Hamburg. Die Erhöhung der Zuschauerzahl hat zu einem handfesten Krach bei SPD und Grünen geführt. Dahinter schwelt ein grundsätzliches Problem.

Dass sich die Fraktionen in der Bürgerschaft per Pressemitteilung zu mehr oder weniger bedeutenden Themen äußern, ist Teil des Politik-Alltags in Hamburg. Da wird gefordert, angekündigt oder einfach mal der Senat gelobt – an manchen Tagen verlassen Dutzende solcher Meldungen das Rathaus.

Am vergangenen Sonntag gingen aber zwei Mitteilungen in den Redaktionen ein, die alles andere als gewöhnlich waren. Denn sie legten nicht nur einen Zwist im Regierungslager offen, sondern deuteten auch auf ein tief sitzendes Problem in der rot-grünen Koalition hin.

Sport in Hamburg: Wieder mehr Zuschauer erlaubt

Was war passiert? „Es ist an der Zeit, den Fans jetzt entgegenzukommen“, forderte die Grünen-Fraktion um 10.56 Uhr. Ihre sportpolitische Sprecherin Maryam Blumenthal freute sich in der Mitteilung über den Beschluss der Ministerpräsidenten-Konferenz (MPK), wonach im Zuge der Lockerung der Corona-Maßnahmen vom 4. März an wieder bis zu 25.000 Zuschauer bei überregionalen Großveranstaltungen zugelassen sind – bislang sind es 10.000. Mit Blick auf das Pokal-Viertelfinale des HSV am 2. März gegen den Karlsruher SC spreche man sich dafür aus, diese Regelung vorzuziehen, angesichts der Corona-Lage in Hamburg sei das „vertretbar“. Zusätzliches Gewicht bekam der Vorstoß, da Blumenthal zugleich die Landesvorsitzende der Grünen ist.

Was im Lager der HSV-Fans Freude ausgelöst haben dürfte, sorgte innerhalb der SPD hingegen für steigenden Puls – nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des Stils. Denn solch eine Regelung, so die SPD-Lesart, sei längst auf dem Weg gewesen: Am Donnerstag zuvor habe Innensenator Andy Grote (SPD) die sportpolitischen Sprecher der Regierungsfraktionen – also auch Blumental – informiert, dass man eine Aufstockung der Zuschauer-Kapazität schon zum Pokalspiel des HSV anstrebe.

„Tragfähige Lösung statt politischem Foulspiel“

Mit dem Verein sei man darüber im Gespräch. Am Freitag hätten sich SPD und Grüne am Rande des Verfassungsausschusses der Bürgerschaft erneut darüber ausgetauscht und abgesprochen, dass der Senat das am Dienstag endgültig beschließen werde. Sogar ein Entwurf der neuen Corona-Verordnung mit der erhöhten Zuschauerzahl sei vorgestellt worden.

Dass die Grünen dennoch am Sonntag an die Öffentlichkeit gingen und die gute Nachricht für die Fans quasi als ihre Idee verkauften, sorgte bei den Sozialdemokraten daher für Fassungslosigkeit. Fraktionschef Dirk Kienscherf machte sich nicht einmal die Mühe, wie in solchen Fällen üblich, beim Regierungspartner anzurufen, sondern ließ umgehend mit gleicher Münze antworten: „Tragfähige Lösung statt politischem Foulspiel“, stand über der Pressemitteilung der SPD-Fraktion von 14.50 Uhr. Darin erklärte ihre sportpolitische Sprecherin Juliane Timmermann, wie groß das Bedürfnis nach Rückkehr der Fans in die Stadien sei und dass an einer Lösung bereits gearbeitet werde.

„Politische Foulspiele helfen dem Sport nicht“

„Vorschnelle Aktionen, die primär die Öffentlichkeit meinen“, könnten diese gefährden. „Wir haben daher die heutige Äußerung unseres Koalitionspartners mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen. Politische Foulspiele helfen dem Sport nicht“, so die unverblümte Ohrfeige für die Grünen.

Kienscherf selbst legte bei Twitter nach: „Es ist schon erstaunlich, was einige als eigene Forderung verkaufen, was in der Koalition fest verabredet ist.“ Das sei „grobes Foulspiel“. Wie tief der Groll saß, zeigte sich noch am Dienstag. Nachdem der Senat sogar beschlossen hatte, schon für das Zweitligaspiel des HSV am Sonntag gegen Werder Bremen 25.000 Zuschauer zuzulassen, äußerten sich die Koalitionäre erneut getrennt. Während die SPD den „guten Tag für den Sport“ feierte und auf den Zwist nicht mehr einging, bilanzierte Blumenthal: „Wir Grüne sehen das alles abschließend als erfolgreichen politischen Doppelpass.“

Grünen verstehen Kritik der SPD nicht

Wirklich? Von einem Doppelpass sprechen Fußballer ja, wenn zwei Spieler absichtlich den Ball hin- und her spielen, idealerweise, um einen Gegenspieler auszutricksen – aber von so einer abgestimmten Trickserei der Koalition konnte keine Rede sein. Zumal der Ablauf im Lager der Grünen anders geschildert wird. Demnach habe Grote die Sportpolitiker nicht aktiv informiert, sondern es sei Blumenthal gewesen, die nachgehakt habe, ob schon zum HSV-Spiel mehr Fans möglich seien.

