Hamburg. Rolf Bosse ist neuer Chef des Hamburger Mietervereins. Auch besonders harte Fälle landen auf seinem Tisch – und bleiben im Gedächtnis.

„Kommen Sie rein“, ruft Rolf Bosse fröhlich aus seinem Büro im 5. Stock der Hauptgeschäftsstelle des Mietervereins zu Hamburg am Berliner Tor, um dessen Fenster an diesem Morgen der Wind peitscht. Auf dem Monitor läuft noch eine Videokonferenz, der Schreibtisch ist mit Akten und Unterlagen gefüllt. Dass Bosse bereits 15 Minuten vor der vereinbarten Zeit für das Interview bereit steht ist angesichts seines vollen Terminkalenders keine Selbstverständlichkeit.

Im Frühjahr 2021 ist der 46-Jährige in die Geschäftsführung des Mietervereins zu Hamburg eingestiegen. Anfang des Jahres hat er die alleinige Hauptgeschäftsführung übernommen. Zudem bewirbt sich der Rechtsanwalt um den Posten des Vorsitzenden des Mietervereins, eine ehrenamtliche Tätigkeit, über die bei der Mitgliederversammlung am 21. April abgestimmt wird. Dann wird auch sein langjähriger Vorgänger Siegmund Chychla, der ebenfalls beide Ämter innehatte und sich bereits aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hat, in den Ruhestand verabschiedet.

Wohnen in Hamburg: Bosse ist seit 14 Jahren beim Mieterverein beschäftigt

Neu ist Bosse in Hamburgs größtem Mieterverein mit rund 73.000 Mitgliedern jedoch keineswegs. 2008 hat er zunächst freiberuflich angefangen, für den Verein zu arbeiten. Ein paar Monate später folgte die Festanstellung. „Was die Rechtsberatung angeht, habe ich hier alles durchlaufen“, sagt Bosse. Beratend tätig ist er bereits seit dem Jurastudium, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Asta der Uni Hamburg für Studien- und Rechtsberatung zuständig war. Als Referendar folgte eine Station bei der Verbraucherzentrale, bevor er über eine befreundete Anwältin zum Mieterverein kam. „Das hat mich immer schon angetrieben. Ich mag mich sehr gerne um Menschen kümmern.“ Den Schwerpunkt auf das Mietrecht habe er jedoch erst im Verein gelegt. „Ich habe im internationalen Arbeitsprozessrecht promoviert, also ein ganz anderes Thema.“

Bosse ist zugewandt und kommunikativ, spricht passioniert über Aspekte, die ihm am Herzen liegen. Gendern scheint für ihn eine Selbstverständlichkeit zu sein. Trotz seiner knapp zwei Meter Körpergröße liegt etwas jungenhaftes in seiner Art. Vor den emotionalen Herausforderungen, die mit seiner Arbeit verbunden sind, verschließt er sich nicht. „Das rechtliche Bewerten der Situation ist nur die Hälfte“, sagt er. „Die sozialen Komponenten zu betrachten, das ist der andere Teil und der ist in manchen Fällen sogar noch wichtiger, weil ich ja eine Lösung anbieten muss, die das Mietverhältnis nachhaltig befriedet.“

Verein hat mindestens 60.000 Mitgliederanfragen pro Jahr

Mindestens 60.000 Mitgliederanfragen erhalte der Verein pro Jahr. Die Spannbreite der Anliegen reiche dabei von Fragen zur Betriebskostenabrechnung bis hin zu Eigenbedarfskündigungen – den besonders harten Fällen. Viele sind ihm bis heute im Gedächtnis geblieben. „Es gab mehrere Fälle, bei denen Familien mit Kindern oder Alleinerziehende dahinterstanden.“ Phasen, in denen er betroffene Mitglieder begleitet hat, beschreibt er als Zustand „emotionaler Angespanntheit“. Wichtig sei es dann, Perspektiven aufzuzeigen. „Das ist etwas, das mich immer unglaublich fasziniert an der Arbeit. Zu gucken, wo sind die Lösungsmöglichkeiten und wie können wir weiterkommen.“

Daneben braucht es beinahe schon psychologisches Einfühlungsvermögen. „Was wir wirklich viel machen ist, den Rücken zu stärken, dass die Mitglieder die Hoffnung nicht verlieren“, so Bosse. Dann verweist er auf das „Fünf-Phasen-Modell der Akzeptanz“. „Wenn man mit etwas Neuem konfrontiert wird, das einem Angst macht, leugnet man es als erstes. Dann kommt die Wut. Das ist die Phase, in der die Leute herkommen“, sagt er und lacht. Wann sie wieder rausgehen? „Hoffentlich in Phase 5, wenn Akzeptanz hergestellt ist.“

Das Modell geht auf die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross zurück und befasst sich eigentlich mit dem Tod. „Da geht es um etwas Unausweichliches. Und da liegt der Unterschied. Wir haben hier immer die Möglichkeit, Dinge zu beeinflussen. Das ist das, was mich antreibt, weil ich merke, wie ich unmittelbar wirksam sein kann.“

