Kiel. Egal, wer die Wahl gewinnt: Schleswig-Holstein treibt den Umbau der Wirtschaft voran. Ein SPD-Kandidat und Gewerkschafter im Gespräch.

Er will Schleswig-Holstein in nicht einmal 20 Jahren klimaneutral machen: SPD-Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller. „Dafür investieren wir allein in den ersten drei Jahren eine zusätzliche Milliarde … in den Klimaschutz“, verspricht er im Wahlprogramm. Aber was lösen die Pläne bei den Menschen aus, die in der Industrie arbeiten und um ihren Job bangen? Losse-Müller und der Gewerkschafter Daniel Friedrich, Chef der IG-Metall Küste, im Gespräch.

Hamburger Abendblatt: Wie gut oder wie beschädigt ist die schleswig-holsteinische Wirtschaft durch die Pandemie gekommen?

Daniel Friedrich: In der Werftenindus­trie haben wir Insolvenzen erleben müssen, die maßgeblich mit coronabedingten Finanzproblemen zu tun hatten. Es gibt aber auch Krisengewinnler in der Medizin- oder Sicherheitstechnik. Durch das Instrument der Kurzarbeit haben wir in allen Branchen Beschäftigung sichern können. Die große Frage ist, ob jetzt genug Substanz da ist, um in die Zukunft zu investieren.

Thomas Losse-Müller: Gerade im Bereich der Dienstleistungen, in der Gas­tronomie und im Tourismus sind viele finanzielle Reserven aufgebraucht worden. Jetzt ringen die Unternehmen mit den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. Viele Firmen berichten von auffälliger Kaufzurückhaltung wegen steigender Preise. Das macht mir große Sorgen. Die Bundesregierung muss das weiter im Blick behalten und möglicherweise noch ein drittes Entlastungspaket auflegen. Ganz dramatisch wird es für die Bauwirtschaft, wo Roh- und Baustoffe fehlen. Dadurch können Betriebe zum Teil gar nicht mehr arbeiten.

Daniel Friedrich ist seit Dezember 2019 Bezirksleiter der IG Metall Küste.
Daniel Friedrich ist seit Dezember 2019 Bezirksleiter der IG Metall Küste. © Michael Rauhe / FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Hamburger Abendblatt: Haben Unternehmen die Zeit der Pandemie genutzt, um ältere oder nicht mehr so belastbare Mitarbeitende abzubauen und bestehende Arbeitsstrukturen zu verändern?

Friedrich: Ein Beispiel fällt mir direkt ein. Das ist Sihi in Tönning. In der Unternehmenszentrale in den USA stand der Standort schon lange zur Diskussion. Man hat hier die Krise ausgenutzt, um Tönning zu schließen. Oder nehmen wir Caterpillar, wo auch in den USA entschieden wurde, die Krise auszunutzen und die Produktion in Kiel und Rostock zu schließen.

Losse-Müller: In der Gastwirtschaft und im Freizeitbereich haben viele Beschäftigte die Betriebe in der Krise verlassen und kommen jetzt nicht wieder zurück. Das ist für uns als Tourismus-Standort ein echtes Problem.

Hamburger Abendblatt: In welchen Branchen registrieren Sie schon jetzt einen Mangel an Arbeitskräften?

Friedrich: Wir erleben das an allen Stellen. Die Gastronomie ist nur ein Beispiel. Konstrukteuren in der Metall- und Elektroindustrie wird teilweise richtig gut gezahlt. Im Bereich der Digitalisierung haben wir große Probleme, Fachkräfte zu finden. Wenn wir an die Zukunftsthemen Wind und erneuerbare Energie denken, wo zuvor in ganz Norddeutschland Betriebe geschlossen und Personal abgebaut wurde, ist die Frage, ob wir jetzt die benötigten Fachkräften wieder finden.

Losse-Müller: In allen Branchen gibt es einen ernsthaften Fachkräfte- oder Arbeitskräftemangel. Zum Beispiel in Kitas, Krankenhäusern, der Pflege. Was nicht hilft, ist, wenn sich jetzt ein Sektor attraktiver macht und Arbeitskräfte aus einem anderen abwirbt. Deshalb brauchen wir ganzheitliche Lösungsansätze. Die Ampel-Koalition will dafür die Zuwanderung von Fachkräften erleichtern.

Hamburger Abendblatt: Niemand kann sagen, wie lange Putins Krieg in der Ukraine noch dauert. Auch weiß niemand, wie viele Menschen, die zu uns geflüchtet sind, dauerhaft bleiben werden. Welche Rolle trauen Sie Geflüchteten zu auf dem Arbeitsmarkt im Norden?

Losse-Müller: Sie sind eine große Chance für uns. Wobei mir sehr wichtig ist: Entscheidend ist, dass die überwiegend geflohenen Frauen und Kinder bei uns Schutz bekommen. Da kommen erst mal keine Arbeitskräfte, sondern Menschen, die Hilfe brauchen. Wir müssen die Zuwanderung von Fachkräften davon unabhängig langfristig organisieren.

Friedrich: Die Menschen sind hier, weil sie Schutz und Sicherheit brauchen. Viele wollen zurück, sobald das geht. Es wäre ein Irrglaube anzunehmen, dass das Fachkräftethema so zu lösen ist. Wir müssen auch aufpassen, dass die Lage der Geflüchteten nicht ausgenutzt wird, dass sie nicht ausgebeutet werden. Die Politik muss dafür sorgen, dass Flüchtlinge nur zu vernünftigen Konditionen beschäftigt werden.

