Hamburg. Vor 60 Jahren brachen in Hamburg die Deiche. Im ersten Teil der Serie wird die Katastrophe nacherzählt, die die Stadt unvorbereitet traf.
Schon der Anfang ist dramatisch, aber niemand rechnet damit, dass sich daraus ein Desaster entwickeln würde – nämlich die größte Sturmflutkatastrophe in Hamburg seit 1825.
Bereits am 12. Februar drückt ein Nordseesturm der Stärke 10 bis 11 das Wasser in die Elbmündung hinein. Das Abendhochwasser erreicht mit 2,48 Metern über dem mittleren Wasserstand die höchste Sturmfluthöhe seit 1954.
Am 13. Februar kommt es nach kurzer Wetterberuhigung zunächst zu einer mittleren Sturmflut, die zu Überschwemmungen und ersten Deichbrüchen im Ostseegebiet und Land Hadeln führt. Am 15. Februar nähert sich dann das Sturmtief „Vincinette“ aus nordwestlicher Richtung von Island und fegt über die Nordseeküste hinweg.
Sturmflut 1962: Ausnahmezustand bei den Feuerwachen
16. Februar, tagsüber: Vormittags drücken orkanartige Böen bis Stärke 13 das Wasser in die Elbmündung, und ab mittags gilt für Hamburger Feuerwachen der Ausnahmezustand. Der Höhepunkt des Sturms tritt um 22 Uhr ein. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits neben den Feuerwehren und den Deichverbänden auch das THW und eine Pioniereinheit der Bundeswehr aus Fischbek bei der Sicherung von Deichen im Einsatz.
16. Februar, nachts: Während die Feuerwehr bereits wieder einrückt, weil die Sturmflut scheinbar vorbei ist, wird für die Nordseeküste erneut Alarm geben. Durch einen Windstau werden immer größere Wassermassen in die Elbe gedrückt. Um 21Uhr wird die höchste Alarmstufe für die Deichverteidigung ausgelöst. Sturmwellen laufen auf, Fernsehen und Radio warnen wiederholt vor einer sehr schweren Sturmflut. Aber: Die gesendeten Warnungen beziehen sich zunächst immer wieder allgemein auf die deutsche Nordseeküste. Die Gefahren für das stadtnahe Elbgebiet und für Hamburg selbst werden nicht deutlich gemacht, weil sie zu diesem Zeitpunkt von den Behörden noch unterschätzt werden. Die fatale Folge: Die Hamburgerinnen und Hamburger fühlen sich sicher, viele gehen schlafen. Erst um 22.45 Uhr wird Alarmstufe III gegeben, hoch dramatische Stunden beginnen.
Kurz vor Mitternacht wird die Bevölkerung in elbnahen Gebieten mit Blaulicht, Sirenen, Kirchenglocken und teilweise auch dem Einschlagen von Fensterscheiben geweckt und gewarnt. Im Hafengebiet und auf Finkenwerder werden Böllerschüsse abgefeuert – das sogenannte „Hochwasserschießen“. Doch der Sturm verweht den Lärm, und viele Menschen nehmen die Warnungen nicht ernst genug. Es gibt zu diesem Zeitpunkt weder eine koordinierte Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren noch eine systematische Evakuierung der gefährdeten Zonen.
Sturmflut 1962: Mehr als 200 Menschen sterben
17. Februar, nachts/morgens Von circa Mitternacht an beginnen die Deiche überzulaufen, im Laufe der Nacht wird es rund 60 Deichbrüche geben. Beim ersten auf Hamburger Gebiet in Neuenfelde / Rosengarten sterben acht Menschen. Der Süderelberaum mit Cranz, Neuenfelde, Francop, Finkenwerder, Waltershof und Altenwerder bis nach Moorburg wird überflutet. Auch nördlich der Elbe, wie in Billwerder-Moorfleet, stehen Gebiete unter Wasser. Die Kraftwerke Wedel, Schulau, Harburg und Neuhof werden überflutet.
Kurz nach Mitternacht fallen im Flutgebiet die Telefone aus, ab 1 Uhr gibt es keinen Strom mehr. Die Bevölkerung wird vom Wasser zumeist im Schlaf überrascht. Nun begreifen alle, dass es um Leben und Tod geht. Gegen 2 Uhr ereignet sich am Spreehafen im Norden der Elbinsel Wilhelmsburgs der folgenschwerste Deichbruch. Dort kommen im Verlauf der Nacht mehr als 200 Menschen zu Tode, darunter zahlreiche Kinder und ältere Menschen. Die meisten können sich nicht aus den niedrig gelegenen Behelfsheimsiedlungen retten, die dort nach dem Krieg errichtet worden waren. Sie ertrinken oder erfrieren.
Im Verlauf der Nacht sind 1500 Soldaten und Polizisten zusammen mit den Einsatztrupps ziviler Hilfsdienste und etwa 2000 Feuerwehrangehörigen im Einsatz. Um 3.07 Uhr beträgt der höchste Wasserstand am Pegel St. Pauli 5,70 Meter über Normalnull. Gegen 3.30 Uhr hat das Wasser die Innenstadt erreicht und dringt in einige U-Bahn-Schächte und den Alten Elbtunnel ein. Der damalige Polizeisenator Helmut Schmidt trifft morgens um 6.40 Uhr im Polizeipräsidium am Karl-Muck-Platz ein, kurz nachdem er zu Hause telefonisch benachrichtigt worden war. Er übernimmt die zentrale Koordination von Akteuren und Ressourcen, um zügige und effektive Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Der Senat tritt um 11 Uhr zu einer Sondersitzung zusammen. Die dramatische Lage am Vormittag: 100.000 Menschen sind vom Wasser eingeschlossen, 220 Millionen Kubikmeter Wasser, das 60-Fache der Binnen- und Außenalster, haben ein Sechstel Hamburgs überflutet.
