Hamburg. Kim aus Hamburg ist eine von 980.000 Pfandsammlern in Deutschland: „Ich bin Tag und Nacht auf Flaschenjagd.“ So sieht ihr Alltag aus.
Eigentlich ist es zu kalt und auch noch ein bisschen zu früh. Kim ist trotzdem schon unterwegs. „Leere Flaschen findet man eigentlich immer“, sagt sie. Langsam kreist sie mit ihrem Fahrrad über den Hachmannplatz am Hamburger Hauptbahnhof. Immer den nächsten roten Abfalleimer im Blick. Es gibt ein gutes Dutzend. Solche mit einer großen Öffnung. Und die moderneren, in denen der Müll hinter einer Klappe verschwindet. „Da kommt man an nichts mehr ran“, sagt Kim und schüttelt verständnislos den Kopf. Sie interessiert sich nur für die Müllbehälter, die oben offen sind. Ein schneller Blick genügt, dann weiß sie meistens schon, ob sie einem warmen Essen ein Stück nähergekommen ist. Es ist der Blick, den alle Pfandsammler haben.
„Nee, das bringt nichts“, sagt die 62-Jährige kurzangebunden, als sie endlich eine Plastikflasche im Müll erspäht hat. Profi eben, es ist eine Speiseöl-Flasche. Darauf gibt es keinen Pfand. Außer Kim sind an diesem Märzvormittag noch einige andere Sammler mit großen Taschen rund um den Bahnhof unterwegs. Einmal gibt es fast Streit, als ein Mann drei Limonadenflaschen neben einer der Müllbehälter ansteuert. Kim ist schneller.
Hamburg Hauptbahnhof: „Dosen sind am allerbesten“
Die Glasflaschen verschwinden in dem roten Umhängebeutel, der an ihrem Fahrradlenker baumelt. Das sind drei Mal acht Cent Pfand. Immerhin. Sie hat auch schon eine große Einwegplastikflasche gefunden. Auf der Werteskala von Pfandsammlern stehen die mit einem Leergutwert von 25 Cent deutlich weiter oben. „Am allerbesten sind Dosen“, sagt Kim und klopft unten auf ihren Beutesack. „Die sind klein, leicht und bringen auch 25 Cent.“
Kim, die eigentlich anders heißt, lebt vom Flaschensammeln. „Das hat sich so ergeben“, sagt die Hamburgerin. So richtig will sie nicht rausrücken mit ihrer Lebensgeschichte. Im Moment habe sie Probleme mit dem Jobcenter, bekommt keine Grundsicherung. „Das ist privat“, wehrt sie Nachfragen ab. Eine eigene Wohnung hat sie im Moment auch nicht. Erstmal ist sie bei einem Bekannten untergekommen. „Sie können es Wohngemeinschaft nennen“, sagt Kim.
Mal sind es vier Euro, mal 30
Wohngemeinschaft – das klingt nach Rahmen und Struktur. Und Struktur gibt es in Kims Leben nicht viel. Auch deshalb macht sie sich täglich auf die Suche nach weggeworfenem Leergut, das sie zu Geld machen kann. So wie andere zur Arbeit gehen. „Ich bin Tag und Nacht auf Flaschenjagd“, sagt sie. Wie viel Geld sie am Ende in der Tasche hat, ist sehr unterschiedlich. Mal sind es vier Euro, aber an richtig guten Tagen können es auch 20 oder sogar 30 Euro sein. „Im Sommer ist es besser, wenn mehr Menschen draußen sind und trinken.“
Pfandflaschen sind bares Geld. In Deutschland gibt es etwa 980.000 Männer und Frauen, die im öffentlichen Raum einsammeln, was andere dort stehen gelassen haben. Knapp die Hälfte dieser fast eine Million Pfandsammler ist mehrmals in der Woche unterwegs, fast jeder fünfte sogar fast jeden Tag. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch viel höher. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag der sozialen Initiative „Pfand gehört daneben“ aus Hamburg, die erstmals wissenschaftliche Daten zur Situation von Pfandsammlern vorgelegt hat.
Viele leben nur vom Pfand
Bei der repräsentativen Umfrage hatte das Marktforschungsinstitut Appinio Ende vergangenen Jahres insgesamt 3000 Menschen zwischen 16 und 65 Jahren befragt. Außerdem wurden Gespräche mit 400 Pfandsammlern ausgewertet. Demnach gaben 28 Prozent von ihnen an, dass Flaschensammeln ihre einzige Einkommensquelle ist. Mehr als die Hälfte sagte, pro Tag zwischen null und vier Euro auf diesem Weg zu verdienen. Das ist deutlich weniger als die meisten Deutschen glauben und zeigt, wie mühselig – und auch unangenehm – das Sammeln von Leergut ist.
Dort setzt die Initiative „Pfand gehört daneben“ an, die drei Studenten vor zehn Jahren gegründet haben. Die Idee: Pfandflaschen sollten nicht mehr im Müll landen und niemand sollte in Abfalleimern danach wühlen müssen. Der Getränkehersteller Fritz-Kola hatte die Initiative von Anfang an unterstützt und 2015 übernommen. „Die Ergebnisse der Studie bestätigen uns in unserem Engagement“, sagt Mirco Wolf Wiegert, Gründer und Geschäftsführer der Hamburger Marke. „Sie zeigen, wie wichtig es für Pfandsammler ist, dass wir alle unsere Pfandflaschen nach dem Genuss unterwegs neben den Mülleimer stellen, statt sie reinzuwerfen.“ Dabei spielen für das Unternehmen neben den sozialen Gründen auch ökologische Gründe eine Rolle. Schätzungen zufolge landen jedes Jahr Pfandflaschen im Wert von 180 Millionen Euro im Müll.
