Hamburg. Ein Fotobuch zeigt die ungeschönte Realität. Das ist nichts für Zartbesaitete – aber das galt damals auch für das Hamburger Viertel.
Kaum ein anderer Hamburger Stadtteil ist so berühmt, so berüchtigt und so ein Klischee wie St. Pauli. Hafen, Hans Albers, Huren. Ein neues Buch des Fotografen Enno Kaufhold nimmt seine Leser jetzt mit auf die Reise in das St. Pauli von 1975 bis 1985.
Das ist kein nostalgischer Trip in die Zeit von vorgestern, sondern ein unverstelltes Dokument der harten Realität des einst hoch prekären und bettelarmen Stadtteils: wo Freier mit ihren „Mädchen“ Arm in Arm über die Herbertstraße spazierten, wo Menschen neben ihrem Erbrochenen lagen und der Goldene Handschuh das war, was er eben war: ein finsterer Trinkertreff, zu dessen Gästen auch der Serienmörder Fritz Honka zählte.
Buchtipp: Exzesse dominierten in St. Pauli
Für viele Touristen ist ein Besuch der Kneipe heute ein Muss. 50 Jahre früher hätte niemand bei Verstand nur einen Fuß in diese Enklave der Randständigen gesetzt. Und während St. Pauli heute einem gesellschaftlichen Gemischtwarenladen ähnelt, wo sich Studenten genauso zu Hause fühlen wie PR-Hipster und Punks, dominierten Mitte der 1970er-Jahre die Exzesse und Abgründe. Man musste schon unter Realitätsverirrung leiden oder verklemmt sein, um die Reeperbahn verniedlichend als „sündige Meile“ zu bezeichnen.
Kaufhold moralisiert dabei nicht, er beobachtet – und blickt tief hinein in die raue Lebenswirklichkeit eines Stadtteils, der heute ein ganz anderer ist. Ein schmuddeliges Viertel voll dunkler Hinterhöfe und trostloser Straßenfluchten. Wenn nicht mit „Oben ohne“ geworben wird, dann mit billigem Korn.
Fotobuch dokumentiert den Alltag des Stadtteils
Ein Obdachloser kriecht über die Reeperbahn; ein Hund macht auf die Straße, eine Frau mit verhärmtem Gesicht wirft Groschen in den Spielautomaten; nachts gibt’s Kartoffelpuffer im Imbiss an der Hein-Hoyer-Straße; ein Lude mit kleiderschrankgroßem Kreuz dackelt seinem „Mädchen“ hinterher. Und in einer „Peepshow“ auf der Reeperbahn wird gevögelt. Wer zahlt, darf zuschauen.
Das ist das alte St. Pauli, aber eben nicht nur. Denn die seitenfüllenden Schwarz-Weiß-Optiken dokumentieren auch die Normalität, den Alltag und das Selbstverständnis des Viertels, wo zwischen all den Verlorenen und Gestrauchelten, den Leuchtschildern und „Bums-Pärchen-nonstop“-Reklamen Grundschüler fröhlich herumwuseln und Mütter ihre Babys am Safari vorbeischieben.
Ein Viertel mit dem Versprechen auf Lusterfüllung
Hier die verhuschten, vom Suff gezeichneten Gestalten im Elbschlosskeller; da die beiden Kiezbewohner, die auf der Reeperbahn entspannt plaudern. Das Viertel mit dem Versprechen auf Lusterfüllung und Spaß hat wohl nie trister und verlassener ausgesehen als in Kaufholds Aufnahme des Hans-Albers-Platzes, wo sich die Lichter der Bars im nassen Kopfsteinpflaster spiegeln.
Kaufhold durchstreifte damals als Student der Kunst- und Fotogeschichte das Viertel Tag und Nacht, um mit versteckter Kamera zu fotografieren. Er zeigt viel nackte Haut, so sah es auf dem Kiez nun mal aus. An jeder Ecke standen Huren. Ihnen, „den Frauen auf St. Pauli“, hat er sein Buch gewidmet.
Buchtipp: St. Pauli authentisch abgebildet
Weder glorifiziert Kaufhold den Kiez der 1970er- und 1980er-Jahre, noch verdammt er ihn, er bildet St. Pauli und seinen Alltag ab, ohne Filter, ungeschönt, authentisch und intensiv.
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Wohl nicht umsonst hat der Fotograf auf einen Untertitel und weitere Informationen zu den Bildern verzichtet, vom Aufnahmedatum- und ort abgesehen. Sein Buch heißt schlicht „St. Pauli“ – und das ist es, was es ist.
„St. Pauli Fotografien 1975–1985“ Fotos Enno Kaufhold, 320 Seiten, Euro 49,90, erhältlich in der Hamburger Abendblatt-Geschäftsstelle und auf abendblatt.de/shop