Die Stromversorgung der Stadt ist teilweise zusammengebrochen. Die betroffenen Gebiete bleiben über mehrere Tage ohne Wasser-, Gas- und Stromversorgung sowie ohne Telefonverbindung. Autobahnen, und Eisenbahngleise in Richtung Süden liegen mehrere Meter unter Wasser, in manchen Gebieten sinkt der Wasserstand erst nach Wochen. Hubschrauberstaffeln beginnen mit der Rettung von mehr als 450 Menschen, die sich auf ihre Hausdächer geflüchtet hatten. Oft sind dabei lebensgefährliche Manöver nötig. Gleichzeitig erfolgen Rettungen und Evakuierungen mithilfe von Schlauch- und Sturmbooten. Knapp 2000 Menschen werden aus unmittelbarer Lebensgefahr gerettet und insgesamt 12.000 Hamburger auf etwa 50 Auffanglager in Turnhallen und Schulen verteilt.
Sturmflut in Hamburg: Luftbrücke und Tausende freiwillige Helfer
18. Februar Kurz nach Mitternacht bilden Transportflugzeuge der amerikanischen, britischen und deutschen Luftwaffe eine Luftbrücke. Etwa 26.000 Helfer kommen zum Einsatz, darunter 8000 Bundeswehrsoldaten, 6000 Soldaten von Nato-Streitkräften wie der US Air Force und der Royal Air Force sowie Polizisten und Feuerwehrmänner. Unterstützt werden sie von Tausenden freiwilligen Helfern der zivilen Hilfsorganisationen. Auch zahlreiche Hamburger Bürgerinnen und Bürger engagieren sich beim Reparieren der Deiche und bei der Evakuierung. Viele wollen helfen, andere nur gucken. Die Polizei veröffentlicht schließlich einen Aufruf: „Jede Verstopfung der wenigen Zufahrtsstraßen kann sich katastrophal auswirken. Deshalb: Fahrt nicht in die Überschwemmungsgebiete.“ In einer großen Solidaritätswelle werden Kleider und Essen gespendet und obdachlos gewordene Menschen aufgenommen.
19. Februar Bislang konnten 119 Tote geborgen werden. Insgesamt sterben bei dieser Flutkatastrophe, das zeigt sich später, 315 Menschen, darunter auch fünf Helfer. Tausende von Nutz- und Haustieren ertrinken, rund 6000 Behelfsheime werden zerstört oder schwer beschädigt, mehr als 10.000 Wohnungen sind monatelang unbewohnbar und die Menschen obdachlos. Die finanziellen Folgekosten der Sturmflut von 1962 belaufen sich auf rund drei Milliarden D-Mark. Gegen 19 Uhr ergibt die 4. Lagebesprechung im Einsatzzentrum, dass die akute Gefährdung vorüber ist. Aber: Die vom Wasser eingeschlossene Bevölkerung in Wilhelmsburg und Altenwerder muss weiterhin per Hubschrauber versorgt werden. In den anderen Gebieten erfolgt die Hilfe vor allem per Boot.
- Die Elbinsel gedenkt der großen Flut
- Zeitzeuge: "Die Ferkel wurden auf den Heuboden gerettet"
- Als 315 Hamburger in den Fluten starben
Die Besatzungen verteilen Trinkwasser, Essen und Säuglingsnahrung, Kleidung und Kohlen, Kochgeräte und Medikamente. Insgesamt werden per Hubschrauber ca. 2300 Einsätze geflogen, in Hamburg spricht man von den „fliegenden Engeln“.
Sturmflut 1962: Sammelbestattung auf dem Ohlsdorfer Friedhof
Am 26. Februar versammeln sich auf und am Hamburger Rathausmarkt bis zu 150.000 Menschen, um in einer Trauerfeier der Toten zu gedenken. Neben anderen Vertretern der Bundesregierung ist auch Bundespräsident Heinrich Lübke anwesend.
Am 1. März erfolgt auf dem Ohlsdorfer Friedhof eine Sammelbestattung: In dieser Ehrengrabstätte werden 77 Flutopfer beigesetzt. Seit 1972 ist dieses Gelände als Flutmahnmal gestaltet. Als das Ausmaß der Katastrophe deutlich wird, setzt eine kaum für möglich gehaltene Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität ein, die in Sach- und Geldspenden aus dem In- und Ausland (rund 40 Millionen D-Mark) oder privat organisierter Nachbarschaftshilfe ihren Ausdruck findet. Die 100.000 Bewohner der überfluteten Gebiete erhalten zügig staatliche finanzielle Unterstützung. Insgesamt werden für rund 31.500 Fälle etwa 50 Millionen D-Mark aufgewendet. Tausende von Kindern, Müttern und älteren Leuten werden – ebenfalls mithilfe von Spenden – zur Erholung verschickt.