Hamburg. Gesa Ziemer leitet zwei Forschungslabore zur Zukunft der Stadt – und wünscht sich in ihrer Heimat mehr Mut für unkonventionelle Ideen.

Wie sich die Zeiten ändern – noch vor einem halben Jahrhundert schien der Westen die Welt zu sein. Die drei größten Städte des Planeten hießen New York (16,3 Millionen Einwohner), Tokio (14,9), London (10,5). Heute finden sich mit Tokio (39,1 Mio.), Jakarta (35,4 Mio.), Delhi (31,9 Mio.), Mumbai (23,4 Mio.) und Manila (23,9 Mio.) nur noch asiatische Metropolen unter den ersten fünf.

Die größte europäische Stadt London landet erst auf Rang 34. Und schon bald könnte Afrika die Liste der Metropolen dominieren. Das prognostiziert Gesa Ziemer, Professorin der HafenCity-Universität und akademische Leiterin von zwei Forschungslaboren – dem City Science Lab und UNITAC, das sich der internationalen Stadtforschung vor allem im globalen Süden verschrieben hat.

Stadtentwicklung: "Verstädterung nimmt rasant zu"

80 Prozent der Megastädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern befinden sich schon heute im globalen Süden. „Die Verstädterung nimmt weltweit rasant zu“, sagt Ziemer. Das liege daran, dass die Infrastruktur auf dem Lande oft extrem schlecht ist. „Wir gehen davon aus, dass die größten Metropolen in den nächsten Jahrzehnten vor allem in Afrika liegen werden. Lagos könnte auf 100 Millionen anwachsen.“ Ziemer sieht auch Städte wie Khartum im Sudan, Kinshasa (Kongo) oder Abidjan (Elfenbeinküste) vor einem Multimillionenwachstum.

„Eine Stadt mit 100 Millionen Einwohnern ist kaum zu regieren, weil sie zu groß und zu unterschiedlich ist. Gerade die sogenannten informellen Siedlungen wachsen immer weiter.“ Die Vereinten Nationen schätzen, dass 23 Prozent der Menschheit in Slums oder Favelas leben. Dafür gibt es viele Gründe: Demografie, soziale Ungleichheit, die Suche nach Arbeit. Rund die Hälfte der Bevölkerung in Afrika ist jünger als 20 Jahre. „Diese Städte haben es mit einer extrem jungen, agilen Bevölkerung zu tun und wachsen unkoordiniert in die Breite. Ihre Infrastruktur – ob Mobilität, Müllentsorgung, Wasser- oder Stromversorgung – ist oft komplett selbst organisiert.“

Hamburg plant Fünf-Minuten-Takt im Verkehr

Hamburg, vor einem guten Jahrhundert noch Nummer 13 unter den Weltmetropolen, ist da längst zur Provinzgröße geschrumpft. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen im Süden relativieren sich für die Stadtforscherin manche hiesige Debatten. „Wenn man in einer Stadt wie Hamburg wohnt, sieht man, wie gut organisiert unser Leben ist: Wir planen jetzt einen Fünf-Minuten-Takt im Verkehr.“

Innerhalb von fünf Minuten soll jeder in der Hansestadt ein Mobilitätsangebot erreichen, das ihn weiterbringt, egal ob es ein Bus, die Bahn, ein E-Roller oder ein Leihauto ist. „Das wirkt im globalen Kontext wie Luxus“, sagt Ziemer. In Kairo werden die Menschen an manchen Tagen dazu aufgerufen, aufgrund des Verkehrs gar nicht in die Stadt zu kommen. „Trotzdem müssen auch wir darüber nachdenken – denn 70 Prozent aller Emissionen gehen von Städten aus.“

"Hamburg gilt als ruhige, gemütliche Stadt"

Ziemer ist viel in der Welt unterwegs – und trifft auf unterschiedliche Hamburg-Bilder: „Unsere Stadt wird vor allem mit dem Hafen wahrgenommen – mit Wasser, sehr viel Grün und mit Ruhe. Hamburg gilt als ruhige, gemütliche Stadt, eigentlich als größeres Dorf. Das ist der klassische Blick.“

In Fachkreisen differenziere sich die Wahrnehmung: „Da gilt die Stadt national und auch international bei der Digitalisierungsstrategie und der sehr guten Datenlage als Vorbild.“ In noch einem Punkt wird Hamburg als führend wahrgenommen – bei der digitalen Bürgerbeteiligung. „Hier gibt es viele Tausend Menschen, die sich beteiligen und verantwortlich fühlen für ihre Stadt – sie gestalten als lokale Experten die Entwicklung wirklich mit“, lobt Ziemer.

