Hamburg. Der langjährige Uni-Präsident Dieter Lenzen spricht über Russland, den Umgang mit Ängsten, die Fehler der Politik und Bildung.

In „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg, unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und der ehemalige Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um den Krieg in der Ukraine.

Hamburger Abendblatt: Die eine große Krise, die Pandemie, ist noch nicht überstanden, da befinden wir uns in der nächsten, von der niemand weiß, wohin sie uns führt und die viele Menschen besorgt.

Dieter Lenzen: Die Menschen haben unterschiedliche Ängste. Bei den ganz Alten resultieren sie aus der unmittel­baren Kriegserfahrung während oder am Ende des Zweiten Weltkrieges. Bei anderen werden Erinnerungen wach an das, was ihre Eltern oder Großeltern vom Krieg erzählt haben. Und die jüngere Generation ist erschüttert, dass so etwas im Jahr 2022 überhaupt passieren kann. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt: Es gibt heute Generationen, die nur eine Zeit des Friedens kennen und alles gehabt und bekommen haben, was man sich nur vorstellen kann. Sie werden plötzlich damit konfrontiert, dass das alles eben nicht selbstverständlich ist. Sie müssen jetzt lernen, dass die Welt nach diesem Krieg eine andere sein wird, auch wenn wir noch nicht wissen, wie anders.

Der Präsident der Universität Hamburg: Prof. Dieter Lenzen.
Der Präsident der Universität Hamburg: Prof. Dieter Lenzen. © HA | Andreas Laible

Wie kann man mit diesen Ängsten umgehen?

Lenzen: Sich mit den Ängsten zu konfrontieren ist ganz wichtig. Man muss einerseits in Gesprächen mit anderen versuchen, das Irrationale zu rationalisieren, und andererseits selbst in eine Handlungssituation kommen. Wie wäre es eigentlich, wenn 40 Millionen Deutsche am nächsten Wochenende an einer Demonstration teilnehmen würden, um Putin klarzumachen: Du triffst auf einen Widerstand, den du in deinem Leben noch nie erlebt hast? Wir müssen uns klar werden, dass wir etwas unternehmen können, man nennt das in der Psychologie Selbstwirksamkeitserwartung: Ich kann etwas, und ich werde auch etwas bewegen. Solange ich das nicht glaube, bin ich das Opfer meiner Angst.

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Sie sagen, man muss versuchen, das Irrationale rational zu machen. Das fällt natürlich gerade im Umgang mit Putin schwer, insbesondere, wenn man seine letzten Auftritte und Aussagen gesehen hat.

Lenzen: All das, was Putin jetzt sagt und macht, hätte man wissen können. Er hat das in verschiedenen Texten und Reden in den vergangenen Jahren formuliert, so wie Adolf Hitler seine Pläne in „Mein Kampf“ niedergeschrieben hat. Ich würde dringend raten, ihn ernst zu nehmen und davon auszugehen, dass Putin ein vollkommen moralfreier Mensch ist, so, wie es Hitler auch war.

Das Kernproblem in Deutschland war in den vergangenen Jahren, dass mindestens Teile der Politik das nicht so gesehen haben, dass Warnungen vor Putin ignoriert wurden. Obwohl Russland 2014 die Krim annektiert hat, haben wir in Deutschland noch Nord Stream 2 auf den Weg gebracht, eine Gaspipeline, die man auch objektiv betrachtet nicht braucht.

Lenzen: Das ist ein Kapitel der deutschen Geschichte, das man genau aufarbeiten muss, vor dem Hintergrund, was damals eigentlich genau geschehen ist, Stichwörter sind Erpressung und Bestechung. Die grundsätzliche Frage ist aber, und das betrifft die Ära Angela Merkel: Warum hat deutsche Politik geglaubt, Putin zu verstehen, nur weil die Bundeskanzlerin Russisch kann? Es ist ein Totalversagen deutscher Politik vor dem Hintergrund der Realitäten, die man einfach nicht wahrgenommen hat oder nicht wahrnehmen wollte, in einer Art von kindischer Naivität.

Die Gaspipeline Nord Stream 2 wurde auf den Weg gebracht, obwohl Putin im Jahr 2014 die Krim annektiert hat.
Die Gaspipeline Nord Stream 2 wurde auf den Weg gebracht, obwohl Putin im Jahr 2014 die Krim annektiert hat. © dpa | Bernd Wüstneck

Naivität ist auch das erste Wort, das mir dazu einfällt, und es ist erstaunlich, wie man im Licht der aktuellen Ereignisse zu einer anderen Bewertung der Ära Merkel gelangen kann. Wie kommen wir jetzt aus dieser Situation wieder heraus? Was können wir dafür tun, dass die europäische Sicherheitsordnung nicht noch weiter ins Wanken gerät?

Lenzen: Ich traue mir nicht zu, diese Fragen zu beantworten, ich würde gern nur über die Menschen sprechen, um die es in diesem Konflikt zuallererst gehen sollte. Was wir versuchen müssen, ist, die russische Bevölkerung zu erreichen, um ihr klarzumachen, wo wir in diesem Zusammenhang stehen und was ihr Führer gerade macht. Wir müssen über verschiedene Kanäle probieren, die Menschen dort zu erreichen, auch wenn das immer schwieriger wird. Das Wichtigste sind aber Massendemonstrationen in unserem Land, auch, um die eigene Bevölkerung aufzurütteln. Die guten Zeiten sind vorbei.

Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Treffen im Kreml kurz vor der Invasion.
Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Treffen im Kreml kurz vor der Invasion. © dpa | Mikhail Klimentyev

Meinen Sie denn, dass die Bevölkerung noch nicht aufgerüttelt ist? Spätestens jetzt muss doch jeder verstanden haben, dass es die Welt, in der wir uns mehr oder weniger von gut meinenden Nachbarn umgeben gesehen haben, nicht gibt. Jetzt muss es doch darum gehen, dass Deutschland eines erkennt: Wenn es um Moral geht, darf es nicht nur bei Worten bleiben. Wir haben lange stark geredet und schwach gehandelt, es müsste anders sein.

Lenzen: Da ist etwas dran. Die ständige Androhung von massivsten Sanktionen, wie wir sie in den Wochen vor dem Krieg erlebt haben, wirkt etwas hilflos, wenn sich am Ende herausstellt, dass diese Sanktionen wenn überhaupt nur mittel- oder langfristig ihre volle Wirkung entfalten. Zudem hat sich Putin mit seiner Umgebung auf diese Sanktionen vorbereitet, der ist ja leider nicht blöd. Wir haben uns leider als Staat nicht auf das Schlimmste vorbereitet, dieses sogenannte Resilienzdenken gibt es in unserem Land fast überhaupt nicht. Mein Musterbeispiel ist immer die Demontage von Sirenen. Glauben denn die Menschen ernsthaft, dass es keine Luftkriege mehr gibt?

Was hat das eigentlich alles mit Bildung zu tun? Im Jahr 2022, in unserer aufgeklärten Gesellschaft, konnte man sich doch nicht vorstellen, dass dasselbe passiert wie in den Jahrhunderten zuvor: ein Angriffskrieg zum Beispiel. Wir haben alle gedacht, dass wir diese Zeiten hinter uns gelassen haben. War auch die Aufklärung nur ein Trugschluss, eine große Lüge?

Lenzen: Die Formulierung, dass dieser Krieg kein Krieg des russischen Volkes gegen andere Nationen ist, halte ich für richtig. Mit anderen Worten: Jetzt auf dem russischen Bildungssystem herumzuprügeln, ist der falsche Weg. Der Umstand, dass Menschen wie Putin so an die Macht kommen und Stück für Stück ihre eigene Bevölkerung als Entscheidungsträger ausschalten können, ist schon erschreckend. Aber schauen wir uns selbst an: Sind wir sicher, dass in unserem Land so eine Figur nicht nach oben käme? Würden wir darauf jeden Preis wetten? Wir haben Glück gehabt, dass in den vergangenen Jahrzehnten niemand versucht hat, diesen Weg zu gehen, und wenn, dann waren es lächerliche Personen. Auch wir sind durch unsere Bildung und Aufgeklärtheit nicht geschützt vor solchen Prozessen. Hätten wir die Sicherheit, dass wenigstens die intellektuelle Elite, dass alle Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufstehen würden, wenn so etwas bei uns drohen würde und Widerstand leisteten? Nein, mit Sicherheit nicht. Es gibt einfach zu viel Bequemlichkeit, die Bereitschaft, nicht genau hinzuschauen ist groß, die Vorstellung, was schlimmstenfalls passieren kann, ist zu klein.

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gilt als Freund Putins.
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gilt als Freund Putins. © dpa | Alexei Druzhinin

Jetzt prügeln Sie aber auf der nachwachsenden Generation in Deutschland herum.

Lenzen: Das will ich nicht, zumal diese Generation von uns Älteren so erzogen worden ist, wie sie erzogen worden ist. Unsere Erziehung hat nur das Gute betont, so, als ob es das andere, das Böse, nicht gäbe.

Dann sind wir tatsächlich nicht weiter als vor 100 Jahren?

Lenzen: Die intellektuelle Elite vor 100 Jahren war natürlich deutlich kleiner als heute, das macht schon einen Unterschied aus. Aber das gilt natürlich auch immer für die Gegner, denken Sie nur daran, wie stark Russland mit den Instrumenten des Internets operieren kann, und das seit Jahren tut. Es ist auch müßig, darüber nachzudenken, ob wir jetzt weiter sind als vor 100 Jahren. Wir sind da, wo wir jetzt sind, und da müssen wir so schnell wie möglich raus. Und dabei spielen Bildung und Aufklärung für die nächsten Generationen natürlich eine wesentliche Rolle.

Und ganz akut für kleine Kinder und Jugendliche.

Lenzen: Wir müssen aufpassen, dass sie nicht zum Opfer unserer eigenen Angst werden. Wir müssen jetzt zusammenstehen und Mut zeigen, damit die Verzweiflung nicht auf die jüngere Generation übergreift.

Was würden Sie als Erziehungswissenschaftler Eltern in diesen Kriegszeiten raten?

Lenzen: Es ist so, dass Kinder einen angeborenen Verdrängungsmechanismus haben und das alles nicht so sehr an sich herankommen lassen. Manches verstehen sie auch einfach nicht. Aber sie spüren natürlich die Angst ihrer Umgebung, ihrer Eltern und Lehrer. Die haben die Verantwortung, Zuversicht zu verbreiten, selbst wenn sie davon nicht zu 100 Prozent überzeugt sind.