Die Rückmeldung sei eher verhalten gewesen, nach dem Motto: Ja, dafür müsse man eine Lösung finden, dürfe aber auch nicht allzu forsch den MPK-Beschluss übergehen. Blumenthals Pressemitteilung sei dann in der Annahme versendet worden, dass man sich zwar im Prinzip einig sei, aber eine öffentliche Positionierung die Sache vorantreiben könnte. Die Aufregung der SPD finde man „inszeniert“.

HSV-Thema eigentlich eine Lappalie

In beiden Lagern unbestritten ist hingegen, dass die Nickeligkeiten in der seit 2015 bestehenden Koalition seit der Wahl 2020 erheblich zunehmen. Ein Grund ist, dass sich damals in der Grünen-Fraktion mit Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen ein neues Führungsduo durchsetzte, das mit einem fast doppelt so großen und deutlich verjüngten Team im Rücken selbstbewusster gegenüber der SPD agiert – und dort auf den auch nicht konfliktscheuen Fraktionschef Kienscherf trifft. Dass man sich coronabedingt kaum einmal persönlich treffen und kennenlernen konnte, macht die Sache nicht einfacher. So beobachteten Sozialdemokraten zuletzt mit gewisser Gereiztheit, wie Grüne beim Thema Corona das „Team Vorsicht“ verließen und plötzlich forsch Öffnungen forderten, etwa den Wegfall der Sperrstunde.

„Früher haben wir uns im Senat manchmal gezofft, aber die Fraktionen haben gut harmoniert, heute ist es umgekehrt“, stellt ein rotes Senatsmitglied fest. Das sei zwar anstrengend und nervig, aber selten ein substanzielles Pro­blem. Auch das HSV-Thema sei ja eigentlich eine Lappalie – darin ist man sich in der Koalition ausnahmsweise einig.

Die Grünen hadern immer noch mit der Wahlniederlage 2020

Hinzu kommt: Blumenthal ist erst seit Mitte 2021 Landesvorsitzende der Grünen, und sie hatte noch wenig Gelegenheit, öffentlich zu wirken. Ihr gehe es wohl um Profilierung, unken Sozialdemokraten daher und verweisen darauf, dass die Grünen an diesem Sonnabend ja einen Parteitag abhalten. Auch bei den Grünen sind nicht alle glücklich über das Agieren der Parteichefin. Sie kämpfe noch um Bedeutung, meint ein Mitglied. Dass die SPD zunehmend genervt auf die Aufmüpfigkeit der Grünen-Fraktion reagiere, sei kein Wunder – Kienscherfs Tweet finde man dennoch unsouverän.

Das führt zu dem eigentlichen, tief sitzenderen Problem. Viele Grüne haben es bis heute nicht verwunden, dass sie die Bürgerschaftswahl 2020 nicht gewonnen haben. Zur Erinnerung: Wenige Wochen vor der Wahl lagen SPD und Grüne in Umfragen bei 28 Prozent gleichauf, doch am Ende war die SPD mit 39 zu 24 Prozent klar enteilt. Die Aufarbeitung der Frage, woran es gelegen hat und was man künftig besser machen kann, hält parteiintern immer noch an – wobei die Wahl Blumenthals zur neuen Parteichefin bereits eine Antwort war. Denn die 36-Jährige hatte sich unter anderem durchgesetzt, weil sie die deutlichere Kampfansage an die SPD gerichtet hatte: Sie trete an „mit der klaren Idee, dass noch mehr drin ist“, sagte sie damals. Ziel müsse es sein, bei der Bezirkswahl 2024 wieder stärkste Kraft zu werden und 2025 „erneut realistisch um das Bürgermeisterinnen-Amt zu ringen“.

Unterstützung von der Grünen Jugend

Unterstützung erhielt sie unter anderem von der Grünen Jugend, die innerhalb der Partei traditionell eher als laut und links verortet wird – und die etliche ihrer Mitglieder in die Bürgerschaftsfraktion entsenden konnte. Daher stehen sowohl die Fraktionsführung als auch die Landesvorsitzende unter einem gewissen Druck, sich entsprechend zu positionieren. Dass auf dem Parteitag ein Leitantrag des Landesvorstands behandelt wird, in dem es heißt „Soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit wollen wir als einen zentralen Leitgedanken unserer Politik verankern“, wird auch als Zugeständnis an die Basis gewertet.

In der SPD wird das mit Interesse beobachtet. Dass die Grünen in dem Antrag über sich selbst schreiben „Von autoarmen Szenevierteln hat die Familie in Billstedt so gut wie nichts. Auch deshalb gibt es gerade bei vielen Menschen in der äußeren Stadt Vorbehalte gegen uns Grüne“, sorgt bei Sozialdemokraten für Schmunzeln und Genugtuung.

Sport in Hamburg: Einsatz für den HSV bald vergessen

Auch manche Grüne hadern mit diesem Kurs. Sich als 24-Prozent-Partei breiter aufzustellen, sei zwar richtig. Aber man werde in Hamburg nicht gewählt, weil man sich das Etikett sozial anhefte, sondern weil man im Bereich Klimaschutz, Verkehrs- und Energiewende geliefert habe, heißt es. Auch an den Einsatz für die HSV-Fans werde sich in drei Jahren kaum einer erinnern, sagt ein Mitglied und wirft eine sehr grundsätzliche Frage auf: „Warum eigentlich HSV? Wir Grüne sind doch klar beim FC St. Pauli verankert.“