Hamburg. Nicht nur dabeistehen: Wir nehmen zu Hause eine geflüchtete Familie auf. Beide Seiten machen dabei interessante Erfahrungen.
Gestern Abend gab es bei uns wieder Borschtsch, den roten – zubereitet mit Roter Bete. Zuvor hatte Tanja bereits grünen Borschtsch gekocht, den sie mit Spinat herstellt. Wir lernen dieser Tage immer neue osteuropäische Gerichte kennen, denn Tanja kocht viel und ausgiebig.
Sie bereitet morgens Porridge zu, bestückt Obstteller für die Kinder und brät scharfe Hühnerflügel. Das gibt ihr etwas zu tun, eine Struktur für den Tag und die Möglichkeit, sich nützlich zu machen – oder , wie sie es ausdrückt, „hilfreich zu sein“. Wir können kaum so viel essen, wie sie zubereitet.
Ukraine-Krieg: Geflüchtete brauchen Geborgenheit
Seit einigen Tagen wohnt Tanja mit ihren beiden Kindern bei uns. Sie stammt aus der Ukraine und ist mit dem 17 Jahre alten Sohn Maksym und der neunjährigen Tochter Rita aus Winnyzja, rund 250 Kilometer südwestlich von Kiew gelegen, nach Hamburg geflüchtet. Oft sitzen wir zusammen am Küchentisch, manchmal putzt Tanja nebenbei Gemüse, und sie erzählt von der Flucht. Ihren Mann musste sie zurücklassen. Er darf wie alle ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen.
Schon kurz nach dem Ausbruch des Krieges haben wir uns entschlossen, Flüchtlinge aufzunehmen. Mein Mann und ich sind uns längst nicht bei allen Dingen einig, aber hier waren wir es. Die schrecklichen Bilder aus dem Krieg, das Leid der Flüchtlinge, der vielen Mütter und Kinder, die es über die Grenzen schaffen – da wollten wir nicht einfach zusehen, sondern etwas tun. Um denen zu helfen, die jetzt dringend nicht nur ein Dach über dem Kopf in der öffentlichen Unterbringung brauchen, sondern auch Geborgenheit.
Nicht mehr nur Beobachter sein
Bei uns haben wir wirklich sehr viel Platz. Wie könnten wir da nicht ein kleines bisschen zusammenrücken, um anderen ein Zuhause zu bieten? Aber auch uns hilft es, etwas zu tun, anstatt einfach nur die Bilder aus der Ukraine im Fernsehen zu verfolgen. Ins Handeln zu kommen, um diesen nie für möglich gehaltenen Angriffskrieg zu verarbeiten.
Dazu kommt ein anderes Motiv: Ich wollte nicht mehr nur als Beobachterin daneben stehen, so wie während des Flüchtlingszustroms 2015/16, als ich zwar viel als Journalistin für das Abendblatt berichtet und die Berichterstattung mit koordiniert habe. Erst hinterher ist mir klar geworden, dass ich zwar als Reporterin an dem Geschehen teilgehabt habe, aber nicht ganz persönlich als Mensch.
Zuerst nahm niemand Kontakt auf
Also: Dieses Mal nicht nur demonstrieren gehen, sondern Geflüchtete aufnehmen. Mein Mann und ich melden uns bei diversen Portalen an, mit dem Angebot, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Doch außer einer einzigen automatisierten Mail, die den Eingang unseres Angebots bestätigt, kam: gar nichts! Ähnliches berichten auch Leserinnen und Leser. Ganz offensichtlich liegt noch ein Schatz an privatem Wohnraum begraben, der bisher nicht gehoben wurde. Was seltsam ist. Wir jedenfalls wundern uns, dass niemand zu uns Kontakt aufnimmt.
Eines Nachmittags fährt mein Mann dann kurzentschlossen zum Ankunftszentrum in Rahlstedt, um zu schauen, ob er nicht helfen kann. Das Gelände, schildert er am Telefon, ist weitläufig, richtigen Zutritt bekommt er nicht. Er will schon wieder nach Hause fahren, als er Tanja mit Maksym und Rita trifft. Sie haben es mit dem Zug über Prag nach Hamburg geschafft und sich im Ankunftszentrum registrieren lassen. Er lädt sie ein, sich unsere Wohnung anzuschauen, und wenig später stehen sie vor der Tür.
