Hamburg. Nabu-Landesvorsitzende warnt vor Aktionismus und plädiert für Energiewende, die auf ökologische Wertigkeit von Flächen Rücksicht nimmt.

Bundeswirtschaftsminister Habeck nennt den massiven Ausbau erneuerbarer Energien „energiepolitischen Patriotismus“, und für seinen Porsche fahrenden Ministerkollegen Lindner ist grüne Energie nichts weniger als „Freiheitsenergie“. Die verbale Rechtfertigungs-latte für all jene, die gegenwärtig auf mögliche Zielkonflikte vor allem mit dem Artenschutz hinweisen, hängt daher hoch. Wer will in dieser historischen Notsituation, in der sich zum Klimawandel jetzt auch noch kriegsbedingte Versorgungsunsicherheit gesellt, als energiepolitischer Fahnenflüchtiger gelten?

Dabei besteht an der Notwendigkeit einer radikalen Energiewende überhaupt kein Zweifel. Trotzdem ist es keine kluge Lösung, wenn die handelnden Akteure die Freiheit von russischen fossilen Brennstoffen jetzt ad hoc und dabei sehr stark zulasten der Natur organisieren. Tatsächlich soll der geplante Ausbau von Windenergie- oder Fotovoltaikanlagen in Landschaftsschutzgebieten komplett ohne eine differenzierte Bewertung der ökologischen Wertigkeit von Flächen oder betroffenen Tierarten möglich sein. Doch anstelle von energiepolitischem Aktionismus wäre aktuell mehr Augenmaß in der Abwägung zwischen Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Artenschutz gefordert.

Energiewende: Artenschutz hat Verfassungsrang

Wenn das energiepolitische Totalversagen der Vorgängerregierungen jetzt durch beschleunigte Planung mit einem alles rechtfertigenden „überragenden öffentlichen Interesse“ dazu führen soll, dass der Artenschutz missachtet wird, ist das auch rechtlich relevant.

Artenschutz hat, anders als zum Beispiel das Autofahren, über Artikel 20a im Grundgesetz Verfassungsrang. Dort heißt es, dass „auch in Verantwortung für künftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung …“ geschützt werden. Zudem billigt der Koalitionsvertrag dem Erhalt der Artenvielfalt zu, nichts weniger als „eine Menschheitsaufgabe und eine ethische Verpflichtung“ zu sein. Genau! Allerdings hilft das Tieren und Pflanzen nur, wenn Worten Taten folgen.

Deutschland muss weniger Energie verbrauchen

Malte Siegert ist Landesvorsitzender des Naturschutzbunds (Nabu) in Hamburg.
Malte Siegert ist Landesvorsitzender des Naturschutzbunds (Nabu) in Hamburg. © Roland Magunia/Funke Foto Services

Perspektivisch wird Deutschland in der Lage sein, bis zu 80 Prozent des Energiebedarfs für Industrie, Haushalte, Handel und Mobilität durch erneuerbare Energien selbst zu decken. Es bleibt also – auch angesichts anstehender energieintensiver Umwandlung in wasserstoffbasierte Kraftstoffe – eine erhebliche Lücke. Will Deutschland tatsächlich frei von Importen aus politisch fragilen oder fragwürdigen Quellen werden und gleichzeitig Ziele wie den Artenschutz ernst nehmen, bleibt nur ein Weg: konsequent weniger zu verbrauchen. Warum sollten wir auch durch zukünftige Importe unfrei bleiben, statt durch sinnvolle Einschränkung komplett unabhängig zu werden?

Den steinigen Weg einer überfälligen Wende im Agrarsektor gehen vor allem konservative Kräfte nicht mit. Denn einzig von ökonomischen Interessen getrieben scheint die Forderung, hochwertige ökologische Vorrangflächen für den intensivlandwirtschaftlichen, pestizidbelastenden Anbau zu nutzen. So sollen Versorgungsengpässe durch den Wegfall russischer oder ukrainischer Getreideexporte ausgeglichen werden. Vor allem ein verringerter Fleischkonsum schlüge hingegen gleich zahlreiche Fliegen mit einer Klappe.

Energiewende: Lebensgewohnheiten müssen geändert werden

Rund 60 Prozent der gesamten Getreideproduktion gehen in die Futtermittelindustrie. Deren tierische Abnehmer benötigen global zunehmend mehr artenreiche Fläche und sind zudem durch die von ihnen produzierten klimaschädlichen Gase (Methan, Lachgas) für rund ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen zuständig. Ganz abgesehen von Tierwohlfragen oder dem immensen Wasserverbrauch, um ein einziges Kilo Fleisch zu erzeugen.

Um sowohl die Klimakrise, die Folgen des Ukraine-Krieges als auch das Artensterben in den Griff zu bekommen, müssen wir unsere Lebensgewohnheiten substanziell verändern. Wir müssen weg von fossilen Brennstoffen und gleichzeitig deutlich weniger problematische Lebensmittel oder unnötige Konsumgüter verbrauchen. Der aktuelle IPCC-Bericht sieht uns auf dem Weg zum unbewohnbaren Planeten. Bis zu einem nicht unerheblichen Grad haben wir die Hebel des Handelns noch in der Hand. Vor allem beim Artenschutz muss die Ampel dringend von Gelb auf Grün springen.