Hamburg. Der Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge verrät, was Kinder mit Streitereien ausdrücken wollen und wie Eltern damit umgehen sollten.
Die meisten Eltern kennen das: Manchmal scheinen sich ihre Kinder fast pausenlos in den Haaren zu liegen. Da kann man schon manchmal verzweifeln. Muss man aber nicht, sagt der bekannte Erziehungsberater und Bestsellerautor Jan-Uwe Rogge. „Es ist ganz normal, dass Geschwister streiten, das hat nichts damit zu tun, dass Eltern etwas falsch gemacht haben.“ Warum Streit sogar wichtig ist, was die Kinder damit ausdrücken wollen und wie Eltern damit umgehen sollten, verrät Rogge in einer neuen Folge des Familien-Podcasts „Morgens Zirkus, abends Theater“.
Rivalität unter Geschwistern sei das Natürlichste der Welt. Das zu betonen, ist Rogge auch in seinem neuen Buch „Geschwister – eine ganz besondere Liebe“ wichtig, das er zusammen mit Alu Kitzerow und Konstantin Mantey bei Gräfe und Unzer veröffentlicht hat. Es sei eben so: Das erstgeborene Kind hat zunächst die volle Aufmerksamkeit der Familie. Wenn dann ein kleines Geschwisterkind kommt, dann will das seinen Anteil haben.
Familie: Geschwister streiten alle neun Minuten
„Manche Eltern machen die Erfahrung, dass es am Anfang noch gar keine Rivalität gibt“, sagt Rogge. „Wenn das jüngere Kind vier oder fünf Monate alt ist, noch nicht laufen und vielleicht auch nicht krabbeln kann, dann denkt das Ältere: Mit dieser Person werde ich fertig. Doch mit einem Mal steht diese jüngere Person auf und behauptet ihr Recht“, sagt Rogge. „Und dann geht es zur Sache.“
Wissenschaftler haben herausgefunden, so schreibt er es in seinem Buch, dass Geschwister im Schnitt alle neun Minuten streiten. Aus Sicht der Erwachsenen geht es da oft um Kleinigkeiten. „Das ältere Kind merkt: Meine kleine Schwester oder der kleine Bruder spielt mit MEINEM Spielzeug. Und auch wenn der Ältere dieses Spielzeug schon seit längerer Zeit gar nicht mehr angefasst hat, will er sein Recht auf einmal verteidigen.“
Hinter dem Streit steckt eine Botschaft
Oder das Jüngere kriegt viel mehr Aufmerksamkeit. „Dann muss das Ältere schon für sein Überleben sorgen und je jünger es ist, desto weniger macht es das mit verbalen Mitteln, sondern da geht es handfest zu“, sagt Rogge. Ein Hauptmotiv des Streits sei oft, dass die Älteren weiterhin gesehen werden wollen. „Darin steckt eine Botschaft: Nimm mich mal wahr, ich bin auch noch da.“
Wenig hilfreich sei es, an das Ältere zu appellieren: Du bist doch der Größere, kannst du nicht mal vernünftig sein? Das klingt so, als müsse das ältere Kind immer zurückstecken und das jüngere habe nie Schuld – und beides stimmt nicht. Der Altersunterschied zwischen den Kindern spielt eine Rolle. „Ein geringer Altersabstand – also beispielsweise zwei Jahre – kann heftig sein, weil das ältere Kind mit zwei Jahren gerade in der Trotzphase ist. Dann kommen Trotzphase und Rivalität zusammen. Von daher kann ein kürzerer Abstand eine Herausforderung sein“, sagt Rogge.
Kinder lernen durch Streiten wichtige Lektionen
„Auf der anderen Seite schützt ein großer Abstand nicht zwangsläufig vor Rivalität. Eine große Rolle spielen auch Temperament und Charakter der Kinder – und die Art der elterlichen Intervention. Wenn Eltern oder Großeltern die Rivalität als normal betrachten und nicht als Erziehungs- oder gar als Charakterfehler, dann können sie auch gut mit solchen Situationen umgehen.“
Denn: Streiten ist wichtig! „Die Auseinandersetzung der Geschwister ist für sie eine Schule des Lebens“, sagt Rogge. „Wo sollen sie das sonst lernen und tun als im geschützten Raum der Familie? Dadurch lernen Kinder, wie man sich auseinandersetzt und wieder verträgt. Wichtig ist, dass Streit immer zu einem Ende kommt, das möglichst allen Beteiligten gerecht wird.“
„Parteinahme ist immer problematisch“
Aber wie funktioniert das? Wie sollten Eltern mit dem Streit umgehen? „Parteinahme ist immer problematisch“, sagt Rogge. „Ich rate Müttern und Vätern, sich in das ältere Kind und seine Gefühlslage hineinzuversetzen. Wenn ein Geschwisterkind kommt, bedeutet das ja, dass das Ältere etwas abgeben muss, vielleicht ein bestimmtes Ritual, beispielsweise am Abend. In dem Moment, wo es etwas abgibt, sollte es im Gegenzug etwas bekommen.“
Rogge empfiehlt Eltern auch, konstruktiv zu sein. „Wenn das ältere Kind Grenzen überschreitet und sich anders verhält als früher, sollte man sich selbst fragen: Wozu macht es das? Was bekommt mein Ältestes, wenn es Grenzen überschreitet? Oft stellen wir dann fest, dass das Kind auf etwas aufmerksam macht, das wir im Alltag übersehen haben.“
Wenn es handgreiflich wird, müssen Eltern eingreifen
Klar ist: Eltern müssen eingreifen, wenn Gefahr in Verzug ist, wenn es handgreiflich wird. „Für mich ist aber entscheidend: Wie greife ich ein?“, sagt Rogge. „Wenn ich sofort auf das ältere Kind losgehe: Was machst du da schon wieder? Dann habe ich eine klare Parteinahme.“ Auch pauschal eine Entschuldigung einzufordern, bringe nichts.