Losse-Müller: Ganz viele Ukrainer und Ukrainerinnen wollen sofort arbeiten. Das führt dazu, dass sie schnell in Jobs streben, für die sie überqualifiziert sind. Es gibt aber auch viele positive Beispiele wie das der Uniklinik UKSH. Dort wurden sofort ukrainische Ärzte und Pflegekräfte angestellt.

Friedrich: Das ist aber auch eine Frage der Anerkennung von Abschlüssen. Ärzte oder Krankenschwestern dürfen zum Teil bei uns nicht in ihren Berufen arbeiten – trotz guter Qualifikation müssen sie in andere Jobs ausweichen. Das kann nicht sein.

Hamburger Abendblatt: Was würden Sie als Ministerpräsident an dieser Stelle tun, Herr Losse-Müller?

Losse-Müller: Wir brauchen eine engere Zusammenarbeit zwischen Flüchtlingskoordinatoren, Jobcentern und Arbeitsagenturen. Viele Ukrainer sind privat untergekommen, das bedeutet, sie kommen in unserem System noch gar nicht vor. Wir müssen jetzt aktiv aufsuchend arbeiten.

Hamburger Abendblatt: Wechseln wir das Thema. Verstehen Sie, dass Arbeitnehmer in der Industrie die Energiewende nicht als Chance begreifen, sondern sich vor den Folgen der Dekarbonisierung sorgen?

Friedrich: Natürlich. Das ist erst einmal eine Veränderung. Und der begegnen viele zunächst mit Skepsis und sehen eine Gefahr. Es folgt die Phase, in der man die Chance erkennt. Politik, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen zusammenfinden, um gemeinsam durch Krise und Transformation zu kommen. Überall dort, wo wir den Beschäftigten sagen ,Wir wollen euch mitnehmen, euch qualifizieren, mit euch den Wandel gestalten‘, schaffen wir Akzeptanz.

Losse-Müller: Viele Beschäftigte sorgen sich, weil sie jetzt noch gute, tarifgebundene Arbeitsplätze haben. Wir müssen ihnen die Sicherheit geben, dass auch in den neu entstehenden Jobs Tariflöhne gezahlt werden. Als Landesregierung wollen wir deshalb das Tariftreuegesetz zurückbringen. Das sorgt dafür, dass öffentliche Gelder nur an Unternehmen gehen, die branchenübliche Löhne zahlen. Eine andere Sorge der Industriebeschäftigten ist, dass die Landesregierung nicht genug dafür tut, schnell ausreichend neue Energie bereitzustellen. Die Energiebedarfe sind sehr groß, die künftige Versorgung mit Gas ungewiss. Unternehmen fordern von der Landesregierung Sicherheit beim Ausbau der Erneuerbaren ein. Wenn uns das gelingt, bekommen wir auch neue, gute Arbeitsplätze nach Schleswig-Holstein.

Friedrich: Die Transformation kann nur gelingen, wenn die Menschen vernünftig bezahlt werden für gute Arbeit. Es ist aberwitzig, wenn der Staat die Tarifautonomie betont, aber bei eigenen Vergaben Unternehmen beauftragt, die sich den Tarifverträgen entziehen und billiger sind.

Hamburger Abendblatt: Also: Keine öffentlichen Aufträge mehr für Unternehmen, die nicht tariftreu ihre Beschäftigten bezahlen?

Friedrich: Ja, natürlich. Wir müssen einen der größten Fehler der letzten Landesregierung korrigieren. Die Menschen müssen so viel verdienen, dass sie davon ihre Miete zahlen können. Das heißt: gutes Geld für gute Arbeit.

Hamburger Abendblatt: Was würden Sie als Ministerpräsident tun, um die Transformation der Wirtschaft politisch zu begleiten, Herr Losse-Müller?

Losse-Müller: Wir werden Transformationsräte einrichten, in denen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat den Veränderungsprozess begleiten. Die Unternehmen brauchen Investitionssicherheit, der Staat muss die Infrastruktur der Zukunft ausbauen. Das sind Ladesäulen für E-Autos und Wärmenetze, und wir brauchen eine aktive Ansiedlungspolitik, die neue Unternehmen ins Land und an klimaneutrale Standorte holt.

Hamburger Abendblatt: Aktuell verdienen die Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner im Vergleich der alten Bundesländer am wenigsten. So haben die Menschen in Hamburg im Schnitt 1000 Euro im Monat mehr. Nennen Sie das gerecht?

Losse-Müller: Nein! Immerhin werden 300.000 Menschen in Schleswig-Holstein von der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro profitieren. Das müssen wir flankieren mit einem Tariftreuegesetz. Das Lohnniveau wird steigen, wenn es uns gelingt, neue Industrie anzusiedeln.

Friedrich: Wir können in Schleswig-Holstein stolz auf Tourismus an den Küsten sein. Aber für die Frage, ob und wie wir das durchschnittliche Entgeltniveau erhöhen, ist entscheidend, wie viel Industrie wir im Land haben. Wenn uns Neuansiedlungen mit guten Industrielöhnen gelingen, müssen andere Branchen nachziehen, wenn sie Fachkräfte halten wollen.

Hamburger Abendblatt: Herr Friedrich, ist es für einen Gewerkschafter selbstverständlich, mit der SPD aufzutreten und für sie zu werben?

Friedrich: Ich würde mit allen drei Spitzenkandidaten gemeinsame Interviews geben, ich arbeite mit allen Parteien gut zusammen, aber man merkt schon, wo es eine natürliche Verbundenheit und mehr inhaltliche Überschneidungen gibt. Wir sind parteipolitisch neutral, aber wir sind nicht unpolitisch.