Wie Fritz-Kola profitiert
„Es ist besser für unsere Umwelt und für uns als Getränkehersteller, wenn unsere Glasflaschen im Mehrwegkreislauf schnell zurückkommen“, sagt Björn Knoop, Sprecher von „Pfand gehört daneben“ und Leiter Nachhaltigkeit bei Fritz-Kola. Die Initiative wirbt mit Aufdrucken auf den Flaschenetiketten, mit Aufklebern und speziellen Flaschenregalen an Mülleimern dafür, Pfandflaschen – wenn man sie schon nicht an einen der Leergutautomaten zurückgibt – nicht achtlos wegzuwerfen.
Inzwischen zählen mehr als 100 Getränkeunternehmen wie etwa die Hamburger Brauerei Ratsherrn zu den Partnern, die in der Vergangenheit bereits wohnungs- und obdachlose Menschen mit Aktionen unterstützt haben. Ganz neu dabei ist die Brauerei Krombacher mit Sitz im nordrhein-westfälischen Kreuztal, die das „Pfand gehört daneben“-Logo künftig auf alle 0,33- und 0,5-Bierflaschen druckt. „Wir schätzen, dass wir bundesweit dadurch die Zahl der Flaschen mit dem Hinweis verdoppeln“, sagt Björn Knoop.
Corona traf die Sammler hart
Die Pfandsammler finden es gut. Gerardo Köpke von der Hamburger Organisation Gabenzaun kennt die Szene. Mehrmals in der Woche gibt die Wohnungslosenhilfe am Hauptbahnhof Essen aus. „80 Prozent unserer Gäste sind Pfandsammler“, sagt Köpke. Zahlen, wie viele Menschen sich in Hamburg mit dem Flaschensammeln über Wasser halten, gibt es nicht.
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Aber gerade an Hot Spots wie am Hauptbahnhof, auf St. Pauli, im Schanzenviertel oder an Alster und Elbe sind sehr viele Menschen mit großen Tüten unterwegs. „Da wird alles abgegrast, was einlösbar ist“, sagt der ehrenamtliche Betreuer. Die Pandemie habe die Pfandsammler in den beiden vergangenen Jahren hart getroffen. „Es waren viel weniger Menschen in der Stadt unterwegs.“ Sperrstunden und Alkoholverbote haben die Aufenthaltszeiten in der Öffentlichkeit deutlich reduziert – und damit die Zahl der Pfandflaschen.
„Klar gibt es manchmal Stress“
Dabei sehen sich die Sammler nicht als Almosenempfänger und grenzen sich klar von Bettlern ab. Bereits vor acht Jahren hatte sich der Soziologe Sebastian J. Moser in seiner Studie „Pfandsammler: Erkundung einer urbanen Sozialfigur“ mit dem Thema beschäftigt und festgestellt, dass nicht Armut die sehr heterogene Gruppe der Flaschensammler vereint, sondern die Sehnsucht nach einer Aufgabe, die an Arbeit erinnert.
Pfandpflicht |
Generell soll das Pfandsystem für Getränke einen Anreiz bieten, leere Flaschen und Dosen nicht wegzuwerfen, sondern in den Kreislauf zurückzuführen. Beim Mehrwegsystem werden die Flaschen nach Rücktransport und Reinigung wieder befüllt, Dosen wiederverwertet. Der Pfand ist nicht festgelegt, beträgt aber in der Regel für O,33 und 0,5-Liter-Glasflaschen 0,08 Euro. Einwegpfand (25 Cent) wurde 2003 für Mineralwasser- und Bierflaschen sowie für kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke in Plastikflaschen eingeführt. In den vergangenen Jahren wurde die Pfandpflicht auf immer mehr Getränke und Verpackungen ausgeweitet. Seit Januar 2022 gilt sie für sämtliche Einweggetränkeflaschen aus Kunststoff mit bis zu drei Litern Inhalt – nun auch für Fruchtsäfte und -schorlen. Ausgenommen sind Milchprodukte. |
Trotzdem ist das Image in der Öffentlichkeit nicht gut, teilweise haben Pfandsammler in Supermärkten sogar Zugangsverbote. „Klar gibt es manchmal Stress“, sagt auch Flaschensammlerin Kim. Aber davon lasse sie sich nicht abhalten. „Ich gehe eben nicht mit drei Rucksäcken in den Supermarkt, sondern teile mir das ein.“
Hamburg Hauptbahnhof: Der Stolz der Pfandsammler
Sie ist nicht die einzige, die sich als eine Art informelle Müllentsorgerin sieht. Nach der aktuellen Studie haben 59 Prozent der Pfandsammler angegeben, dass sie etwas für Natur und Umwelt tun. Weitere 27 Prozent sehen im Pfandsammeln einen Beitrag für die Gesellschaft. „Ich tue ja ein gutes Werk. Wenn ich die Flaschen zurückbringe, können sie nicht zerdeppert werden“, sagt Kim und schiebt mit ihrem Fahrrad weiter. Erstmal zum nächsten Supermarkt mit Leergut-Automat. Später will sie vielleicht noch auf die Reeperbahn. Irgendwas findet sie immer.