Hamburg. Zwei Jahre nach dem ersten Corona-Fall zieht der Bürgermeister Bilanz und erklärt, warum er auf ein Pandemie-Ende in diesem Jahr hofft.

Am 27. Februar 2020 wurde in Hamburg der erste Corona-Fall bestätigt. Ausgerechnet ein UKE-Arzt hatte sich infiziert – wohl im Skiurlaub in Italien. Nur eine Woche nach der Bürgerschaftswahl begann für Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) damit die nächste Ausnahmesituation. Dass sie mehr als zwei Jahre andauern würde, konnte sich selbst der habilitierte Labormediziner damals nicht vorstellen. Im Abendblatt-Interview verrät er, warum er hofft, dass die Pandemie in diesem Jahr wirklich zu Ende gehen könnte.

Hamburger Abendblatt: Herr Tschentscher, wann haben Sie zuletzt einen Corona-Test gemacht?

Peter Tschentscher: Letzte Woche. Genau genommen zur 17. Bundesversammlung für die Wahl des Bundespräsidenten. Da war nämlich 2G-plus erforderlich.

Es gab keine Ausnahme für Geboosterte?

Tschentscher: Nein. Geboostert sollte man sowieso sein, aber man brauchte noch einen zusätzlichen Test.

Inwiefern gehört es zum Alltag eines Bürgermeisters, dass er sich aufgrund der vielen Termine ständig testen muss?

Tschentscher: Das war so. Wenn ich zum Beispiel ein Grußwort halten oder jemanden besuchen sollte, dann wurde kurz vorher bei mir ein Corona-Schnelltest gemacht.

Vor genau zwei Jahren kam die Corona-Pandemie in Hamburg an. Welche der seitdem meistens geltenden Maßnahmen fällt oder fiel Ihnen persönlich am schwersten?

Tschentscher: Das völlige Fehlen dieses echten Begegnens, das ja zu diesem Amt dazugehört. Das vermisse ich schon. An die Masken habe ich mich mittlerweile gewöhnt. In der Phase der geschlossenen Restaurants fehlte mir auch ein Stück Lebensqualität. Insofern haben mich die Beschränkungen in der Gastronomie genauso betroffen, aber das ist im Vergleich zu den Einschränkungen, die wir in vielen anderen Bereichen hatten, eher ein Problem des guten Lebens. Die schwierigste Entscheidung war es, die Ausgangssperre zu beschließen.

Kommen Sie als Bürgermeister überhaupt dazu, abends mal essen zu gehen?

Tschentscher: Ja. Es ist schon so, dass ich von unseren Beschlüssen auch persönlich betroffen bin. Im Laufe der Zeit habe ich mich an vieles gewöhnt, und ich habe den Eindruck, dass es vielen anderen auch so geht. Aber wir werden jetzt eine Phase haben, in der wir uns von der starken Fixierung auf Corona-Themen wieder lösen sollten. Die Corona-Infektion wird zu einer „normalen“ Infektion, die man im Herbst bekommen kann, gegen die man sich aber auch mit einer Impfung schützen kann.

Hätten Sie vor zwei Jahren gedacht, dass die Pandemie uns so lange beschäftigen wird?

Tschentscher: Nein, auf zwei Jahre hätte ich das nicht eingeschätzt. Ich hatte zu Anfang sogar gehofft, dass wir mit entsprechender Vorsicht und den späteren Impfungen mit nur einer Welle durchkommen. Aber der Herbst 2020 hat gezeigt, dass es sehr starke saisonale Effekte gibt und dass wir, solange es noch keinen Impfschutz gibt, massiv durch diese Viren gefährdet sind. Ich habe immer betont, dass eine Pandemie nicht planbar ist, und dennoch gehofft, dass wir sie Ende letzten Jahres hinter uns lassen können. Doch mit der neuen Omikron-Variante hat es sich jetzt noch mal hinausgezögert.

Ein großer Unterschied zu den ersten Wellen ist, dass Kitas und Schulen in der vierten Welle offen blieben. Viele Eltern und Bildungsforscher waren darüber glücklich, andere warfen der Politik vor, eine Durchseuchung in Kauf zu nehmen. Wie schwer fiel Ihnen diese Abwägung?