Stadt muss sich autonom aufstellen

Mit ihrem Forschungslabor City Science Lab beschäftigt sich die 52-Jährige intensiv mit der Frage, wie sich Daten für Kommunen, die Stadtplanung und die Bürger nutzen lassen. „Hamburg profitiert davon, dass wir seit mehr als 15 Jahren in eine gute öffentliche, gemeinwohlorientierte Daten-Infrastruktur investiert und den Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung geschaffen haben“, sagt die Expertin. Dank des Transparenzgesetzes können die Bürger nicht nur den Stand von Baugenehmigungen einsehen, sondern zum Beispiel auch die Zahl der Straßenbäume abrufen, Denkmallisten einsehen oder historische Karten vergleichen.

„Es ist wichtig, dass eine Stadt sich gegenüber den großen Datenkonzernen wie Google autonom aufstellen kann, damit auch gute Zusammenarbeit möglich ist.“ Auch in der Stadtplanung hilft die Technik, sagt Ziemer: „Wie verändert sich die Stadt, wenn wir den Autoverkehr aus der City herausnehmen? Was könnten wir mit der freien Fläche machen, wenn wir keine Parkplätze mehr hätten? Das sind Szenarien, die man heute abbilden kann.“ Hilfreich sei das Labor auch bei großen Stadtentwicklungen. „Wenn wir ein neues Quartier bauen, können wir uns sofort relevante Informationen über den Stadtteil herunterladen: Brauchen wir mehr Kindergärten und mehr Schulen? Benötigen wir eine andere Anbindung an den öffentlichen Verkehr?“

Bauweise von Einwohnerzahl abhängig

Man könnte mit dem City Science Lab auch die Grenzen des Wachstums für Hamburg simulieren. „Das haben wir aber so noch nicht berechnet“, sagt Ziemer. „Es hängt davon, wie eng wir leben wollen. Wir haben jetzt gut 1,8 Millionen Einwohner. Wenn wir mehr werden, wird es enger. Das muss man wollen und dann anders bauen. Wir müssten in die Höhe gehen, Gebäude aufstocken.“ Das ginge sehr wohl, sagt sie. „Hamburg ist viel weniger verdichtet als München oder Berlin. Auch in München ist die Lebensqualität hoch.“

Manchmal wünscht sie sich, dass man schon bei der Planung der HafenCity ein City Science Lab gehabt hätte. „Dann wäre eine bessere Radinfrastruktur gebaut worden“, ist sie sich sicher. „Es ist schon verrückt, dass diese Idee vor 20 Jahren praktisch nicht existent war.“ Auch mit dem eher rar gesäten Grün hadert die Stadtforscherin. „Bis zum Lohsepark gab es praktisch keine richtige Grünfläche.“ Zudem würde man angesichts des Klimawandels heute stärker über Dachbegrünung und Fassadengestaltung nachdenken – oder über Bäume mit dichtem Blattwerk, die Schatten spenden.

Ziemer begleitete Olaf Scholz und Peter Tschentscher

In diesem Punkt könne die Stadt etwa von Singapur lernen, sagt Ziemer. Die Stadtentwicklungsexpertin hat nicht nur Olaf Scholz und Peter Tschentscher auf Delegationen begleitet, sondern arbeitet eng mit seinem Büro zusammen. Helsinki sei vorbildlich bei seiner Daten-Infrastruktur, Kopenhagen habe eine wegweisende Fahrradinfrastruktur und Zürich sei immer eine Reise wert, weil die Schweiz den besten öffentlichen Verkehr weltweit hat.

Mit Sorgen sieht die Expertin die „Monokulturen in den Innenstädten. Diese Problematik hat die Stadtforschung schon lange vor der Pandemie thematisiert.“ Corona habe die Probleme unter einem Brennglas konzentriert. Eine Innenstadt als rein kommerzieller Ort funktioniere nicht mehr: „Die öffentlichen Orte haben wenig Aufenthaltsqualität, es gibt kaum Schulen, zu wenige Wohnungen, zu wenig Grün. Eigentlich gibt es in der Innenstadt außer ein paar schönen Gebäuden und Geschäften gar nichts.“

"HafenCity und Innenstadt zusammen denken"

Mit der Verlagerung des Handels ins Internet gerieten große Flächen weiter unter Druck. „Das sehen wir in Hamburg bei Galeria Kaufhof und Karstadt Sport.“ Ziemer plädiert für eine kulturelle Nutzung der leer stehenden Kaufhäuser durch verschiedene Akteure. Sie stellt sich dort multifunktionale Räume vor – ein Ort könne zugleich Einzelhandel, Yoga-Schule, Volkshochschule, Kindergarten sein und abends zu einem Club werden. „Ich hoffe, dass die Eigentümer Lust auf Innovation bekommen und den Mut, sich mit anderen Akteuren vor allem auch aus der Kultur zusammenzutun.“

Ziemer hält für möglich, dass die HafenCity mit ihren kommenden Attraktionen wie dem Überseezentrum und dem Digital Art Museum im Elbbrückenquartier der City zunehmend Konkurrenz macht. „Wir haben über Jahre überlegt, wie wir die Leute von der Innenstadt in die HafenCity bekommen. Nun haben wir damit zu tun, dass in der HafenCity attraktive Orte entstehen. Wir müssen beides zusammen denken.“

