Hamburg. Vor 60 Jahren brachen in Hamburg die Deiche. Zeitzeugen schildern, was sie in den dramatischen Tagen im Februar 1962 erlebt haben.
Viele Leserinnen und Leser des Hamburger Abendblatts haben die große Sturmflut vor 60 Jahren hautnah miterlebt. Wer also könnte besser und eindringlicher über die Tage der Katastrophe berichten als die Betroffenen selbst? Viele Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben, andere erlebten die Sturmflut als Kinder.
Die Abendblatt-Redaktion hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aus Anlass der Jahrestage mit vielen Zeitzeugen gesprochen, andere schickten ihre Erinnerungen an die Redaktion. Das Ereignis prägt sie alle noch immer. Wir haben hier eine Auswahl der eindrucksvollsten, oftmals traumatisierenden Erinnerungen für Sie zusammengestellt.
Sturmflut 1962: Die Straße war ein reißender Strom
Irgendein Geräusch hat mich kurz nach 3 Uhr geweckt. Nicht der Sturm, der den ganzen Tag lang schon unser Eckhaus umtost. Da ist es wieder! Dann unterscheide ich lärmendes Kreischen von Menschen. Ich springe aus dem Bett, gehe zum Balkonfenster. Noch halb verschlafen, sehe ich, wie an der Ecke Georg-Wilhelm-Straße und Vogelhüttendeich Wasser über das Pflaster strömt. Sehe Menschen, die auf die Stufen eines Gasthauses springen. Dann leere Benzinfässer. Rollen oder schwimmen sie über die Straße? Blaulicht der Feuerwehr flackert auf.
3.30 Uhr: Ich wecke meinen Sohn und drehe den Lichtschalter. Kein Strom. Schließlich lärme ich die übrige Familie wach. Dann laufe ich im dunklen Haus die Treppen hinunter. Wecke Nachbarn. Will vor die Tür, um zu sehen, was los ist. Aber ich komme nicht hinaus, im Erdgeschoss flutet mir schon die braune, eklige Brühe entgegen.
3.40 Uhr: Das ganze Haus ist wach. Aus allen Wohnungen kommen erschreckte Menschen. Und jetzt fällt das Satz: „Die Deiche sind gebrochen!“ Die Erdgeschossbewohner bitten mich, vom Fenster aus die Feuerwehr zu rufen. In ihre Wohnung dringt Wasser ein. Ich laufe wieder nach oben, gehe auf den Balkon hinaus: Die ganze Georg-Wilhelm-Straße und der Vogelhüttendeich sind in einen wilden Strom verwandelt Kein Mensch ist mehr zu sehen.
Es ist kurz vor 4 Uhr. Leere Benzinfässer sausen mit rasender Geschwindigkeit um die Ecke. Autos treiben hilflos dazwischen. Alles redet durcheinander. Irgendjemand sucht – es ist jetzt 4.10 Uhr – nach dem Abendblatt, um die Tidezeiten festzustellen.
Plötzlich hören wir von draußen gellende Hilferufe: Menschen in Todesnot! Drei Männer, die jüngeren unter den Hausbewohnern, Wilhelm (45), Klaus-Dieter (23) und mein Sohn (22), nehmen eine Wäscheleine. Durch die brusthohe Flut bis zur Brücke über den Ernst-August-Kanal kämpfen sie sich gegen die Strömung durch. Am Geländer klammern sich zwei Gestalten fest. Die drei Männer packen sie und schleppen sie zurück, hinein in das Haus.
Die Frauen nehmen sich der Geborgenen an: ein altes Ehepaar, das sich zunächst auf das Dach seines Behelfsheimes gerettet hatte. Noch immer vor Entsetzen schaudernd, berichten sie in abgerissenen Sätzen, sie wissen nicht, wie sie aus ihrer überfluteten Schrebergartenkolonie auf die Brücke gekommen sind. Sie glauben, mit dem losgerissenen Dach ihres Hauses angetrieben zu sein. Die Frau hat schwere Verletzungen.