Tschentscher: Solche Abwägungen sind eben schwer, wenn es um Kinder geht. Zu Beginn der Pandemie gab es große Unsicherheit über die Gefährdung von Kindern und ihre Beteiligung am Infektionsgeschehen. Deshalb haben wir in Deutschland Kitas und Schulen zu Beginn der Pandemie zunächst geschlossen. Diese Entscheidung war von der Mahnung von Experten geprägt, dass Corona-Viren über Kitas und Schulen massiv verbreitet werden können. Später wurde dann deutlich, dass es jedenfalls bei den ersten Virusvarianten gerade bei jüngeren Kindern gar nicht so war. Die Schwererkrankten, die Intensivpatienten, die Todesopfer waren auch nicht die Jüngeren, sondern die Menschen von 50 Jahren aufwärts. Mit den späteren Virusvarianten ist es dann doch zu größeren Infektionsgeschehen an Schulen und Kitas gekommen. Insofern war das alles auch ein fortschreitender Erkenntnisprozess.

Dazu gab es ja nicht nur medizinische Einschätzungen.

Tschentscher: Ja, wir mussten auch die immer stärker werdende Mahnung von Kinderärzten und Pädagogen beachten, die sekundären Folgen der Corona-Infektion und die Folgen der Corona-Einschränkungen berücksichtigen. Dadurch ist es an den Schulen nicht so leicht, den richtigen Kurs zu finden. Da jetzt auch Impfungen für Kinder zur Verfügung stehen und empfohlen werden, hoffe ich, dass wir die Einschränkungen im Schulbereich nach den Frühjahrsferien schrittweise zurücknehmen können.

Was entgegnen Sie Kritikern, die sagen, der Schutz der Kinder wurde vernachlässigt, um zu verhindern, dass die Schulen erneut geschlossen werden?

Tschentscher: Das ist nicht so. Man sieht es schon an dem Aufwand, den wir betrieben haben – Masken, regelmäßige Tests, Aufteilung in Kohorten, Luftfilter und vieles mehr. Es ist sogar viel Kritik daran geübt worden, dass wir den Kindern überhaupt auferlegen, Masken zu tragen. Wir haben in jeder Phase Kritik von beiden Seiten bekommen. Auf der einen Seite an zu vielen Beschränkungen und Belastungen zum Infektionsschutz, auf der anderen Seite Kritik von dem besorgteren Teil der Eltern, die ihre Kinder immer noch zu stark gefährdet sahen.

Auch aus der Wirtschaft gab es Kritik an zu harten Maßnahmen. Andererseits hatte Hamburg 2021 überraschend hohe Steuereinnahmen, was auf eine florierende Wirtschaft hindeutet. Haben Sie trotzdem Verständnis für Klagen von Gastronomen, Veranstaltern, Künstlern?

Tschentscher: Ja, dafür habe ich Verständnis, weil ich die individuelle Situation gut nachvollziehen kann. Man kann in so einer Pandemie aber nicht alle Belastungen verhindern und es auch nicht allen recht machen. Wir haben in Hamburg die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll ist, Maßnahmen – wenn sie nötig sind – früh und konsequent umzusetzen. Die Bremswirkung auf die Infektionsdynamik ist dann größer, und die Beschränkungen können früher wieder zurückgenommen werden. Dass wir 2021 schon wieder so gute Steuereinnahmen hatten, zeigt, dass weite Teile der Wirtschaft gut durch die Pandemie gekommen sind.

Viele Menschen haben sich von der Politik abgewendet oder sogar radikalisiert. Hatten Sie irgendwann mal die Sorge, dass die Stimmung kippen könnte?

Tschentscher: Diese harte Ablehnung aller Maßnahmen ist ein ernstes Problem. Niemand in der Politik wünscht sich, Leute gegen sich aufzubringen. Deswegen ist es für mich auch nicht einfach zu sehen, wie hart und schroff die Proteste manchmal sind. Es ist aber nur ein kleiner Teil, der so hart und lautstark gegen jede Corona-Maßnahme auftritt. Ein viel größerer Teil der Bevölkerung ist einverstanden mit unserem Kurs, und es gibt sogar solche, die sagen, wir hätten noch konsequenter vorgehen sollen.

Wie kann man die Corona-Leugner wieder in die Mitte der Gesellschaft holen?

Tschentscher: Diejenigen, die ausschließlich wegen der Corona-Maßnahmen unzufrieden sind, werden sich vermutlich im Laufe der Zeit wieder mit Politik und Gesellschaft versöhnen, wenn die Maßnahmen erst aufgehoben werden. Es gibt aber auch extreme Kräfte, die schon vorher gegen unsere politische Grundordnung waren und alles instrumentalisieren, was es an Protestpotenzial gibt.