„Untertunnelungen sind immer extrem teuer"

Allerdings schränkt sie ein: „Das ist in Hamburg nicht so einfach, weil die Speicherstadt wie eine schöne Wand dazwischensteht. Eine gute Mischung und pfiffige Mobilitätsangebote müssen Durchlässigkeit schaffen.“ Die immer wieder diskutierte Idee, die ehemalige Ost-West-Straße unter die Erde zu verbannen und damit die trennende Schneise zu überwinden, sieht sie skeptisch. „Untertunnelungen sind immer extrem teuer. Gute Fahrradverbindungen – auch in den Süden der Stadt – würden schon etwas bewirken.“

Fünf Fragen

Meine Lieblingsstadt ist vermutlich Tokio. Nicht, weil ich dort gern leben würde – das wäre mir zu anstrengend. Aber ich bin fasziniert davon, wie sich 39 Millionen Menschen in Tokio/Yokohama organisieren, bewegen und relativ friedlich miteinander leben können. Außerdem begeistert mich die japanische Architektur. Da können wir sehr viel lernen, vor allem, wie sich gut und elegant auf sehr engem Raum leben lässt.

Mein Lieblingsstadtteil ist seit meiner Jugend St. Georg. Dort fand ich es schon immer bunt, auch weil mir die queere Kultur gut gefällt. In Kombination mit Winterhude und dem Mühlenkamp ist die Lange Reihe mein Kiez. Dort entlang fahre ich jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Mein Lieblingsplatz liegt auf der anderen Seite des Alten Elbtunnels: Wenn man mit dem Fahrrad in Steinwerder herauskommt und auf Hamburg und den Hafen schaut, sieht man die schöne Silhouette der Stadt.

Mein Lieblingsgebäude ist die Alsterschwimmhalle. Da gefällt mir vor allem die interessante Form des Daches. Ich bin sehr gespannt, wie es nach der Sanierung aussieht. Mich faszinieren tolle Kon­struktionen, obwohl ich keine Ingenieurin bin.

Einmal mit der Abrissbirne … würde ich nichts tun, weil ich für Umbau bin. Generell reißen wir nicht nur in Hamburg, sondern in Deutschland zu viel ab. Es ist ökologisch sinnvoller, Gebäude zu sanieren. Dringend umgebaut werden sollte etwa das Parkhaus Rödingsmarkt. Hier könnte man sehr gut Wohnraum schaffen. Wir gründen gerade eine Stiftung für nachhaltiges Bauen in Hamburg und fänden einen solchen Umbau dort sinnvoll. Die faszinierende Rotunde müsste erhalten bleiben. Daraus könnte ein Park werden, ein öffentlicher Raum. Solche Projekte sind viel interessanter als Abriss und Neubau.

Um die Zukunft der Stadt ist ihr nicht bange. Schon kurz nach dem Ausbruch der Pandemie hatte sie betont, Corona biete „die Chance, die Gegensätze zwischen Stadt und Land zu mildern“. Sie fordert weiterhin eine engere Vernetzung. In der Metropolregion Hamburg könne man sehen, wie umliegende Orte mit einer guten Infrastruktur besonders profitieren. „Es wird wichtig, das Thema Mobilität auf dem Land auszubauen.“

Hamburg für junge Leute sehr attraktiv

Die Attraktivität der Großstadt bei jüngeren Menschen sei aber ungebrochen – junge Leute zwischen 20 und 35 drängten weiterhin nach Hamburg. Allerdings müsse die Stadt für alle attraktiv bleiben: Sie wirbt für mehr Mut im öffentlichen Raum und dafür, Areale nicht abzureißen, sondern umzubauen. „Warum tun sich nicht Unternehmen mit einem Verein oder einer Stiftung zusammen, um gemeinsame Projekte auf die Beine zu stellen?“

Da Hamburg Grundstücke vermehrt im Erbbaurecht vergebe und nicht mehr verkaufe, ließen sich solche Areale erhalten, sozial betreiben und niedrigere Preise für Wohnungen aufrufen. Zürich oder Berlin machten es vor, etwa beim genossenschaftlichen Wohn- und Arbeitsprojekt auf dem Gelände der ehemaligen Betonfabrik Hunziger oder die gemeinnützige GmbH Ex-Rotaprint auf dem Produktionsgelände einer Druckmaschinenfabrik im Wedding.

Stadtentwicklung: „Hamburg muss innovativer werden“

Solche Ideen setzen sich erst langsam in Hamburg durch – etwa beim Gröninger Hof, wo eine Genossenschaft das Parkhaus zu einem Wohn- und Arbeitshaus entwickelt. Auch das Gängeviertel hält Ziemer für ein gelungenes Beispiel. „Wir haben als Stadt extremes Potenzial, weil wir tolle Areale und Gebäude haben. Aber manchmal fehlt ein bisschen der Mut, es anders zu machen. Und es fehlt an Leuchtturmprojekten“, sagt die Stadtexpertin. Ihr Wunsch: „Hamburg muss innovativer werden.“