Die Küche wird gemeinsam genutzt
Wir vereinbaren, dass sie ein paar Tage später einziehen, und beginnen unsere Wohnung umzubauen. Und fragen uns: Wie wird es sein, mit Fremden die Wohnung zu teilen? Wir richten für die Gäste zwei Zimmer im hinteren Bereich der Wohnung her, dazu gehört ein eigenes Bad. Eines der Zimmer ist eigentlich mein Homeoffice, die Abendblatt-Redaktion arbeitet nun schon seit zwei Jahren überwiegend von zu Hause aus. Ich habe mir ein richtiges Büro geschaffen mit Technik, wachsenden Stapeln von Blöcken, Material und gedruckten Zeitungen. Damit ziehe ich nun in den ersten Stock unserer Wohnung um, wo wir auch schlafen.
Unten wohnen die Ukrainer, oben wir, und die Küche nutzen wir gemeinsam – das ist der Plan. Die Kinder – unsere jüngere Tochter lebt noch bei uns, die ältere ist ausgezogen, aber noch gelegentlich zu Hause – finden die Idee, Flüchtlinge aufzunehmen, theoretisch super. Praktisch müssen sie sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass wir zu Hause nicht mehr unter uns sind. Mein Mann meint, wir leben jetzt wieder in einer WG, so wie früher. „Das wird spannend.“
Tanja spricht gut Englisch
Der Alltag muss sich erst einspielen. Zum Glück spricht Tanja gut Englisch, ihr Sohn beherrscht die Sprache einigermaßen. Wir erfahren, dass Fremdsprachen in der Ukraine anders gelehrt werden als bei uns. Die Lehrer legen mehr Wert auf das Schriftliche, auf korrekte Grammatik und weniger aufs Sprechen, die Verständigung. So braucht die neunjährige Rita eine Weile, bis sie sich traut, einzelne Sätze auf Englisch zu sagen.
Tanja ist von Anfang an wichtig, sich nützlich zu machen. Sie kocht gern und gut, und innerhalb kurzer Zeit übernimmt sie die Küche. Wir gehen zusammen einkaufen, der Kühlschrank füllt sich mit fertigen Speisen und Zutaten für weitere Mahlzeiten. Es sind so viele, dass Küchenchefin Tanja einen Teil der Lebensmittel und übrig gebliebene Gerichte nach draußen auf die Terrasse auslagert. „Ich habe Porridge vorbereitet“, sagt sie. Und am nächsten Tag: „Ich mache Pizza, wer möchte?“ Heute backt sie eine Quiche. Morgen soll es mit Fleisch gefüllte Teigtaschen nach ukrainischem Rezept geben.
Gäste aus Ukraine sind schon genesen
Doch kaum sind die Flüchtlinge da, hält die zweite weltweite Krise bei uns zu Hause Einzug: Nachdem wir Corona mehr als zwei Jahre lang getrotzt haben, steckt sich unsere 17-jährige Tochter nun doch an. Zuerst hat sie nur Halskratzen, dann Kopfschmerzen – und schließlich zeigt der tägliche Selbsttest zwei Balken an, sie ist positiv. Sofort rechnen wir nach, wen sie wann und wie nah getroffen hat. Die Gäste aus der Ukraine schreckt die Nachricht nicht. Sie sind – wie viele Flüchtlinge aus dem Land – zwar nicht geimpft, haben aber bereits Corona gehabt.
Tatsächlich hatten sie die Krankheit gerade eben überstanden, als der Krieg ausbrach. Die Infektion ist halb so schlimm, doch Corona macht die Situation in unserer Wohnung komplizierter. Unten wohnen die Ukrainer. Oben ist nun Quarantäne-Zone. Hier gilt Maskenpflicht. Hoch gehen – Maske aufsetzen. Runter gehen, Maske wieder abnehmen – das müssen wir erst einmal lernen. Meine Tochter kommt kaum aus ihrem Zimmer heraus, wir bringen ihr das Essen nach oben und versuchen, sie so gut es geht zu unterhalten. Von ihrem Bett aus lernt auch sie die ukrainische Küche kennen.
Tanja will schnell Deutsch lernen
Und wir unsere Gäste. Tanja und ihre Familie müssen sich erst mal in der Umgebung orientieren. Dort geht es zum Mühlenkamp, dahinter findet sich am Goldbekplatz ein schöner Spielplatz, hier ist die Bushaltestelle und wenn man dem Ufer der Alster folgt, kommt man in die Innenstadt. Tanja besucht bereits einen Deutschkursus, es ist ihr wichtig, so schnell wie möglich die Sprache zu lernen. Enttäuscht ist sie nur, dass die Flüchtlinge nicht stärker nach ihren Vorkenntnissen in die Kurse einsortiert werden oder danach, ob sie lateinische Buchstaben lesen und bereits Englisch beherrschen. Sie ist in Sorge, dass es nicht schnell genug vorangeht.