Das jüngere Kind sollte zwar getröstet werden, aber nicht übermäßig. „Der Inder sagt: Zum Klatschen gehören zwei Hände. Auch das Jüngere hat seinen Anteil. Dann gehe ich mit dem Älteren in ein Zwiegespräch – aber nicht vor dem Jüngeren, das ist ganz wichtig. Ich ziehe mich mit dem älteren Kind zurück und erkunde, was es eigentlich will, was sein Anliegen ist und wie er es besser erreichen kann.“ Also vielleicht so: Wenn du etwas haben willst, dann frage doch.
Dem älteren Kind positive Signale schicken
Oder: Wenn du etwas nicht magst, dann sag Nein. „Es geht darum, dem älteren Kind positive Signale zu schicken und zwar so, dass es damit auch wirklich etwas anfangen kann.“ Wenn das ältere Kind hingegen vor dem jüngeren reglementiert werde, dann habe man zwar kurz Ruhe. Aber langfristig entwickelt das ältere Rachegefühle, die es auslebt, wenn Mutter oder Vater nicht dabei bin.
Zwischen Kindern herrscht auch große Verbundenheit, ein jüngeres Kind kann vom älteren eine Menge lernen. Aber es gibt auch Abgrenzung, und die hat ihren Sinn. Ja, sie ist notwendig: „Kinder wollen sich voneinander abgrenzen, zu einer eigenständigen Persönlichkeit werden. Dafür ist eine Auseinandersetzung auch da, und je jünger die Kinder sind, desto handfester tragen sie es aus. Das gehört dazu.“
Mit einem Geschwisterkind ändert sich Dynamik
Die Jüngeren müssen sich Platz erkämpfen. „Wenn ein zweites Kind kommt, ändert sich die Dynamik. Das System der bisherigen Familie wird durcheinandergeschüttelt und muss sich neu fügen. Auf der partnerschaftlichen Ebene, auf der Ebene von jeweils Mutter und Vater zu jedem der Kinder und der Kinder untereinander auch“, so Rogge. „Dass das nicht sofort in ganz glatten Schienen läuft, ist ganz normal. Eltern müssen für sich die Botschaft mitnehmen: Ihr macht da nichts falsch.“
Das Streiten hört meist nicht auf, aber es gibt drei Hochzeiten, in denen es besonders heftig hergeht, hat der Bestsellerautor („Kinder brauchen Grenzen“) ausgemacht. Die erste Phase: Das Kind ist in der Trotzphase oder im Kindergartenalter und der Säugling kommt, da gibt es viel Rivalität. Zweite Phase: Ein Kind ist im Schulalter, das jüngere im Kindergartenalter. „Da macht sich das Ältere über das Jüngere lustig: Der hat von Nichts eine Ahnung.“
„Meine Schwester darf viel mehr, das ist ungerecht“
Die dritte ist: Das älteste Kind ist in der Pubertät und das jüngere kommt gerade hinein. Grundregel: Immer wenn Kinder in unterschiedliche Entwicklungsphasen hineinkommen, wenn eines einen Sprung macht und das andere noch nicht, dann ist da eine Art Bruch. „Das Ältere hält gewissermaßen draußen Ausschau und bringt neue Erfahrungen in die Familie hinein, auch für das jüngere Geschwisterkind.“
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„Meine Schwester darf viel mehr, das ist ungerecht“, klagen jüngere Geschwister oftmals. Sie haben recht und auch wieder nicht. Denn Kinder, sagt Rogge, sind gleichwertig, aber nicht gleichrangig. „Das älteste Kind ist eben älter und darf mehr. Wichtig ist, jedem Kind auf seiner Position Achtung und Wertschätzung entgegenzubringen, aber nicht unbedingt stets gleich zu behandeln. Alle müssen die Möglichkeit haben, zu einer autonomen Persönlichkeit zu werden.
Familie: Im Zweifel beide Kinder anschimpfen
Und am Ende noch ein praktischer Rat der Autorin: Wenn alles nicht hilft, die Kinder lauthals streiten und man den Hergang nicht sofort ergründen kann, hilft es manchmal, beide anzuschimpfen. Nichts schweißt sie so stark zusammen. Sofort sind sie wieder ein Herz und eine Seele – und gemeinsam sauer auf ihre Mutter.