Hamburg. Die Lage bei der Sopranistin und dem Dirigenten scheint eindeutig, es bleibt die Frage: Was ist mit anderen russischen Künstlern?

„Sie ist richtig“, urteilte Vizekanzler Robert Habeck über die Entscheidung, Waffen in die Ukraine zu liefern. „Aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner.“ Vor einem ähnlichen, anders gelagerten Dilemma steht jetzt die Kulturlandschaft, international, national, bis hinab ins Regionale. Wie umgehen mit, wo entlang in dem Themen-Minenfeld Politik und Kunst, Krieg und Friedenswillen, Macht und Ohnmacht? Welche Weichen muss man stellen, welche Sackgassen umgehen?

Zwei Weltstars der Klassik, die sich gar nicht oder klar uneindeutig von Vladimir Putin und seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine distanzierten, sondern das Schweigen vorzogen, wurden (beziehungsweise: haben sich) bereits isoliert. Jenseits der Grenzen von Putins Russland sind die globalen Karrieren von Gergiev und Netrebko jetzt wohl vorbei. Was wird nun aus vielen russischen Künstlerinnen und Künstlern, die, weniger prominent, weit unterhalb dieser Honorarsätze spielen und leben wollen und müssen? Die ihre Kunst ausüben und anderen vermitteln wollen, weil das nun mal ihr einziger Lebensinhalt ist.

Krieg gegen die Ukraine: Netrebko profitierte bislang vom Zweitpass

Ist Schweigen zu bohrenden Nachfragen, wie man es mit Putin hielt, hält und halten wird, bereits Ausdruck unmoralischer Mittäterschaft, während sie vielleicht Verwandte in Russland haben und sie alle nicht mal eben, wie Anna Netrebko es möglich gemacht wurde, den österreichischen Zweit-Pass zücken können?

Jahrelang hat sich insbesondere der als hehr, wahr, schön und moralisch fleckenlos inszenierte Klassik-Bereich vor unangenehmen Fragen und noch unangenehmeren Antworten gedrückt, sehr kollektiv. Oft sah man lieber nicht so genau hin, während eine Hand die andere mit Terminen, Glanz und Gagen versorgte. Fehler wurden auf allen Seiten begangen. Was es, klar, nicht besser macht.

Gergiev wurde ein kurzes Ultimatum gestellt

In München ist es so wohlfeil wie richtig gewesen, Gergiev ein sehr kurzes Ultimatum zur Distanzierung von Putin zu stellen, genau wissend, dass er die Spitze eines von ihm maßgeschneiderten, lukrativen Musik-Macht-Systems ist. Wes Brot er aß, des Loblieder ließ er singen. Es war aber auch scheinheilig, weil Gergievs Gesinnung auch weit vor der Vertragsverlängerung bis 2025 bekannt war. Der gleiche Münchner OB, der ihn – in einem arbeitsrechtlich womöglich problematischen, moralisch fraglos korrekten Alleingang – rauswarf, hatte ihn vor wenigen Monaten bei der Eröffnung der Isarphilharmonie als „Glücksfall“ für seine Stadt bezeichnet. Die Krim war bereits seit Jahren besetzt.

Geschichte wiederholt sich nicht ständig, doch sie erteilt hin und wieder Lektionen, die man nicht ganz vergessen sollte: Vier Jahre, bevor der deutsch-schweizerische Dirigent Karl Muck in Hamburg die Leitung der Philharmonischen Konzert übernahm, war er 1918 in den USA als „enemy alien“ interniert worden. Muck war seit 1912 Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra gewesen. Seine deutsche Herkunft und eine schnell eskalierende Affäre um die Frage, ob er sich tatsächlich geweigert habe, die US-Hymne vor Konzerten zu dirigieren, brachten ihn hinter Gitter, bis er 1919 ausgewiesen wurde. Dass sich der langjährige Bayreuth-Aktivposten Muck später in Hamburg zum glühenden Hitler-Bewunderer entwickelte, gehört allerdings ebenfalls zu dieser Biografie.

