser und die einstige Reinigungskraft. Gegen die Bescheide legten die Braunes Einspruch ein, am Dienstag hat das Amtsgericht verhandelt. Gegen Rozalia Braune regt der Richter mit Blick auf ihren gesundheitlichen Zustand gleich eine Verfahrenseinstellung an. Die Staatsanwaltschaft muss noch zustimmen. Bleibt Werner Braune, 86 Jahre alt. Und ziemlich in Fahrt.

Seit Jahren besuchen die Braunes mehrmals pro Woche das Backhaus Wedemann am Veritaskai, so auch am 1. Juni 2021. Bevor sie sich Kaffee und Kuchen schmecken lassen, gilt es ein Pro­blem zu lösen: Frau Braune, zu 100 Prozent schwerbehindert und Pflegestufe 4, muss sofort aufs stille Örtchen. „Sie sagte: Ich muss, ich muss. Ich war in Eile, weil ich mit Madame zum Klo musste. Ich hatte keine Zeit, den Corona-Kontaktzettel auszufüllen“, sagt Herr Braune. Nach dem Toilettengang habe er bestellt und den Zettel schlicht vergessen.

"So eine hohe, verrückte Strafe – das finde ich nicht richtig"

An diesem Tag aber überwacht der Harburger Verwaltungsangestellte Robert W. die Einhaltung der Corona-Auflagen. Damals müssen Gäste in gastronomischen Betrieben einen Mindestabstand von 1,5 Metern halten und auf einem Zettel ihre Kontaktdaten eintragen. Offenbar nimmt der Mann seine Aufgabe sehr ernst. Er geht mit einem Zollstock von Tisch zu Tisch, um die Abstände zu überprüfen, wie sich Werner Braune und der Zeuge Sven H. erinnern.

„Die Gäste mussten schon lachen“, so Werner Braune. Nichts mehr zu lachen haben die Braunes allerdings, als der Kontrolleur ihnen mitteilt, dass er ein Bußgeld gegen sie verhängen werde – weil die Eheleute den Kontaktzettel nicht ausgefüllt hätten. „Ansonsten hatte ich den Zettel für mich und meine Frau jedes Mal ausgefüllt“, sagt Werner Braune. „Eine kleine Verwarnung hätte ich akzeptiert. Im Alter wird man ja auch etwas vergesslicher“, sagt er. Er wolle da nichts beschönigen. „Aber so eine hohe, verrückte Strafe, wo wir doch alles gegen Corona getan haben, was man uns gesagt hat. Das finde ich nicht richtig.“

Prozess Hamburg: Kontrolleur habe Corona-Formular nicht akzeptiert

Die Braunes sind Stammgäste im Backhaus Wedemann und mit dem Personal perdu. Eine Mitarbeiterin habe für sie an jenem Tag einen Kontaktzettel teils ausgefüllt. Der Kontrolleur habe das Formular aber nicht akzeptiert. „Er meinte dann, was da stehe, das sei ja gelogen“, sagt Braune. Er klingt wütend. „Wir haben gute Beamte in Deutschland. Dieser hier war nicht gerade nett.“

An einen teilweise ausgefüllten Zettel kann sich Kontrolleur Robert W., am Dienstag als Zeuge geladen, jedoch nicht erinnern. Seine Aufgabe sei es gewesen, zu überprüfen, ob alle Gäste ihre Kontaktdaten hinterlegt hätten, sagt er. Er habe gesehen, wie die Braunes an jenem Tag draußen im Strandkorb saßen, vor sich Essen und Trinken.

Strenger Kontrolleur verteidigt sich vor Gericht

„Herr Braune hat auf meine Nachfrage bejaht, dass er sich und seine Frau eingetragen hätten.“ Doch als er bei der „Nachkontrolle“ den Kasten mit den Kontaktzetteln aller Gäste durchforstet habe, sei das Formular der Braunes nicht darunter gewesen. „Es hieß, dass die beiden regelmäßig dort seien. Das war für mich aber nicht entscheidend. Für mich war wichtig, dass der Zettel an diesem Tag dort war – und das war nicht der Fall“, so Robert W. Also habe er das Bußgeld verhängt.

Sven H., Angestellter des Backhauses, kennt die Braunes gut. Sie seien Stammgäste, und mittwochs sei immer Schnitzeltag. „Darauf freut sich Frau Braune ganz besonders“, sagt er. Er habe damals versucht, dem Beamten die Situation zu erklären: Dass Frau Braune schnell auf die Toilette musste und dass Herr Braune deshalb seine Kontaktdaten nicht habe abgeben können. Er habe dem Kontrolleur angeboten, in den Tagen zuvor korrekt ausgefüllte Kontaktzettel des Ehepaares vorzulegen. Doch der habe nicht mit sich reden lassen. Auf den von seiner Kollegin teilausgefüllten Zettel habe der Beamte mit den Worten „Der ist nicht komplett“ reagiert. Und überhaupt: „So geht das schon mal gar nicht.“

Kein korrektes Kontaktformular – Gericht spricht Ehemann frei

Er habe sich darüber geärgert, so Sven H. „Ich sagte, dass ich es nicht menschlich finde, ältere Personen so zu behandeln.“ Auch am vermeintlich zu geringem Abstand zwischen einigen Tischen habe der Beamte Anstoß genommen. „Er hat mit seinem Zollstock gemessen, nachdem die Gäste aufgestanden sind. Dann ist natürlich der Stuhl etwas nach hinten gerutscht, und dann passte auch der 1,5-Meter-Abstand nicht mehr.“ Auf ihn habe der Mann vom Amt „aggressiv und kleinkariert“ gewirkt.

Am Ende hilft die Justiz – das Gericht spricht Werner Braune am Dienstag frei. Grund: Die Vorschriften seien damals in Bezug auf den Zeitpunkt, wann der Kontaktzettel fertig ausgefüllt sein musste, nicht hinreichend konkret gewesen. Insofern hätte es auch gereicht, den Zettel mit den Kontaktdaten beim Verlassen des Backhauses zu hinterlegen. „Ich kann nicht feststellen, dass sie sich schuldhaft verhalten haben“, so der Richter. Grundsätzlich seien aber auch die Braunes als Stammgäste dazu verpflichtet gewesen, ihre Kontaktdaten zu hinterlassen – damit die Behörden im Falle eines Corona-Ausbruchs noch Wochen später hätten nachvollziehen können, wann wer wo gesessen habe.

Nach gut 40 Minuten schiebt ein erleichterter Werner Braune seine Frau aus dem Saal. Mit diesem Ausgang des Ordnungswidrigkeitsverfahrens habe er nicht gerechnet. „Ich dachte ja, dass wir beide jeweils noch 50 Euro aufgebrummt bekommen“, sagt er. „Aber der Richter war gut, da kann man nicht meckern.“