Kann man es auf den Nenner bringen: Wenn die allgemeine Impfpflicht kommt, wird sie für eine weitere Spaltung der Gesellschaft sorgen – und wenn nicht, wird diese Versöhnung leichter fallen?

Tschentscher: Das denke ich nicht. Wir müssen vor allem sicherstellen, dass wir im Herbst nicht erneut Lockdown-Maßnahmen brauchen. Das Schlimmste wäre, wenn wir jetzt nicht endgültig aus der Pandemie herauskommen. Und alle Experten sagen, dass der sicherste Schutz vor einem solchen Rückfall eine sehr hohe Impfquote ist.

Wie hoch muss die sein?

Tschentscher: Das kann niemand vorher genau berechnen, weil wir nicht wissen, welche Varianten noch um die Ecke kommen, wie infektiös und wie krank machend sie sind. Auf jeden Fall gilt: Je höher die Impfquote ist, desto sicherer sind wir. Die Bundestagsabgeordneten müssen jetzt eine schwere Entscheidung treffen, deren Auswirkungen dann erst im Herbst zu erkennen sind.

Wie viele Menschen hoffen Sie zu erreichen?

Tschentscher: Wir werden nicht alle erreichen, auch weil es keinen Impfzwang geben wird, aber hoffentlich viele. Dazu soll die Impfpflicht breit angelegt sein, und es soll milde, aber spürbare Sanktionen geben.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Impfpflicht ein stumpfes Schwert wird, weil viele Menschen ein Bußgeld in Kauf nehmen?

Tschentscher: Auch ein Bußgeld ist eine spürbare Sanktion. Das zahlt niemand gern. Hinzu kommt noch die Impfpflicht für Menschen, die in Einrichtungen für vulnerable Personen arbeiten und im schlimmsten Fall ihren Arbeitsplatz verlieren können. Für diese Gruppe ist die Impfpflicht eher akzeptabel, wenn sich alle anderen auch impfen lassen müssen und nicht das Gefühl besteht, dass die Pandemiebekämpfung nur auf dem Rücken einzelner Berufsgruppen ausgetragen wird. Einrichtungsbezogene und allgemeine Impfpflicht unterstützen sich gegenseitig im Hinblick auf die Akzeptanz. Deswegen hoffe ich, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht in allen Bundesländern umgesetzt wird – so wie es das Gesetz vorsieht – und dass die allgemeine Impfpflicht hinzutritt.

Sollte der Staat die Impfpflicht aktiv kon­trollieren, etwa über ein Impfregister?

Tschentscher: Benötigt wird eine belastbare Datengrundlage, aber es muss kein Impfregister sein – obwohl viele Experten es unabhängig von Corona ohnehin für erforderlich halten, dass in Deutschland irgendwo sicher hinterlegt ist, wer wogegen geimpft ist. Wir können die Corona-Impfpflicht aber auch auf anderem Wege kontrollieren, zum Beispiel über die Daten der Krankenkassen. So kann man alle anschreiben, für die keine Corona-Impfung hinterlegt ist. Die Bußgeldverfahren würden dann von einer staatlichen Stelle übernommen, natürlich erst nach einer entsprechenden Anhörung und Aufforderung, sich doch noch impfen zu lassen.

Die Krankenkassen sind nicht begeistert.

Tschentscher: Niemand ist davon begeistert, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, aber wir brauchen einen umsetzbaren, pragmatischen Weg.

Viele Kritiker beklagen einen Vertrauensverlust, weil die Politik oft ihre Meinung geändert, Zusagen nicht eingehalten oder schlicht Fehler gemacht hat. Hamburg wurde etwa scharf für Inzidenzen von Ungeimpften kritisiert, die sich als falsch herausstellten.

Tschentscher: Das war eine Datenpanne, die ich gern vermieden hätte, aber keine Entscheidung war auf diese einzelne Zahl gestützt. Bemerkenswert war, wie energisch und aggressiv diese Panne dann genutzt wurde von denen, die schon vorher gegen alle Maßnahmen und gegen die Impfungen waren.

Das war ja auch Wasser auf die Mühlen der Impfgegner.