Currentzis in Elbphilharmonie eingeladen

Zu Ostern hat die Elbphilharmonie den Dirigenten Teodor Currentzis, einen gebürtigen Griechen, eingeladen, ihn und seine Ensembles, mit denen er nicht mehr in der Ural-Metropole Perm, sondern in St. Petersburg arbeitet, auch mit westlichen Musikerinnen und Musikern. Unter welchen Bedingungen, mit welchen Distanzierungen oder welcher Nähe zur Regierung und den Scheckbüchern von Oligarchen das dort geschieht – von hier aus arg schwer zu beurteilen.

Ab wann und bis zu welchem Punkt sollen und dürfen heute also Haltungsüberprüfungen stattfinden? Der russische Pianist und chronische Putin-Bewunderer Denis Matsuev ist als Gastsolist für das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und GMD Kent Nagano wegen der „akuten politischen Entwicklungen nicht mehr vertretbar“ gewesen. Nachnominiert wurde Rudolf Buchbinder. Ein Österreicher, der für seine Gesamtaufnahme eines der Beethoven-Klavierkonzerte mit Valery Gergiev am Dirigentenpult der Münchner Philharmoniker eingespielt hat. Was nur zeigt: Vieles ist ganz einfach, und auch schwer klar zu differenzieren. Diese Grauzonen bereiten Schmerzen.

„Das Problem ist nicht Puschkin"

Jetzt beginnt eine Zeit, in der neben versuchten Balance-Akten auch Pauschal-Überreaktionen zu beobachten sind. Täglich neue Beispiele: Der ukrainische PEN-Club hat zum Totalboykott russischer Literatur aufgerufen. „Das Problem ist nicht Puschkin. Das Problem heißt Putin“, entgegnete danach der deutsche PEN-Präsident Deniz Yücel. Namenspate des Cliburn-Klavierwettbewerbs – was für eine Ironie – ist ein texanischer Pianist, der 1958, mitten im Eiskalten Krieg, sensationell den ersten Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewonnen hatte.

Dieser Wettbewerb verkündete nun, russische Teilnehmer zuzulassen. Gleichzeitig verbarrikadierte die Dublin Piano Competition diese Tür zum Dialog, ebenso kategorisch. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz will nicht mehr mit russischen Kulturinstitutionen zusammenarbeiten. Andere Museen könnten folgen. Ausladungen und Kultur-Sanktionen hier, Kontaktrettungsversuche dort, und umgekehrt.

"Ich hasse es, was in der Ukraine vor sich geht"

Nachdem Paavo Järvi, 1962 noch in der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren, zwei Tage nach Kriegsbeginn in Moskau das Nationale Russische Jugendorchester dirigierte, entgegnete er der Kritik, wie könne erst recht er, ein Künstler aus dem Baltikum: „Diese jungen Menschen sollen und können nicht für das barbarische Vorgehen ihrer Regierung bestraft werden. Als Mensch und als Este hasse ich, was in der Ukraine vor sich geht. Ich verurteile entschieden das Vorgehen der russischen Regierung und Putins“. Deswegen habe er das Konzert „im Geiste des Trotzes, der Solidarität mit diesen jungen Künstlern und im Geiste der Unterstützung und Solidarität des ukrainischen Volkes“ gegeben.

Welchen Sinn – außer das demonstrative, sicher auch ratlos verzweifelte Schwenken von ideellen Fahnenmästen – macht es, ab sofort Musik von Tschaikowsky als Geste der Solidarität vom Programm zu nehmen, wie inzwischen mehrfach geschehen?

Der Krieg und die Kultur: „Boris Godunov“ wurde gestrichen

Seine künstlerische Orientierung nach Westen war deutlicher als die viele seiner anders nationalistischen Komponisten-Zeitgenossen, zudem war er homosexuell und lebte das, im engen Rahmen der Möglichkeiten aus. Historisch brauchbare Idole sähen für Putin und Gergiev garantiert anders aus. Das Opernhaus in Warschau hat Mussorgskys „Boris Godunov“ als Protest-Signal gestrichen, die Geschichte eines machthungrigen russischen Zars. Die allerdings tödlich für ihn endet.

Mit kulturellen Sanktionen die Richtigen treffen zu wollen, aber auch Falsches zu tun – das ist die große Gefahr, mit der die Kulturwelt sich nun auf unabsehbare Zeit auseinanderzusetzen hat.