Vor 60 Jahren brachen in Hamburg die Deiche. Schmidts Biograf Prof. Reiner Lehberger über die Rolle des damaligen Polizeisenators.
War Helmut Schmidt während der verheerenden Katastrophe vor sechs Jahrzehnten tatsächlich der durchsetzungsstarke, anpackende Macher, als der er in die deutsche Nachkriegsgeschichte einging? Wie gelang es Hamburgs damaligem Polizeisenator, als Personifizierung des Krisenmanagers Rückenwind für seine politische Karriere zu gewinnen? Arbeitete er gezielt am Ruf als Organisationstalent mit Kommandoqualitäten? Oder strickten andere diese Legende?
Fragen an Reiner Lehberger (73), einen der namhaftesten Schmidt-Kenner der Hansestadt. Der Erziehungswissenschaftler ist seit 1985 Professor an der Universität Hamburg. Der gebürtige
Bochumer lernte Hannelore „Loki“ Schmidt 1996 bei einer Ausstellung über die Lichtwarkschule kennen. Diese freigeistige Institution in Winterhude hatten sowohl Hannelore als auch Helmut Schmidt besucht.
Schmidt-Biograf Lehberger war häufiger Gast im Doppelhaus am Neuber-gerweg in Langenhorn. Er schrieb meh-rere Bücher über die Schmidts. 2018 erschien die Biografie „Ein Jahrhundertpaar“. Im vergangenen Herbst veröffentlichte der Verlag Hoffmann und Campe sein Werk „Helmut Schmidt am Klavier. Ein Leben mit Musik.“
Herr Professor Lehberger, war Helmut Schmidt wirklich der große Macher während der Flutkata-strophe vor 60 Jahren?
Reiner Lehberger: Ohne Zweifel war er Lenker und Manager in der Krise. Die Etikettierung als Macher jedoch entstand erst im Nachhinein. Als Gesicht und Stimme des Krisenmanagements hat sich Helmut Schmidt in das Bewusstsein der Bevölkerung eingeprägt. Das sagte sinngemäß auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Trauerfeier 2015 im Michel.
Bitte helfen Sie unserem Gedächtnis auf die Sprünge.
Angela Merkel meinte, dass man ihm damals vertraut habe, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Seit diesen Tagen sei Helmut Schmidt tief in ihrem Gedächtnis eingegraben. Sie wusste, wovon sie sprach: Schließlich stammte ein Teil ihrer Familie aus Hamburg. Der Mehrheit unserer Bevölkerung ging es ebenso: Man hat ihm sein Handeln von 1962 nicht vergessen.
Was ist Legende, was Wirklichkeit?
Zunächst einmal muss man wissen, dass Hamburg in dieser Katastrophe bis zum Morgen des 17. Februar 1962 politisch ohne Führung war. Bürgermeister Paul Nevermann weilte zur Kur in Österreich. Senatoren waren nicht greifbar. Oder sie fühlten sich nicht verantwortlich.
Und Helmut Schmidt?
In seiner Funktion als Polizeisenator nahm er an einer Innenministerkonferenz in West-Berlin teil und kehrte erst am 16. Februar 1962 spätabends nach Hause in Langenhorn zurück. Dort traf er auf Freunde aus den letzten Kriegsjahren, als er in Bernau bei Berlin stationiert war. Diesen war just am 16. Februar die Flucht aus der DDR gelungen. Die Schmidts waren ihre erste Anlaufstati-on. Verständlicherweise blieben Radio und Fernsehen an diesem Abend ausge-schaltet. Seine Beamten informierten ihn nicht. So kam es, dass Schmidt erst am 17. Februar um 6.20 Uhr per Telefon geweckt und über das Ausmaß der Flut informiert wurde. Warum das nicht schon nach Mitternacht geschah, als bereits zahlreiche Deiche gebrochen waren, bleibt ein Rätsel.
Welche entscheidenden Schritte unternahm Helmut Schmidt?
Zunächst einmal galt es die Lage zu klären. Kein leichtes Unterfangen, denn fast alle Telefonleitungen waren zusammengebrochen. Dann bat er per Blitzfernschreiben um Unterstützung bei ihm persönlich bekannten Kommandeuren von Bundeswehr und Nato. Er koordinierte und ordnete Einsätze und Maßnahmen, setzte einen Sonderkommissar für den am schwersten betroffenen Stadtteil Wilhelmsburg ein. All dies unternahm er im Gefolge einer Art Selbstermächtigung.
Was trug danach zur Legendenbildung bei?
Schmidt war nicht nur Krisenlenker, sondern auch Kommunikator in der Flutkatastrophe. Eine gewisse Fokussierung auf seine Rolle war die Folge. So entstand im Nachhinein der Eindruck, dass der Einsatz von Bundeswehr und Nato-Soldaten allein sein Verdienst war. Dabei hatte schon der Krisenstab im Polizeipräsidium in der Nacht auf den 17. Februar Hubschrauber angefordert. In Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein waren bereits am Tag davor Bundeswehrkräfte im Einsatz. Fest steht aber auch, dass in diesen Bundesländern die möglichen Gefahren der Flut schon am 16. Februar ernst genommen und richtiger eingeschätzt worden waren als in Hamburg. Es gibt keine Veranlassung, Helmut Schmidts Rolle im Krisenmanagement der Flutkatastrophe zu überhöhen. Ich sehe allerdings auch keinen Grund, seine Verdienste kleinzureden.