Tschentscher: Aber es war ein Einzelfall. Wir haben in Hamburg unendlich viele Daten erhoben, täglich aufbereitet und transparent veröffentlicht, und dabei ist es nur zu sehr wenigen Fehlern gekommen. Auch in Hamburg ist nicht alles perfekt gelaufen. Aber wenn man bedenkt, was es in anderen Ländern alles an Zwischenfällen gab – aufgetauter oder verfallener Impfstoff, Impfung mit Kochsalzlösung oder mit falscher Dosierung –, dann war die Sache bei uns gut organisiert und sehr viele Menschen haben einen sehr guten Job gemacht.

Aber es ist nicht jede Prognose eingetroffen. Im Sommer 2021 antworteten Sie auf die Frage, wo wir in der Pandemie stehen: „Ich denke, wir sind zu drei Vierteln durch.“ Würden Sie heute sagen: Da lag ich falsch?

Tschentscher: Ich habe mich nicht danach gedrängt, Prognosen abzugeben, sondern immer betont, dass eine Pandemie nicht planbar ist. Wir hatten damals auch schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass wir in ruhigerem Fahrwasser waren, bis eine neue Virus-Variante und damit die nächste Welle auf uns zukam. Erst Alpha, dann Delta und schließlich Omikron als eine Variante mit hoher Infektiosität, die teilweise den Impfschutz unterläuft. Das war noch einmal eine neue Qualität.

Haben Sie die Virusvarianten unterschätzt?

Tschentscher: Nein, man hat immer befürchtet, dass so eine Immunescape-Variante auftreten könnte. Aber niemand wusste, ob es tatsächlich passiert. Wir sind deshalb so gut durch die Delta- und auch durch die Omikron-Welle gekommen, weil wir den Spätsommer genutzt haben, unsere Impfquote in Hamburg massiv zu erhöhen. Durch 2G und 2G plus hatten wir einen besseren Infektionsschutz und zusätzliche Anreize zur Impfung. Dadurch war unser Gesundheitssystem zu keiner Zeit überlastet. Andere Länder haben es nicht so gemacht. Sie hatten dadurch viel mehr Infektionsfälle, weniger Impfanreize und letztlich eine zu geringe Impfquote. Dort waren die Intensivstationen so belastet, dass schwer kranke Patienten in andere Bundesländer verlegt werden mussten.

Ringen bei Corona-Entscheidungen manchmal der Mediziner und der Politiker in Ihnen miteinander?

Tschentscher: Ja, bei mir kommen beide Sichtweisen zusammen. Es hat mir geholfen, dass ich viele Zusammenhänge ohne Erklärung von Dritten verstehen konnte. Auf der anderen Seite trifft man als Mediziner in der Pandemie nicht automatisch bessere Entscheidungen, die politische Dimension ist ebenso bedeutsam. Ich konnte die Kompromisse zwischen Medizin und Politik mit mir selbst ausmachen. Grundsätzlich bin ich eher den Erkenntnissen der Wissenschaft gefolgt. Aus dieser Logik kommt man nicht raus: Eine Pandemie kann man nicht durch politische Ansagen bremsen, sondern nur durch effektiven Infektionsschutz.

Auch die Wissenschaft lag mal daneben. Der Expertenrat der Bundesregierung hatte vorhergesagt, dass mit Omikron eine Überlastung des Gesundheitswesens und der kritischen Infrastruktur nicht mehr zu verhindern sei. Das ist nicht eingetreten.

Tschentscher: Auch Experten können nicht hellsehen. Wir haben in Hamburg nicht auf Basis von Extrem-Modellierungen entschieden, sondern immer die regionale Situation zugrunde gelegt. Deswegen war ich trotz der hohen Inzidenzen in den letzten Wochen nicht der Meinung, dass wir weitere alarmierende Botschaften brauchen. Die Zahl der schwerkranken Patienten war nur mäßig erhöht und ist mittlerweile schon wieder deutlich gesunken.

In den kommenden Wochen stehen nun Lockerungsschritte an. Worauf freuen Sie sich persönlich am meisten?

Tschentscher: Darauf, nicht ständig überlegen zu müssen, ob gerade 3G, 2G, oder 2G plus gilt und ob ich noch einen Test brauche. Das Leben wird damit wieder einfacher und unbefangener. Die letzten Maßnahmen – wie die Maskenpflicht in Innenräumen – werden vermutlich noch eine Zeit lang notwendig sein, aber dann können wir uns auf einen unbeschwerten Sommer freuen. Letztlich wird sich dann im Herbst erweisen, ob die Impfquote hoch genug ist und wir die Pandemie damit endgültig überwunden haben.