Wie dankbar manch einer im Nachhinein ist, davon zeugt auch eine kleine Keramik-Soldatenbüste auf seinem Schreibtisch. Geschenkt hat sie ihm ein über 80 Jahre alter Mieter, der früher in der Fremdenlegion war. „Das ist tatsächlich eine sehr emotionale Geschichte“, erinnert er sich. „Er kam zu mir und sagte, er hätte zwei davon. Eine, die auf seine Frau aufpasst und eine, die auf ihn aufpasst. Und jetzt, da seine Frau gestorben ist, kann diese Figur auf mich aufpassen. Das hat mich sehr gerührt.“ Kein Einzelfall. Bosse verhehlt nicht, dass viele Fälle ihm auch persönlich nahegehen. „In einem Fall war eine Mieterin so gerührt, da haben wir nur telefoniert und dennoch hätte ich fast mit angefangen zu weinen, weil das so emotional war wie dieses Glück rüberkam.“

„Diesem Vertrauen möchte ich gerecht werden“

Noch sei er selbst beratend tätig, das werde jedoch langsam weniger. „Ich möchte mich darum kümmern, dass meine Kolleginnen und Kollegen hier eine Umgebung vorfinden, die es ihnen ermöglicht, optimal zu beraten.“ So habe er bereits vor Beginn der Pandemie die Digitalisierung vorangetrieben. Was er künftig verändern will? „Ich bin glücklich, einen gut funktionierenden und gut aufgestellten Mieterverein weiterführen zu dürfen.“

Gar kein Reformeifer? „Ich habe keine Pläne, Sachen groß zu verändern, weil es wirklich gut läuft, auch wenn das jetzt vielleicht etwas langweilig klingt“, sagt er und fügt hinzu: „Wenn ich etwas gelernt habe in den letzten 14 Jahren dann, dass man nichts überstürzen sollte. Ich bin eigentlich ein sehr impulsiver und spontaner Mensch und das ist nicht immer gut.“ Zudem sei die Akzeptanz des Vereins in Hamburg von der Politik und der Wohnungswirtschaft auf einem sehr guten Stand und das Vertrauen der Bevölkerung groß. „Diesem Vertrauen möchte ich auch einfach gerecht werden.“

"Es kann doch nicht sein, dass es im Neubau unter 12 Euro pro Quadratmeter nichts gibt.“

Was der Vater von vier Söhnen zu den drängendsten Problemen auf dem Wohnungsmarkt sagt, ist wenig überraschend: Zu hoher Mietenspiegel, zu hohe Neuvertragsmieten bei nicht öffentlicher Förderung, zu hohe Wohnkosten. Der Kern des Problems ist für Bosse ein grundsätzliches. „Die Frage ist doch: Greift der Staat stark ein oder überlässt er es dem Markt?“ Vor über 30 Jahren sei eine völlig falsche Richtungsentscheidung getroffen worden – 1990 wurde die „Wohnungsgemeinnützigkeit“ aufgegeben. „Seitdem haben wir einen weitgehend freien Markt und das Ergebnis sind völlig überhöhte Mieten.“

Um dem entgegenzuwirken, müsste ein Richtungswechsel eingeleitet werden, sagt Bosse. „Wir müssen uns über die großen Rahmenbedingungen Gedanken machen.“ Dazu gehöre eine Regulierung, die Wohnraum auch im Neubau-Sektor für eine Mittelschicht bezahlbar macht. „Ist es denn wirklich so ein Skandal, wieder öffentlich-rechtliche Regelungen für den Wohnungsmarkt einzuführen? Darüber müssen wir mal eine Diskussion führen. Es kann doch nicht sein, dass es im Neubau unter 12 Euro pro Quadratmeter nichts gibt.“

Er lebt mir seiner Familie in Wilhelmsburg

Er selbst habe Glück gehabt und vor drei Jahren mit seiner Frau ein Haus in Wilhelmsburg gekauft – altersgerecht sei es nicht. „Ich betrachte Wohnen nicht als Lösung für immer“, sagt er. „Wohnen hat etwas mit Lebensphasen zu tun. Und in der Phase, in der ich bin, habe ich einen bestimmten Wohnungsbedarf. Deswegen bin ich auch so traurig darüber, dass es so viele Leute gibt, die anderen Wohnraum brauchen als sie im Moment haben.“

Wilhelmsburg schätze er sehr, weil er „zentrumsnah, grün, und schön am Wasser gelegen“, ist. Ein Aspekt, der zurzeit einen besonderen Stellenwert einnimmt. „Meine Frau und ich restaurieren ein altes Stahlsegelboot. Das nimmt extrem viel Zeit in Anspruch.“ Hätte er mehr Zeit, würde er gerne mehr lesen. „Ich habe Glück, mein Vater ist ein sehr belesener Mann und von dem kriege ich immer Buchtipps, mehr als ich schaffe.“ Sein Vater lebe noch immer auf einem ehemaligen Bauernhof in Didderse, einem Dorf bei Braunschweig, wo Bosse aufgewachsen ist. „Das kennt hier keiner, außer Erna, der Wirtin vom Silbersack, die kannte das.“ Ob er die Kiez-Kneipe gerne besucht? „Wenn es geht, ja. Das ist ein schöner Ort, um Karten zu spielen.“