Die drei Retter berichten, sie hätten Hilferufe gehört. „Da hocken jenseits des Kanals Kinder in den Bäumen.“
5 Uhr: Die drei Männer haben sich umgezogen. Sie stehen an den Flurfenstern und warten auf die Dämmerung.
Um 6.10 Uhr ist es hell genug geworden: Die Männer machen sich noch einmal auf den Weg. Diesmal ist er viel weiter. Gegenüber vom längst in einen See verwandelten Sportplatz entdecken sie in den dünnen Ästen eines Apfelbaumes die beiden Kinder. Es gelingt ihnen, sie herunterzuholen. Mühsam schleppen sie den 16-jährigen Jungen und das 14-jährige Mädchen durch das Wasser zurück. Gerhard Rosenzweig (1962 im Abendblatt)
Wir waren dankbar, dass wir überlebten
„Wenn ich an die Sturmflut 1962 denke, ist es, als sei es gestern gewesen“, sagt Betty Behr aus Kohlenhusen in der Gemeinde Jork. Genau vor ihrem Haus rissen die Wassermassen ein riesiges Loch in den Deich und setzten den Obsthof der Familie Behr komplett unter Wasser. „Der Deich brach so unerwartet schnell, dass wir glaubten, das sei unser Ende“, beschreibt die 92-Jährige im Jahr 2012 den Moment der Katastrophe. Sie starb ein Jahr später.
Acht Tage lang war 1962 absoluter Notstand, das Haus ragte wie eine Insel aus dem Wasser heraus, die Menschen versuchten zu retten, was möglich war, sie froren entsetzlich und sahen das Ausmaß der Verwüstung erst, als der Pegel wieder fiel. „Mein Mann kam um Mitternacht vom Kontrollgang zurück und sagte, Betty, der Deich läuft über“, erinnert sich die Seniorin. Es war eine helle Vollmondnacht. „Ich beobachtete durch das Fenster, wie der tosende Orkan die Bäume auf dem Deich fast waagerecht bog. Dann brachen einzelne Bäume samt Wurzeln. Wir sahen, wie der Damm zerbarst und die Elbfluten ein riesiges Loch in den Wall rissen“, berichtet Betty Behr. Dunkel brodelnde Wassermassen wälzten sich in den Vorgarten und breiteten sich rasant über das Gehöft aus.
Die Wucht des Wassers hob die Stahlschienen der Zufahrtsbrücke zum Hof aus der Verankerung, riss die schweren Terrazzoplatten vom Zugangsbereich aus den Fundamenten, flutete Hof, Speicher und Diele. Im Keller splitterten Fensterscheiben, das Wasser rauschte durch alle Gewölbe, riss Vorräte mit, ebenso Feuerholz, Viehfutter, Arbeitsgeräte und Maschinen. „Wir fragten uns, ob wir da je heil rauskämen“, sagt Betty Behr. Nichts war mehr wie vorher. „Wir konnten alle nicht schwimmen“, erzählt die alte Dame, die damals als 41-Jährige auch große Angst um ihren 13 Jahre alten Sohn hatte. Dazu kam die Angst vor einer weiteren Flutwelle, vor der bereits gewarnt wurde. „Wir haben angstvoll die klaffende Bruchstelle im Deich im Blick behalten“, so Betty Behr.
Am Morgen wurden sie alle mit Booten auf die Geest gebracht. Mitnehmen durften sie nichts, nur das, was sie am Leib hatten. „Soldaten trugen uns teilweise auf dem Rücken bis ins Trockene. Wir bekamen in Hedendorf unser Notquartier.“ Aber zur Ruhe kamen der damals 48-jährige Heinrich Behr und seine Frau nicht. Am nächsten Tag machten sich ihr Mann und der Hedendorfer Bauer Höft mit einem Kahn auf den Weg zum Apfelhof, um das Vieh zu versorgen, das vor Hunger brüllte.
Als das Wasser zurückging, wurde das Ausmaß der Verwüstung sichtbar. „Ich habe geweint, weil wir gar nicht wussten, wo wir anfangen sollten mit dem Aufräumen“, sagt Betty Behr. Als das Wasser fort war, wurden auch die Helfer und Soldaten abgezogen, und die Altländer mussten sich allein helfen. Wochenlang wurde mit Schubkarren alles abtransportiert. Die Vorderseite des Hauses war so tief unterspült, dass die Männer aufrecht unter dem Fundament stehen konnten. Zum Glück hatte Betty Behrs Schwiegervater 1926 das Haus sehr solide umgebaut.