Auch ihre Kinder sollen so rasch wie möglich in die Schule gehen. Ich erkundige mich bei einer Behördenmitarbeiterin, die mir am Telefon freundlich das Prozedere erklärt. Gemeinsam mit Tanja setze ich E-Mails auf, um die Kinder für die Schule anzumelden. Tanja ist es wichtig, dass ihre neunjährige Tochter eine Klasse in der Nähe besuchen kann. Sie sorgt sich, dass das Kind quer durch die fremde Stadt in die Schule fahren muss. Derzeit hat Rita viel Langeweile und springt durch die Wohnung.
Selenskyj nicht so beliebt wie angenommen
Im Alltag müssen wir das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz erst ausloten. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig, dass immer jemand da ist – dort, wo wir zuvor unter uns waren. Doch Tanja ist sehr feinfühlig. Einmal kocht sie für uns und zieht sich dann zurück, damit wir allein zu Abend essen können. Im großen offenen Wohnbereich schließen wir eine Schiebetür, um dahinter etwas Privatsphäre zu haben, mal ein Buch zu lesen (ich) oder Gitarre zu spielen (mein Mann). Wir nehmen Tanja mit zu einem Konzert und trinken abends manchmal zusammen ein Glas Wein.
Der Platz in unserer Wohnung wird enger, unser Horizont dafür weiter. Bei unseren Gesprächen erfahren wir viel Interessantes. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, im Westen wie ein Held in strahlend weißer Rüstung gefeiert, hat in der Ukraine nicht nur Anhänger. Er hat sich bei seiner Wahl 2019 zwar als Mann des Volkes inszeniert, doch seine fragwürdige Verbandelung mit dem Oligarchen Ihor Kolomoiskij wird wenig thematisiert.
Tanja ist in Sorge um ihren Mann
Auch hat die Korruption, die Selenskyj zu bekämpfen versprach, das Land weiterhin fest im Griff, bevor der Angriff der Russen alles andere überschattete. Tanja fügt dem schwarz-weißen Bild von der Politik und der Situation in der Ukraine viele Grautöne hinzu. Aus ihren Worten klingt wenig Hoffnung, dass das Land in absehbarer Zeit wirklich frei sein wird, auch von der Herrschaft von Oligarchen und Korruption.
Ihr Mann ist in Winnyzja, muss aber (noch?) nicht kämpfen. Sie telefonieren regelmäßig. Vor ein paar Tagen gab es in der Stadt Raketenbeschuss, nur drei Kilometer von ihrer Wohnung entfernt. Tanja ist in Sorge. Auch wir verfolgen die Nachrichten nun mit anderem Interesse, fühlen uns unmittelbarer betroffen. Von unserer neuen Mitbewohnerin lernen wir, wie eng die Verflechtungen zwischen Ukrainern und Russen sind.
Der Krieg zerreißt Familien
Ihr Mann ist Russe, sie selbst hat einige Zeit in Moskau gelebt, bevor sie mit ihm in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Andere Verwandte wohnen noch in Russland. Der Krieg zerreißt auch Familien. Tanja wünscht sich, dass ihr Sohn hier in Deutschland studieren kann. Die Familie braucht über kurz oder lang eine eigene Wohnung. So wie sie es verstanden hat, übernimmt das Amt eine Miete von bis zu 750 Euro.
Das ist nicht eben viel, um auf dem Hamburger Wohnungsmarkt fündig zu werden, zumal das Amt zwar zahlt, die Flüchtlinge sich aber selbst eine Wohnung suchen müssen. Eine Freundin von Tanja ist ebenfalls mit zwei kleineren Kindern nach Hamburg geflüchtet. Sie ist derzeit bei einer Familie nicht weit entfernt, in Winterhude, untergekommen. Tanjas Idee ist, dass sie sich gemeinsam etwas suchen und dann immerhin 1500 Euro zur Verfügung hätten für eine Wohnung, in der die beiden Frauen mit den vier Kindern leben könnten.
Ukraine-Krieg: Jetzt ziehen auch Haustiere ein
Aber erst einmal bekommen wir zwei weitere Mitbewohner: Rita ist sehr tierlieb und todunglücklich, dass sie in der Ukraine ihren Hund und eine Katze zurücklassen musste. Die Neunjährige redet, berichtet ihre Mutter, Tag und Nacht von einem Vogel, den sie sich wünscht. Vielleicht ist es für sie, die sich nicht gut verständigen kann, am schwierigsten, sich in der neuen, fremden Umgebung einzuleben.
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So fährt mein Mann mit ihnen los und kauft erst einmal einen großen Vogelkäfig. Am Tag darauf ziehen zwei Nymphensittiche ein, die nun munter zwitschern. Rita will ihnen das Sprechen beibringen. Ob auf Russisch oder Englisch oder gleich auf Deutsch, das steht noch nicht fest.