Konnte er Weichen für seine Karriere stellen?
Ich vermute nicht, dass er in diesen Stunden daran dachte. Zumal das Risiko des Scheiterns durchaus bestand. Was seinem weiteren Weg überhaupt nicht förderlich gewesen wäre. Krisen können Karrieren antreiben – aber auch beschädigen oder gar beenden.
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Reichte das, um in Sachen Sturmflut Legendenstatus zu erlangen?
Anfangs nicht. Im Gegenteil: Schmidt zeigte Demut. Und er hörte vielleicht auch auf den Rat seines Parteifreundes Herbert Wehner. Dieser meinte, Helmut Schmidt sei in der Krise großartig gewesen, solle fortan jedoch großzügig sein – also Bescheidenheit üben. Während der ersten Sitzung der Bürgerschaft nach der Sturmflut bat Schmidt offiziell darum, seine Rolle hintenanzustellen. Vor allem rückte er den Einsatz der 40.000 Helfer in den Mittelpunkt.
Ein rhetorischer und taktischer Trick?
Wahrscheinlich eine Mischung aus Bauchgefühl und Abwägung. Unter dem Strich brauchte Schmidt gar nicht selbst an seiner Legende zu stricken. Das übernahmen andere, zum Beispiel die Presse. So schrieb die „FAZ“ am 19. Februar 1962 in einer Überschrift: „Alles hört auf Schmidts Kommando“. Drei Wochen später bezeichnete der „Spiegel“ Hamburgs Polizeisenator als „Herr der Fluten“. Die Legende des Krisenmanagers wurde von anderen geschaffen. Schmidt hatte nichts dagegen. Warum auch.
Und er genoss die Reputation als Macher in der Not?
Immer wieder aufs Neue zur Flut von 1962 befragt, neigte er im Alter zu einer gewissen Dramatisierung seiner eigenen Rolle. Vor allem als er erklärte, er habe mit dem Einsatz der Bundeswehr- und Nato-Kräfte das Grundgesetz gebrochen. Zwar sah das Grundgesetz damals das Eingreifen der Bundeswehr im Inneren nicht vor, der Einsatz im Rahmen von Amtshilfe war aber durchaus gesetzlich und auch üblich. Mit solchen Aussagen stärkte und hob Schmidt rückblickend seine eigene Rolle. Wenn einige Kritiker darin Selbsterhöhung und Legendenbildung in eigener Sache sehen, halte ich das ebenfalls für eine Dramatisierung.
Was waren denn tatsächlich seine Befähigungen während der Flutkatastrophe vor 60 Jahren?
Loki Schmidt hat mir gegenüber in ihrer ihr eigenen, unaufgeregten Art gesagt: „Mein Mann ist in Krisen schon sehr belastbar gewesen.“ Das ist gewiss zutreffend. Nach allgemeiner Beurteilung verband der Polizeisenator diese hohe Belastbarkeit mit Handlungskompetenz, Führungsfähigkeit und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Hinzu kamen seine exzellenten Kontakte zu Entscheidern im Verkehrswesen, bei der Bundeswehr und der Nato. Es passt ins Bild, dass sein Führungsstil militärisch geprägt war.
Was wahrscheinlich nicht jedem behagte?
Aber es half in der Krise. Authentisch überliefert sind aus den Lagebesprechungen für ihn so typische Sätze an seine Beamten wie: „Bitte, beantworten Sie nur meine Fragen.“ Oder: „Ich erbitte Vollzugsmeldung.“ Er liebte es zackig, wollte Erfolgsberichte sehen. Und das möglichst zügig.
Ihren Einschätzungen zufolge: Trägt Helmut Schmidt seinen Flut-Lorbeer zu Recht?
Ja. Weil er der richtige Mann zur richtigen Zeit am passenden Ort war. In Lagen wie diesen zeigen sich Charakter wie Können. Im Kampf gegen die RAF 15 Jahre später bewies er sich erneut. Außerdem: Es ist durchaus eine Leistung, wenn man zur Legende wird. Das gelingt nicht jedem. PR-Abteilungen im heutigen Sinne gab es seinerzeit noch nicht. Allerdings hatte Helmut Schmidt ein ausgeprägtes Gespür, Medien für sich zu nutzen.
Glauben Sie, dass er ohne die Sturmflut politisch so weit gekommen wäre?
Das ist eine hypothetische Frage. Man sollte aber bedenken, dass Helmut Schmidt 1962 politisch kein Nobody mehr war. Bereits seit 1958 gehörte er dem Bundesvorstand der SPD an, spielte in der Bundestagsfraktion eine gewichtige Rolle. Speziell in der Verteidigungs- und Verkehrspolitik verfügte er über Renommee. Er war ein Mann mit Zukunft in der SPD. Ich bin mir sicher, dass er sich in seiner Partei durchgesetzt hätte. Allerdings hatte er 1962 auf einen Schlag bundesweit einen großen Namen.
Folglich erhielt seine Bonner Karriere dadurch Auftrieb?
In der Tat. 1964 wurde er in das Schattenkabinett von Brandt berufen, im Bundestagswahlkampf 1965 spielte der Hamburger Helmut Schmidt eine herausragende Rolle. Nach der Wahl wird er bald stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Anfang 1967 dann Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Eine machtvolle Position. Und dass Schmidt 1969 in der ersten Brandt-Regierung Verteidigungsmister wird, war fast zwangsläufig.