Die Frau, die schon die schwere Nachkriegszeit gemeistert hatte, krempelte wie alle Familienmitglieder die Ärmel hoch, und sie arbeiteten sich Schritt für Schritt zurück in die Normalität. „Die Flut war ein so einschneidendes Erlebnis, das mein ganzes späteres Leben, Denken und Fühlen verändert hat.“ Aufgezeichnet 2012 von Kerstin Lorenz
Ich fuhr die Autobahnböschung runter
Vom 16. auf den 17. Februar hatte ich als 20-Jähriger Nachtschicht auf der Howaldtswerke-Werft. Selbst in der Maschinenhalle hörte man die Orkanböen. Viele Kollegen, die in Wilhelmsburg und auf Waltershof in Kleingärten wohnten, wurden immer unruhiger, machten sich Sorgen um ihre Familien. Wir sahen, wie ein Frachtschiff auf die Kaimauer gedrückt wurde und ein Elektrokran umzukippen drohte. Es waren keine Wellen, sondern regelrechte Brecher.
Als Kabelschächte voll Wasser liefen, mussten wir unsere Tätigkeiten aufgeben. Die Heimfahrt wurde zur Odyssee, Orkanböen haben meinen Kleinwagen Lloyd 400 einfach vor sich her geschoben. Die Zollausgänge Veddel waren unpassierbar, die Unterführungen unter Wasser. Meine Irrfahrt ging in die Innenstadt, dann über die Elbbrücken. Dort wurden alle Fahrzeuge auf die Autobahn geleitet. Ich bin dann die Autobahnböschung runtergefahren.
Als ich endlich auf der Veddel am Hovestieg stand, wurde es schon hell. In dem teilweise knietiefen Wasser übersah man jede Unebenheit. Ich bin mehr als einmal gestolpert. Gullydeckel waren unterspült in die Schächte gefallen, eine böse Falle, in die ich auch prompt stolperte. Als ich zerschrammt und total nass bei uns klingelte, sah mich meine Mutter fassungslos an. Meine Eltern waren gerade aufgestanden und hatten wie viele andere die Katastrophe überhaupt noch nicht mitbekommen. Uwe von der Ohe, Wilstorf (2012)
Sturmflut 1962: Ich habe die ganze Zeit geweint
Ich lebte mit sieben Jahren als zweitjüngstes von insgesamt neun Kindern im Kleingartenverein „Wettern“ in einem selbst gebauten Behelfshäuschen. Meine älteste Schwester, die schon verheiratet war und ein paar Häuser weiter wohnte, war mit ihrem Mann und der kleinen Tochter auch bei uns, weil sie sich allein nicht sicher fühlten bei dem Sturm. Wir Kinder wurden schon früh zu Bett geschickt, die Männer gingen aus Sorge zum Deich, als ihnen das Wasser bereits entgegenkam. Sie weckten alle Nachbarn, die sich dadurch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.
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Mein kleiner Bruder wurde in einen Handkarren gesetzt, zugedeckt, meine Schwester nahm mich an die Hand, und dann liefen wir alle los in Richtung Wilhelmsburg. Wir flüchteten uns zu Bekannten, doch das Wasser drang auch in deren Erdgeschosswohnung ein. Wir harrten im Treppenhaus aus, bis uns eine Familie von oben in die Wohnung bat. Ich hatte die ganze Zeit geweint. Wir wurden später in einer Schule untergebracht, wo mehrere Familien zusammen in einem Klassenzimmer lebten. Weil wir aber so viele Kinder waren, wurden wir für drei Monate auf mehrere Familien aufgeteilt. Meine Eltern hatten durch die Flut zum zweiten Mal alles verloren. Sie konnten nur noch wenig aus dem Wasser fischen.“ Angela Reincke (2012)
Der fünfteilige Doku-Podcast über „Die Flut“ erscheint am Mittwoch, 16. Februar: Kostenlos anhören auf abendblatt.de/podcast/flut, in den Abendblatt-Apps „Podcast“ und „E-Paper“ und auf den gängigen Podcast-Plattformen.